Ein Leben in Balance
Wer zeitgleich Angehörige betreut und Geld verdient, muss in der Regel einen Spagat zwischen familiären und beruflichen Pflichten hinlegen. Im Endeffekt kommt der Betreffende selber dabei oft zu kurz, reibt sich auf, spürt die zunehmende Überlastung und – kündigt schließlich. Bitter für ihn, teuer für den Arbeitgeber. Ein falscher Weg, meinen zunehmend mehr Politiker, Ökonomen und Unternehmer.
Gleichgewicht statt Gratwanderung
Ein neuer Trend setzt sich durch: Der „familienfreundliche Betrieb“ soll ein Leben in Balance ermöglichen, damit Arbeitnehmer in beiden Bereichen mit reinem Gewissen erfolgreich tätig sind. Gleichgewicht statt Gratwanderung – das ist eine Entwicklung, die angesichts der zunehmenden Feminisierung des zahnärztlichen Berufsstandes ins Auge sticht. Junge Zahnärztinnen gelten – wie viele andere junge Akademikerinnen heute – längst als begehrte Nachwuchskräfte. Und sollten nicht wegen der Unvereinbarkeit von Familie und Beruf an den heimischen Herd verschwinden, meinen Ökonomen. Einerseits brauchten heute viele Menschen zwischen 30 und 45 Jahren parallel zu ihrer beruflichen Tätigkeit Zeit für die Familie. Die Wirtschaft könne jedoch angesichts des nahenden Fachkräftemangels auf ihr Wissen nicht verzichten.
Manager, die das ignorieren, werden in Bälde vor Engpässen stehen, prophezeien Experten. Unternehmer dagegen, die auf diesen Bedarf ihrer Mitarbeiter positiv reagieren, haben die Nase vorn im Wettbewerb. Das gilt auch für niedergelassene Freiberufler in der Praxis, die die Einarbeitung einer neuen Mitarbeiterin viel Zeit, Energie und letztlich finanzielle Einbußen kostet. Genau das lässt sich vermeiden, sind sich Ökonomen sicher.
Wenn gute Leute bleiben können, obwohl sie private Schwierigkeiten meistern müssen, und dabei Unterstützung vom Chef erfahren, steigere das ihre Motivation und Leistungsbereitschaft. Die Pioniere unter den Unternehmern wissen im Übrigen sehr wohl um die Außenwirkung ihrer internen Bemühungen.
Prima Klima
Erste Antworten auf die Frage: „Wie hält ein guter Unternehmer einen Mitarbeiter bei der Stange, obwohl der sich jetzt um seine Familie kümmern wird?“, lieferte Dr. Christina Klenner: Am besten mit einem familienfreundlichen Betriebsklima. In ihrem Beitrag „Familienfreundliche Betriebe – Anspruch und Wirklichkeit“ berichtet sie über die Ergebnisse einer Umfrage unter Beschäftigten. Signalisieren der Chef und die Kollegen Verständnis, wenn ein Mitarbeiter bei seinem erkrankten Kind bleibt, sei diesem die moralische Rückendeckung sogar mehr wert als Ferienangebote oder finanzielle Unterstützung für die Kinder, fand Klenner heraus. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass meine Mitarbeiter gerade deshalb leistungsbereiter sind, weil ich ihr Familienleben wichtig nehme“, berichtete ein Kleinunternehmer. Der familienfreundliche Status als eine ebenso effektive wie kostengünstige Investition also.
Zweiverdiener-Paare wie auch Alleinerziehende wünschen sich laut Klenners Untersuchung Entlastung insbesondere durch kürzere und planbare Arbeitszeiten. Zwischen 20 und knapp 30 Wochenstunden erschienen vielen Eltern als ein gut zu schaffendes Pensum, das ihnen noch genügend Zeit für die Kinder lässt. Wichtig dabei ist, so Klenner, dass sie die Zeiten für ihren beruflichen Einsatz mit einem festen Vorlauf kennen. Dann können sie alle Abläufe für die Familie während ihrer Abwesenheit sinnvoll und kostensparend organisieren. Verstehe der Arbeitgeber unter „flexiblen Zeiten“ Angebote zu Teil- oder Gleitzeit, erleichtere er Mitarbeitern und Angehörigen ihr Familienleben deutlich.
Flexibler Einsatz – quasi auf Zuruf – dagegen bringe die Mitarbeiter in Nöte. Arbeiten zu Zeiten, die traditionell für Familienaktivitäten genutzt werden, verschlechterten die Bewertung ebenfalls grundsätzlich. An Wochenenden zum Beispiel. Nachtarbeit dagegen nähmen viele gerne an, konstatierte Klenner.
Hilfe für Jung und Alt
41 Prozent der Beschäftigten haben ein unausgeglichenes Verhältnis zwischen Arbeit und Familienleben, geht aus dem Bericht der „Initiative Gesundheit und Arbeit“ hervor. Mit „Move Europe“, der 1996 gestarteten Kampagne des Europäischen Netzwerkes zur betrieblichen Gesundheitsförderung, setzen sich mittlerweile über 500 Firmen in Deutschland für ein Gleichgewicht von Berufs- und Privatleben ein. Das Credo, das dahinter steht: „Der Weg zu einem langfristigen Unternehmenserfolg führt auch über eine Unternehmenskultur, die die Gesundheit der Beschäftigten fördert.“
Die Firmen gehen für ihre Eltern mit gutem Beispiel voran, indem sie ihre Betriebskindergärten gemäß den Arbeitszeiten der Eltern öffnen, Ferienbetreuung für Mitarbeiterkinder anbieten oder Schwangere mit einem Mentorenprogramm in ein Elternnetzwerk einbinden. Andere vermitteln Tagesmütter langfristig wie auch im Notfall und bieten Belegplätze in nahegelegenen Kindergärten. Und legten auch das Programm „Eldercare“ auf, das speziell auf die Bedürfnisse von Mitarbeitern eingeht, die sich um Pflegebedürftige in der Familie kümmern.
Denn die Betreuung von Kindern zu erleichtern ist nur die eine Aufgabe, die sich den Betrieben stellt. Mit dem neuen Pflegegesetz werden sie auch mit dem Anspruch ihrer Mitarbeiter auf eine Auszeit für die Betreuung von Pflegefällen in der Familie gefordert. Beschäftigte, die Angehörige pflegen, sehen sich nämlich ebenfalls mit der Frage konfrontiert, wie sie alle ihre Aufgaben miteinander vereinbaren sollen.
Wenngleich die Diskussion um verbesserte Kinderbetreuung derzeit sehr populär ist, zeichnet sich hier eine wichtige Zukunftsaufgabe ab. Mit zunehmender Lebenserwartung wird der Anteil der Pflegebedürftigen steigen, gleichzeitig wird sich der Kreis der Pflegenden aus den Reihen der Beschäftigten ergeben. Die Formel, die den neuen Bedarf belegt: Längere Lebensarbeitszeit heißt, ältere Mitarbeiter als bisher zu beschäftigen, die vor Renteneintritt entweder selber Hilfe brauchen oder Angehörige pflegen. Und: Eltern hat jeder!
Ein Ziel, viele Strategien
Auch die Politiker sind aufgewacht. Die Bundesregierung arbeitet nach eigenen Angaben „an einer nationalen Strategie zur Unterstützung dieses international ,Corporate Social Responsibility‘ genannten Engagements“. Die Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat bundesweit Projekte ins Leben gerufen, die den Unternehmern die Problematik bewusst machen und nach Möglichkeit Lösungswege aufzeigen sollen. Der Bund unterstützt familienfreundliche Vorhaben mit einem eigenen Programm: 50 Millionen Euro stehen bis 2011 zur Verfügung. Davon sollen gerade kleinere und mittlere Betriebe profitieren.
Das Audit „Beruf und Familie“ der gemeinnützigen Hertie-Stiftung hat mit Unterstützung der Bundesfamilienministerin einen Stein ins Rollen gebracht, der eine Lawine des Familienbewusstseins in deutsche Management-Etagen schwemmt. Auch große Player bemühen sich um die Auszeichnung mit einem – durchaus außenwirksamen – Zertifikat der Stiftung. Das erhalten die Teilnehmer erst nach drei Jahren Treue zu ihren eigenen neuen Grundsätzen, die ihren Beschäftigten statt eines Spagats ein Gleichgewicht bei der Erfüllung beruflicher und privater Pflichten ermöglichen. Und doch: Unter den Prämierten sind auch eine Allgemeinarztpraxis mit sechs und eine physiotherapeutische Praxis mit zwölf Mitarbeitern.
Der Allgemeinmediziner hat das Grundzertifikat erhalten für die individuell zugeschnittenen Arbeitszeiten, ausgeprägte Teamkultur und familienbewusste Unternehmensphilosophie. Letztere soll noch weiter wachsen, indem die familiären Anforderungen thematisiert und berücksichtigt werden.
Die etwas größere Praxis der Physiotherapeutin wurde zertifiziert, weil sie über flexible Arbeitzeiten und Kinderferienbetreuung hinaus Mitarbeiter in Elternzeit in Informationsflüsse einbinden und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verstärkt thematisieren will.
Die Berliner Charité, eine der größten Universitätskliniken Europas, setzte sich unter anderem mit einem umfassenden Katalog zu Kinderbetreuung und Pflege durch und will nach eigenen Angaben Arbeitszeitmodelle über die vorhandene Gleitzeit und Zeitkonten hinaus verbessern.
Die Ärzte- und Apothekerbank bewarb sich ebenfalls. Sie hatte im Vorfeld unter anderem einen hauseigenen Sozialfonds eingeführt sowie eine Betriebsvereinbarung zu Teilzeit und die Beschränkung von Lehrgängen auf die Werktage, um Abwesenheitszeiten von der Familie zu reduzieren. Prospektiv sah sie noch stärkere Kontakte zu Mitarbeitern in Elternzeit und deren Unterstützung bei Pflege sowie Kinderbetreuung vor. Die Bank erhielt diesen Sommer das begehrte Zertifikat. Ein Ereignis, das sie durchaus mit Stolz nach außen kommunizierte.
Der Index für das Rating
Publicity für die Teilnehmer ist gleichwohl weniger das eigentliche Ziel, vielmehr Publicity für die Idee familienorientierter Unternehmensführung sowie valide Fakten. Die will die Hertie-Stiftung evaluieren und das Ergebnis weitergeben, damit Unternehmer betroffenen Mitarbeitern beizeiten passgenau und daher wirksam entgegenkommen können.
Jetzt schon können Interessierte mit einem speziellen „Index“ interaktiv im Netz erfahren, ob ihre Firma „zu den Schlusslichtern“ oder zu den beispielhaften Pionieren des Trends zählen. Der Index-Bogen fragt die drei relevanten Bereiche ab:
• den Dialog zwischen Arbeitgeber und -nehmer,
• die konkreten Angebote an Betroffene und
• die Kultur des Unternehmens.
Ein neues Bewusstsein
Das Programm „Familienbewusste Personalpolitik“ als Teil moderner Unternehmensführung propagierte schon 2006 Schleswig-Holsteins Wirtschaftsminister Dietrich Austermann. Er hielt Führungskräfte dazu an, über ihre ganz eigene Nachwuchsnot nachzudenken: Wenn ihre erfahrenen Kräfte ausscheiden würden, weil sie ihre privaten Verpflichtungen ernst nehmen, aber mit den beruflichen nicht in Einklang bringen können, koste das die Unternehmen viel:
• Zum einen Zeit – weil sie eine Ersatzkraft finden müssen, obwohl genau die auf dem Arbeitsmarkt knapp sind.
• Geld, weil mehr Kosten für Einarbeitung inklusive neuerlicher Schulung anfallen.
• Vielleicht sogar den Wettbewerbsvorteil, weil der Betrieb nicht mehr so gut läuft wie vorher.
Auf zur neuen Infrastruktur
Allein auf weiter Flur täte sich ein Unternehmer, ob groß ob klein, mit seiner Familienfreundlichkeit jedoch auf lange Sicht schwer. Mit seinen Taten könnte er zwar manchen internen Bedarf mindern, doch der große Wurf verlangt nach einer entsprechenden Infrastruktur. Das hat auch die Politik mittlerweile eingesehen. Von der Leyen hat mit Nachdruck mehr Einrichtungen für die Betreuung kleiner Kinder durchgesetzt; die Länder wollen den Strukturwandel weiter vorantreiben.
In Bayern etwa strebt die Aktion „Lokales Bündnis für Familie“ ebenfalls nach einem strukturellen Umfeld, das Betroffenen Entlastung anbietet. Lokales Bündnis für Familie in verschiedenen Regionen zum Beispiel im Landkreis Donau-Ries, Bayern. Auf der Prioritätenliste stehen hier unter anderem Angebote der Kinderbetreuung in Ferienzeiten. Und die Suche nach der Antwort auf die grundsätzliche Frage: „Wie kann man Einstellungen verändern, Akzeptanz für Neues fördern und Arbeitgeber und –nehmer auf dem Weg zu mehr Familienfreundlichkeit unterstützen?“
Für niedergelassene Zahnärzte bietet die Nachfrage nach mehr familiengerechten Angeboten eine Option, als „familienfreundliche“ Praxis wenn schon nicht auf den Bedarf der Belegschaft, so doch auf den der Patienten zu reagieren. Die Zahnarztpraxis Dr. Gudrun Sommerfeld und Dr. Jörg Dürrast, Berlin, etwa empfiehlt sich mit familienfreundlichen Öffnungszeiten; seit fast 20 Jahren könne die gesamte Familie zu ein und demselben Termin erscheinen.
Ebenfalls auf die Behandlung von den ganz jungen bis zu den ganz alten Patienten eingestellt ist zum Beispiel die Praxis „Zahnmedizinisches Team“ am Aegi in Hannover. Seit April dieses Jahres gibt es an vier Nachmittagen in der Woche eine Kindersprechstunde. Die kleinen Patienten und Geschwister zieht es oft in den eigenen Wartebereich für Kids, der abgetrennt durch eine Glaswand dennoch die Nähe der Eltern visualisiert. Auch spezielle, kleine Toiletten wie in Kindergärten werden vorgehalten. Dadurch, dass die Kinderbehandlung sich auf den Nachmittag konzentriert, bleibt der ruhige Vormittag insbesondere für langwierige Behandlungen älterer Patienten frei.
Geht nicht, gibt’s nicht
Nordrhein-Westfalen hat den Wettbewerb „familie@unternehmen.NRW“ ausgeschrieben. Die Gewinner hat das Familienministerium des Landes bereits im Juli für innovative Konzepte zur familienfreundlichen Personalpolitik, Unternehmenskultur und Infrastruktur gekürt. „Betriebe die sich für Familienfreundlichkeit engagieren, investieren in die Zukunft. Immer mehr Unternehmer erkennen, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie ein wichtiger Wettbewerbsfaktor ist“, sagte Staatssekretärin Dr. Marion Gierden-Jülich in Düsseldorf bei der Prämierung.
Die 19 passgenauen Konzepte, für die sich die Jury entschied, werden über einen Zeitraum von drei Jahren mit rund drei Millionen Euro subventioniert; für den Wettbewerb stehen insgesamt 5,2 Millionen zur Verfügung. Die Inhalte der Projekte sind darauf ausgerichtet, Beschäftigten schon während deren Eltern- oder- Pflegezeit bei der Betreuung der Kinder oder sorgebedürftiger Angehöriger mit Rat und Tat zu helfen. (Mehr Infos hierzu unterhttp://www.mgffi.nrw.de).
Väter vor
Den Spagat zwischen Beruf und Familie kennen auch viele Männer: 71 Prozent der Väter gaben bei einer Online-Umfrage an, sie empfänden einen Konflikt zwischen dem gewollten beruflichen und dem selbst gewünschten familiären Engagement. Sie wollen mehr Zeit für die Familie haben. Das zeigt auch die steigende Zahl beschäftigter Väter in Elternzeit.
Die Politik hat dieses Problem erkannt. Die Initiatoren von „familie@unternehmen. NRW“ vergaben entsprechend eine Sonderförderung an ein IT-Unternehmen: Dieses erprobt innerbetriebliche Lösungsansätze für „familienfreundliche Männerkarrieren“ – damit auch in dieser service-lastigen Branche Väter aufatmen können. Denn Ziel der Aktion ist ein weitreichender Mentalitätswechsel bei Unternehmen und Öffentlichkeit. Nach dem Motto: Geht nicht, gibt’s nicht.
Klein, aber fein
Ein Ergebnis von Klenners Untersuchung überraschte übrigens viele Personaler: Die Befragten bewerteten nämlich die Familienfreundlichkeit in kleinen Betrieben mit fünf oder weniger Beschäftigten besser als in großen mit 500 und mehr Mitarbeitern. Sprich: in puncto „Familienfreundlichkeit“ können freiberufliche Zahnärzte für sich, ihr Team und ihre Patienten viel besser als große Häuser zu einem „Leben in Balance“ beitragen.