Alle für Einen
Das deutsche Gesundheitswesen ist durch eine starke Abgrenzung der verschiedenen Sektoren gekennzeichnet. Hauptgrund hierfür ist die getrennte Finanzierung der ambulanten und der stationären Versorgung. In den vergangenen Jahren hat der Gesetzgeber allerdings mit verschiedenen Reformgesetzen versucht, neue Versorgungsformen zu fördern, die durch eine koordinierte Behandlung die medizinische Behandlung verbessern sollen.
Die wichtigste dieser neuen Versorgungsformen ist die Integrierte Versorgung (IV). Sie steht für eine projektweise Vernetzung zwischen den einzelnen medizinischen Versorgungssektoren. Das bedeutet: Niedergelassene Haus- oder Fachärzte bieten gemeinsam mit stationären Einrichtungen und eventuell weiteren Leistungserbringern, beispielsweise Rehabilitationszentren oder Pflegeheimen, eine medizinische Versorgung „aus einer Hand“ an. Sie kooperieren bei der Behandlung ihrer Patienten und teilen sich innerhalb dieses Projektes ein gemeinsames Budget. „Wenn Vertragsärzte, andere ambulante Dienstleister im Gesundheitswesen, Krankenhäuser, Reha-Träger und weitere beteiligte Anbieter sich zu einer transsektoralen Organisations- und Verantwortungseinheit zusammenschließen, die medizinische Versorgung „aus einer Hand“ anbietet, sind Qualitäts- und Effizienzgewinne der medizinischen Versorgung zu erwarten“, fasst der Bundesverband Managed Care e.V. die Vorteile zusammen.
Beispiel Witten
Ein klassisches Beispiel: Im westfälischen Witten soll ein IV-Projekt die medizinische Versorgung von Pflegeheimbewohnern verbessern. 30 Ärzte der Ärztlichen Qualitätsgemeinschaft Witten, der fast alle niedergelassenen Ärzte in Witten angehören, 150 Versicherte und acht Pflegeheime sowie das Evangelische Krankenhaus machen mit. Kern des Projekts ist der hausärztliche Bereitschaftsdienst. Montags bis freitags bis 22 Uhr und am Wochenende bis 20 Uhr ist einer der Wittener Hausärzte Ansprechpartner für die Pflegeheime. Über Handy kann er die behandelnden Ärzte erreichen und mit ihnen absprechen, was getan werden soll.
Hintergrund: Zu viele Krankenhauseinweisungen kommen zustande, weil die Pflegekräfte in den Heimen keinen Ansprechpartner haben. Der Hausarzt kenne in der Regel den Patienten seit Jahren, manchmal Jahrzehnten, und habe ein besseres Gespür dafür, wann ein Krankenhausaufenthalt angezeigt ist und wann nicht, erklärt Dr. Arne Meinshausen, Hausarzt und Geschäftsführer der Ärztlichen Qualitätsgemeinschaft, die Philosophie des IV-Projekts. Seit Anfang 2007 gibt es den Vertrag. Die Einweisungsquote ins Krankenhaus sank innerhalb kürzester Zeit von 32 auf 23 Prozent. Vor allem die Kurzzeitaufenthalte konnten erheblich reduziert werden.
Doch es ist nicht alles Gold, was glänzt. Denn wo Patienten von einer besseren – und natürlich auch aufwendigeren – medizinischen Versorgung profitieren, sollten auch die Ärzte entsprechend besser bezahlt werden. Das Hauptproblem der Integrierten Versorgung ist deshalb die Einigung auf eine angemessene Vergütung der ärztlichen Leistungen. Da die Krankenkassen eine Finanzierung dieser Leistungen außerhalb der kollektivvertraglichen Regelversorgung prinzipiell ablehnen, verhindert die Frage, aus welchem Topf – Krankenhaus-Budget oder ambulante Ärztevergütung – wie viel Geld abgezweigt werden soll, bis in die späten 90er-Jahre des vorigen Jahrhunderts den Erfolg der Integrierten Versorgung.
Wirkung begrenzt
Anfang 2000 startet die damalige rotgrüne Bundesregierung mit der GKV-Gesundheitsreform den Versuch, die Integrierte Versorgung mit gesetzgeberischen Mitteln zu fördern. Die Wirkung bleibt allerdings begrenzt, da das zentrale Finanzierungsproblem mit der Reform nicht gelöst wird. Das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GMG), welches Anfang 2004 in Kraft tritt, bringt durch eine gesetzlich vorgegebene Budgetbereinigung eine entscheidende Weiterentwicklung der IV – und Probleme für die Regelversorgung.
Der für die Integrierte Versorgung neu geschaffene Paragraf 140 a-d des Sozialgesetzbuchs V (SGB V) legt fest, dass für innovative sektorale Projekte als zeitlich begrenzte Anschubfinanzierung ein Sonderetat zur Verfügung gestellt wird.
Bis zu jeweils einem Prozent der jährlichen Vergütungen für die ambulante und die stationäre Versorgung können die Krankenkassen nun speziell für die Integrierte Versorgung verwenden. Bis zum Jahr 2006 stehen zunächst jährlich maximal 680 Millionen Euro zur Verfügung (220 Millionen Euro aus der vertragsärztlichen Vergütung und 460 Millionen Euro aus der stationären Versorgung). Der Haken: Die Kosten für IV-Projekte werden von der Gesamtvergütung abgezweigt, um so eine Doppelfinanzierung durch die Krankenkassen auszuschließen. Die Anschubfinanzierung reduziert also die Budgets der jeweiligen KV-Bezirke, in denen die Integrationsmodelle angesiedelt sind.
Für die IV bringt die Anschubfinanzierung den erhofften Erfolg: Während es im Ersten Quartal 2005 rund 600 Verträge mit einem Vergütungsvolumen von rund 250 Millionen Euro gibt, steigt die Anzahl der Verträge bis Ende 2007 bereits auf über 5 300 Verträge mit einem Vergütungsvolumen von knapp einer Milliarde Euro. Rund sechs Millionen Patienten haben sich für die Teilnahme an einem IV-Projekt entschieden.
Paradoxe Situation
Während die Integrierte Versorgung ohne Mitwirkung der KVen staatliche Finanzspritzen erhält, wird das Geld auf der anderen Seite der Regelversorgung in Praxis und Klinik entzogen. Eine paradoxe Situation: Die KVen sollen zwar weiterhin die vertragsärztliche Versorgung sicherstellen. Gleichzeitig werden wesentliche Teile der Versorgung ohne ihre Mitwirkung abweichend in Integrationsverträgen geregelt. Verschiedene Gesundheitsökonomen haben deshalb angeregt, die Finanzierung der IV anders zu regeln. Professor Jürgen Wasem von der Universität Duisburg beispielsweise fordert, die Mittel für die Integrierte Versorgung dürften nicht der Regelversorgung entzogen werden, sondern müssten vielmehr zusätzlich zur Verfügung gestellt werden. Diese Chance sei allerdings für 2009 bereits verstrichen, die Politik hätte dies bereits bei der Berechnung des neuen Einheitsbeitrages miteinbeziehen müssen.
Zwar hat der Gesetzgeber mit dem Vertragsarztrechtänderungsgesetz zunächst die Anschubfinanzierung bis Ende 2008 verlängert. Eine nochmalige Verlängerung dieser Finanzierung allerdings schließt die Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt aus – die IV-Projekte müssten sich in Zukunft von alleine tragen. Vergeblich mühten sich die Krankenkassen bis zuletzt, eine Verlängerung der Anschubfinanzierung durchzusetzen.
Aus geschütztem Raum entlassen
Damit ist die Integrierte Versorgung aus dem geschützten Raum der gesetzlichen Budgetbereinigung entlassen. Mit dem Ende der Anschubfinanzierung steht nun die gesamte Integrierte Versorgung auf dem Prüfstand – jedes Projekt wird von den Kostenträgern überprüft, viele IV-Verträge wurden bereits gekündigt beziehungsweise werden nicht verlängert.
Die Deutsche Gesellschaft für Integrierte Versorgung (DGIV) glaubt, dass das Ende der Anschubfinanzierung im Dezember 2008 nur eine vorübergehende Belastung der Integrierten Versorgung bedeutet. Wegen des zunehmenden Wettbewerbsdrucks im Gesundheitswesen erwartet sie jedoch langfristig eine Zunahme der IV-Verträge und anderer neuer Versorgungsformen. Als Grund nennt sie nicht nur die möglichen Einsparpotenziale, sondern auch die Möglichkeit der Abgrenzung von Mitbewerbern.
Auch Professor Volker Amelung von der Medizinischen Hochschule Hannover und Vorstandsvorsitzender des Bundesverbands Managed Care (BMC) glaubt an den Erfolg der Integrierten Versorgung und plädiert dafür, diese und weitere Systeminnovationen auch künftig zu finanzieren. Anstelle der Anschubfinanzierung schlägt er einen Innovationsfonds vor, dem beispielsweise ein Prozent der Mittel des Gesundheitsfonds zufließen könnte. So sei sichergestellt, dass „alle Akteure gleichermaßen für die Finanzierung aufkämen“ und innovative Projekte nicht an den starren Strukturen des Systems scheiterten.
Gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Integrierte Versorgung (DGIV) hat der BMC in einer gemeinsamen Arbeitsgruppe ein Positionspapier mit fünf Szenarien für eine Weiterentwicklung der IV skizziert.
Tenor dieses Positionspapiers: Die Anschubfinanzierung für die Integrierte Versorgung war ein wirkungsvoller Reformimpuls für das deutsche Gesundheitssystem – kaum eine andere gesundheitspolitische Entscheidung hat mehr positive Bewegung ins System gebracht. DGIV und BMC betonen, an die geförderten Projekte sollten künftig höhere Anforderungen hinsichtlich Qualität und Wirtschaftlichkeit gestellt werden. Auch der Kreis der Vertragspartner müsse konsequent erweitert werden. Das Ziel müsse lauten: Leistungsorientierung, Ergebnisorientierung, Innovationsförderung. Das gemeinsame Papier formuliert drei Bedingungen für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Ziele. Es bedarf des konsequenten Nachweises der Wirtschaftlichkeit. IV-Verträge sollten nach spätestens fünf Jahren vollständig intern finanziert werden können, sich selbst tragen. Für alle IV-Verträge soll eine Aussage darüber getroffen werden, wie die Wirtschaftlichkeit konkret erreicht wird. Dies bezieht auch und vor allem Regeln zur Budgetbereinigung ein. Schließlich muss die Vergütung aus der Integrierten Versorgung an feste, eindeutige und überprüfbare Ziele geknüpft werden.
KBV ist skeptisch
Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) zumindest sieht die Zukunft der Integrierten Versorgung skeptisch. „Wir erleben derzeit bei den Krankenkassen eine Fondsstarre, was innovative Konzepte angeht. Die Dynamik beim Abschluss neuer Verträge ist erst einmal raus. Die Kassen können noch nicht genau abschätzen, wie sich ihre Einnahmen und Ausgaben in diesem Jahr entwickeln werden“, sagt Dr. Andreas Köhler, Vorstandschef der KBV. Für die Kassenärzte besteht das grundsätzliche Problem selektiver Verträge im Rahmen der Integrierten Versorgung darin, dass die Krankenkassen Verträge mit den Leistungserbringern zu den von ihnen gewünschten Konditionen schließen können. Für die Kassen sei ein solcher Vertragswettbewerb wünschenswert, denn der Kampf um Verträge mache Ärzte erpressbar und die Gefahr des Preisdumpings größer, so die KBV. Die Konsequenz: Die Integrierte Versorgung erhöht die Gefahr einer langfristigen Abhängigkeit von einer Krankenkasse durch Einkaufsmodelle. Die Kassen haben durch die Einzelverträge die Möglichkeit erhalten, mit dem Instrument der Integrierten Versorgung innerhalb der Vertragszahnärzteschaft zu selektieren und identische Leistungen unterschiedlich zu vergüten. Der damalige stellvertretende Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes, Herbert Reichelt, verdeutlicht kurz vor dem Ende der Anschubfinanzierung das Interesse der Kassen: „Wir wollen uns die Vertragspartner im Interesse unserer Versicherten nach Qualitätsanforderungen auswählen können.“
Da die Vertragsbestandteile von Projekten der Integrierten Versorgung keiner Veröffentlichungspflicht unterliegen, gibt es keine zuverlässigen Angaben darüber, wie viele IV-Projekte es mit zahnärztlicher Beteiligung gibt. Allerdings zeigen die Ergebnisse verschiedener IV-Vertrags-Suchmaschinen, dass diese neue Versorgungsform in der vertragszahnärztlichen Versorgung bislang keine große Rolle spielt.
Auch der Vorstandsvorsitzende der KZBV, Dr. Jürgen Fedderwitz, sieht die Zahnmedizin in der Integrierten Versorgung eher als Nische. Es gebe, außer in einigen wenigen Schmerzkliniken, kaum Verträge mit zahnärztlicher Beteiligung. Nichtsdestotrotz ist der KZBV-Vorsitzende offen für die Integrierte Versorgung: „Es gibt sicherlich mehr Möglichkeiten für IV-Verträge, als sie derzeit genutzt werden. Solange solche Projektverträge die zahnmedizinische Versorgung verbessern und die Arbeit des Zahnarztes zumindest nicht schlechter bezahlt wird, als in der Regelversorgung, ist dagegen auch nichts einzuwenden.“ Besonders im Bereich einer verbesserten Versorgung von Senioren bestehe durchaus Potenzial für selektive Verträge.
Otmar MüllerNürburgstr. 650937 Köln