Repetitorium

Seltene Krankheiten – Orphan Drugs

Hypertonie, Migräne, Asthma – bei der Behandlung solcher Volkskrankheiten können Mediziner auf eine Vielzahl gut untersuchter Arzneimittel zurückgreifen. Anders bei seltenen Erkrankungen wie zum Beispiel dem Morbus Gaucher oder der Tyrosinose. Solche Erkrankungen werden oft erst spät erkannt. Ihre Therapiemöglichkeiten basieren häufig auf so genannten „Orphan Drugs“ und sind in aller Regel eng limitiert.

Rund 30 Millionen Menschen in Europa – davon rund vier Millionen in Deutschland – leiden an einer sogenannten seltenen Erkrankung. Wer kennt schon den Morbus Fabry, das Sanfilippo-Syndrom oder das Dravet-Syndrom? Doch auch durchaus bekanntere Krankheitsbilder wie die Leukämien im Kindesalter, die Phenylketonurie, die Mukoviszidose und die amyotrophe Lateralsklerose, das Schilddrüsenkarzinom sowie der Nierenkrebs gehören zu den seltenen Erkrankungen. Diese treten häufig bereits im Kindesalter auf. Sie gehen oft auf einen genetischen Defekt zurück, werden aber zum Teil erst mit Verzögerung diagnostiziert und sind mit erheblichen Belastungen für die betroffenen Familien und mit einer oft sehr eingeschränkten Prognose behaftet.

Prävalenz unter 1/2000

Von einer seltenen Erkrankung ist entsprechend der in Europa gültigen Definition auszugehen bei gesundheitlichen Störungen, an denen weniger als einer von 2 000 Einwohnern eines Landes leiden. In anderen Nationen werden die Grenzen etwas anders gewählt, liegen aber in der gleichen Größenordnung. Für Europa gilt damit eine Erkrankung als „selten“ bei einer Prävalenz unter 500/1 000 000 Einwohner.

Das aber bedeutet keinesfalls, dass insgesamt nur wenige Menschen betroffen sind. Denn Schätzungen zufolge gibt es 5 000 bis 7 000 verschiedene seltene Erkrankungen. Selbst bei einer vergleichsweise nur geringen Zahl der Betroffenen bei einer speziellen Erkrankung ist somit doch die Zahl der insgesamt an seltenen Krankheiten leidenden Personen groß. Sie wird auf rund sechs bis acht Prozent der Bevölkerung geschätzt.

Große Heterogenität

Die verschiedenen Krankheitsbilder zeigen hinsichtlich der Zahl der Patienten wie auch des klinischen Erscheinungsbildes eine große Heterogenität. So gibt es Störungen wie die Mukoviszidose, die innerhalb der seltenen Erkrankungen vergleichsweise häufig sind, während andere nur einige hundert Personen in Europa betreffen und damit als „sehr selten“ einzustufen sind.

Die betreffenden Leiden können mit einer Vielzahl von Funktionsstörungen und Symptomen einhergehen. Sie können die körperliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen, die geistigen Fähigkeiten oder auch das Verhalten der Patienten.

Meist genetischer Defekt

Etwa 80 Prozent der seltenen Erkrankungen liegt ein genetischer Defekt zugrunde. Oft basiert dieser auf der Mutation eines Gens, allerdings können die Veränderungen ebenfalls mehrere Gene betreffen und es können ferner auch umfassende Chromosomen-Anomalien vorliegen. Unabhängig davon können Infektionen, Noxen, Allergien oder zum Beispiel degenerative Veränderungen die Ursache einer seltenen Erkrankung sein.

Diese können sich – so wie bei der Mukoviszidose – bereits im Kindes- und Jugendalter bemerkbar machen oder wie im Fall des Morbus Huntington (Veitstanz) erst beim Erwachsenen klinisch in Erscheinung treten. Sie können sich mit charakteristischen Symptomen manifestieren, was dann relativ rasch zur richtigen Diagnose führt. Häufiger aber werden sie durch Symptome, die auch bei anderen Erkrankungen auftreten, verschleiert. Zum Teil dauert es Monate und Jahre, ehe die konkrete Diagnose gestellt wird.

Gemeinsamkeiten seltener Erkrankungen

Trotz der Heterogenität haben die seltenen Erkrankungen doch einige Gemeinsamkeiten miteinander, wie die Organisation Eurordis (European Organisation for Rare Disease) in einer Informationsschrift mitteilt. So handelt es sich durchweg um schwere bis sogar sehr schwere Erkrankungen, die chronisch, progredient und zum Teil sogar lebensbedrohlich verlaufen. Die Störungen belasten die Erkrankten wie auch deren Familien erheblich und gehen zumeist mit einer Beeinträchtigung oder sogar dem Verlust der Autonomie des Betroffenen einher.

Eine Heilung der Patienten ist mit den herkömmlichen Methoden in der Regel nicht möglich, und auch an einer wirkungsvollen Therapie hapert es oft, wie das Beispiel des Morbus Huntington zeigt. Bei anderen Störungen wie etwa der Mukoviszidose ist es durch die Therapie jedoch möglich, die Symptome, die Lebensqualität und auch die Lebenserwartung deutlich zu bessern.

„Verwaiste“ Erkrankungen

Neben den seltenen Erkrankungen gibt es ferner die sogenannten vernachlässigten Erkrankungen („neglected diseases“). Es handelt sich hierbei vorwiegend um Krankheitsbilder, die in Entwicklungsländern auftreten und in den Industrieländern kein größeres Gesundheitsproblem darstellen. Sie erfahren in aller Regel daher weder in der Forschung noch in der Medikamentenentwicklung gebührende Aufmerksamkeit.

Seltene und vernachlässigte Erkrankungen werden unter dem Oberbegriff der „verwaisten Erkrankungen“ – auch „Orphan Diseases“ genannt – zusammengefasst. Den Störungen gemeinsam ist, dass eine systematische Forschungsförderung fehlt, dass es an Diagnose- und Therapiemöglichkeiten mangelt und dass allgemein in der Öffentlichkeit wie auch im gesundheitspolitischen Bereich oftmals die notwendige Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Diagnostik und Therapie der Erkrankungen wie auch die medizinische und soziale Betreuung der Betroffenen fehlt.

Orphan Drug: Arzneimittel für diese Erkrankungen

Patienten, die an einer Orphan Disease leiden, sind häufig auf Medikamente angewiesen, die aber zwangsläufig bei der jeweiligen Erkrankung nicht so umfassend geprüft werden konnten und können wie Medikamente, die bei Volkskrankheiten eingesetzt werden. Für Wirkstoffe, die bei seltenen Erkrankungen hilfreich sind, kann deshalb der sogenannte „Orphan Status“ beantragt werden, durch den besondere Vorschriften für die Prüfung und Zulassung solcher Orphan Drugs zum Tragen kommen.

Die Gleichstellung der Patienten sicherstellen

Bereits seit Jahren gibt es Bestrebungen, die Versorgung von Patienten mit seltener Erkrankung zu verbessern und allein in den vergangenen beiden Jahren hat sich laut Angaben des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen (VFA) die Zahl der in Deutschland zugelassenen Medikamente gegen Orphan Diseases nahezu verdoppelt. Allerdings gibt es noch erheblichen weiteren Handlungsbedarf, heißt es in einer Broschüre des Verbands.

Dies dokumentiert nicht zuletzt eine Empfehlung des Europäischen Ministerrats, der sich Ende des vergangenen Jahres für die Erarbeitung nationaler Aktionspläne zur Bekämpfung seltener Krankheiten ausgesprochen hat. Damit soll die Gleichbehandlung der betroffenen Patienten sichergestellt und gleichzeitig gewährleistet werden, dass die Betroffenen ebenso wie Menschen mit Volkskrankheiten flächendeckend eine qualitativ hochwertige Versorgung hinsichtlich Diagnostik und Therapie erfahren.

Starke Benachteiligungen

Das aber ist noch längst nicht der Fall, wie Eurordis, eine europäische Vereinigung von Patientenorganisationen, mitteilt. Die Vereinigung kämpft dafür, dass die medizinische Versorgung und die Lebensqualität von Menschen mit seltener Erkrankung und deren Familien verbessert werden. So dauert es nach Angaben der Organisation zum Teil inakzeptabel lange, ehe die richtige Diagnose gestellt wird. Das kann fatale Folgen haben, wenn durch die verzögerte Diagnose Therapiechancen verpasst werden. Die Patienten und ihre Familien machen zum Teil eine diagnostische Odyssee von Arzt zu Arzt und von Klinik zu Klinik durch, sie erhalten oftmals nur spärliche Informationen über die Ursache der Symptome und über mögliche Hilfsangebote und Ansprechpartner.

So wurde laut einer Eurordis-Umfrage bei 40 Prozent der Patienten zunächst eine falsche Diagnose gestellt, was bei einem von sechs Betroffenen einen chirurgischen Eingriff nach sich zog, und jeder zehnte Patient wurde aufgrund der falschen Diagnose unnötigerweise psychiatrisch behandelt.

Es kommt darüber hinaus zu erheblichen Benachteiligungen in der Schule, bei der Berufsausbildung und im Beruf sowie allgemein im sozialen Leben. Es drohen Stigmatisierung, Ausgrenzung aus der Gesellschaft und die soziale Isolation, so Eurordis.

Neben dieser Organisation macht sich hierzulande vor allem das sogenannte Kindernetzwerk e.V. für eine verbesserte Versorgung vor allem von Kindern, Jugendlichen und (jungen) Erwachsenen mit seltener Erkrankung stark. Die Organisation baut unter anderem eine umfassende Datenbank zu den Erkrankungen auf, um so das Wissen zu erweitern, den betroffenen Familien zum Beispiel mit dem Vermitteln von Krankheitsexperten wie auch mit allgemeinen Informationen zur Seite stehen zu können und insgesamt die Diagnostik und Therapie von „Kindern und Jugendlichen mit besonderen Bedürfnissen“ zu optimieren. Für die speziellen Bedürfnisse von betroffenen Kindern wie auch Erwachsenen engagiert sich auf nationaler Ebene ferner die ACHSE e.V. (Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen), ein Netzwerk von Patientenorganisationen von Kindern und erwachsenen Betroffenen und ihrer Angehörigen.

Aktuelle Regelungen

Bis vor wenigen Jahren gab es ganz allgemein nur wenig Engagement bei der Entwicklung spezieller Therapieverfahren für die Behandlung seltener Erkrankungen. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Entwicklung der notwendigen Arzneimittel aufwändig und kostspielig ist, der spätere Einsatz aufgrund der Seltenheit der Erkrankungen aber wenig lohnenswert erschien. Bereits in den 80er-Jahren wurden daher in den USA Sonderregelungen für die Prüfung und Zulassung von Orphan Drugs etabliert.

In Europa wurden im Jahre 2000 für die Entwicklung, Zulassung und Vermarktung von Arzneimitteln zur Behandlung von seltenen schweren chronischen oder lebensbedrohlichen Erkrankungen bessere Rahmenbedingungen etabliert, für die eine zufriedenstellende Behandlungsmöglichkeit bislang nicht existiert.

Gibt es dagegen bereits gute Therapieoptionen für die jeweilige Erkrankung, so können nur Arzneimittel, die eindeutig einen zusätzlichen Nutzen versprechen, den Status eines Orphan Drug erhalten. Zu den Vorteilen, die dieser Status beinhaltet, gehören nach VFAAngaben unter anderem ein vereinfachtes Zulassungsverfahren mit deutlicher Reduktion der Zulassungsgebühren und ein zehnjähriges Exklusivrecht bei der Vermarktung des Arzneimittels in der jeweiligen Indikation.

Bereits verfügbare Orphan Drugs

Derzeit sind 52 Orphan Drugs hierzulande zugelassen. Dazu gehören unter anderem Wirkstoffe gegen wenig bekannte Defekte wie etwa ein monoklonaler Antikörper gegen die paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie, eine Erkrankung, bei der infolge eines Gendefekts Erythrozyten vorzeitig zerstört werden, was zu lebensbedrohlichen Thrombosen führen kann. Auch Medikamente zur Behandlung der Akromegalie, also des Riesenwuches, sowie des Hereditären Angioödems, einem erblich bedingten, anfallsartig auftretenden Angioödem, zählen zu den Orphan Drugs ebenso wie Wirkstoffe zur Therapie der Hyperammonämie, einer infolge eines Enzymmangels bedingten Störung des Harnstoffzyklus, und des Morbus Wilson, einer Kupferansammlung in der Leber sowie in Hirnzellen.

Doch auch Wirkstoffe gegen Erkrankungen, die ebenfalls selten, aber deutlich populärer sind, sind als Orphan Drugs anerkannt. Dies ist zum Beispiel bei Medikamenten zur Behandlung der Mukoviszidose der Fall und auch bei Wirkstoffen, die bei der akuten lymphatischen Leukämie eingesetzt werden oder bei der akuten myeloischen Leukämie, der chronischen myeloischen Leukämie sowie beim Lungenhochdruck und der Sichelzellanämie.

Unter den Orphan Drugs finden sich dabei auch Wirkstoffe, die zugleich bei Volkskrankheiten genutzt werden, die jedoch bei den Orphan Diseases eine besondere Indikation finden. Dazu gehört unter anderem der Phosphodiesterase-5-Hemmer Sildenafil, der üblicherweise zur Behandlung der erektilen Dysfunktion genutzt wird, aber ebenfalls beim Lungenhochdruck therapeutisch wirksam ist. Auch Celecoxib, das als Schmerzmittel eingesetzt wird, hat bei der Familiären adenomatösen Polyposis, einer genetisch bedingten Erkrankung, die mit einem massiv erhöhten Darmkrebsrisiko assoziiert ist, den Status eines Orphan Drug ebenso wie das Analgetikum Ibuprofen bei der Therapie des Ductus arteriosus bei Frühgeborenen.

Unter den Orphan Drugs finden sich zudem Arzneimittel, die gegen mehrere seltene Erkrankungen wirksam und entsprechend zugelassen sind. Das ist beim Sorafenib der Fall, einem Tyrosinkinasehemmer, der beim Nierenkrebs wie auch beim Leberkrebs wirksam ist sowie beim Imatinib, einem Wirkstoff, der bei der Behandlung verschiedener Leukämieformen genutzt wird.

Schützenhilfe vonseiten der Biotechnologie

Nicht zuletzt die Möglichkeiten der modernen Biotechnologie nähren Hoffnungen auf weitere Neuentwicklungen im Bereich der Orphan Drugs. So wird es zunehmend möglich, Wirkstoffe zu entwickeln, die sich gezielt gegen eine vorliegende genetische Veränderung richten wie etwa gentechnisch hergestellte Enzyme gegen bestimmte lysosomale Speicherkrankheiten wie den Morbus Gaucher oder den Morbus Fabry. Die Erleichterungen bei der Entwicklung und Zulassung solcher Arzneimittel erhöhen laut VFA die Chancen der Betroffenen auf neue künftige Therapieoptionen.

Aktionsplan gefordert

Vor dem Hintergrund der europaweit noch unzureichenden Versorgung von Patienten mit seltener Erkrankung haben einige Länder bereits einen nationalen Aktionsplan etabliert, der die Situation der betroffenen Patienten stärken soll. Zu diesen Ländern gehören Dänemark, Frankreich, Italien, Schweden, Spanien und Großbritannien. Nach dem Erlass der „Verordnung von Medizinprodukten für seltene Erkrankungen“ gibt es laut Eurordis zudem Überlegungen zur Gründung von Referenz-Zentren und -Netzwerken mit dem Ziel der Verdichtung der bereits vorhandenen Erfahrungen und Kompetenzen. Einen nationalen Aktionsplan auch in Deutschland zu etablieren, um die Ressourcen zu bündeln, fordert eindringlich der VFA. Der Verband schlägt dabei unter anderem die Einrichtung eines Komitees vor, in dem Experten aus allen Bereichen von Ärzten und Forschern über die Krankenkassen bis hin zu Gesundheitspolitikern und betroffenen Patienten selbst zusammenarbeiten. Über die bereits existierenden Zentren hinaus sollen sogenannte „Exzellenzzentren“ für seltene Erkrankungen eingerichtet und etabliert sowie in ein nationales und ein europäisches Netzwerk integriert werden. Ziel dabei ist es, die Erforschung seltener Erkrankungen voranzutreiben, die „Diagnose, Therapie und Versorgung von Patienten mit solchen Erkrankungen zu verbessern und zu standardisieren“ und zudem auch eine „grenzüberschreitende Therapie von Patienten mit seltenen Krankheiten unbürokratisch“ zu ermöglichen.

Die Autorin der Rubrik „Repetitorium“ist gerne bereit, Fragen zu ihren Beiträgenzu beantworten.

Christine VetterMerkenicher Str. 22450735 Köln

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