Anatomische Körperspenden

Zwischen altruistischem Akt und geldwertem Vorteil

Heftarchiv Gesellschaft
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Obwohl sich bereits seit dem Zeitalter der Aufklärung vermehrt Aufrufe zur Körperspende an die Wissenschaft finden lassen, sind erst seit den 1960er-Jahren Körpervermächtnisse in nennenswertem Umfang festzustellen. Seitdem wurden die anatomischen Prosekturen selbst in der Öffentlichkeitsarbeit aktiv: Sie verstärkten die Aufklärung über die Notwendigkeit von Körperspenden für die Ausbildung des medizinischen Nachwuchses und veröffentlichten eigene Aufrufe in den Medien, die an die Verantwortung des einzelnen Bürgers für das Wohl der Gemeinschaft appellierten. Die bereitwillige Übernahme aller anfallenden Kosten (Bestattung, Grabpflege und Weiterem) wurde von den Einrichtungen ebenso herausgestellt wie der Hinweis, dass alle Körperspender in gemeinschaftlichen Trauerfeiern und Begräbnissen gewürdigt und geehrt würden.

Nüchterne Einschätzung

Wenn auch die Vertreter der anatomischen Institute offiziell den gemeinnützigen und selbstlosen Charakter der Körperspende als Ausdruck bürgerlichen Verantwortungsbewusstseins betonten, kam der Anatom Benno Kummer bereits 1985 gegen über dem Kölner Stadtanzeiger zu einer eher nüchternen Einschätzung: „Man soll in die Motive für eine Körperspende nicht zuviel hineingeheimnissen. Die Gründe für eine Körperspende sind oft ganz pragmatischer Natur [...].“ Dass neben altruistischen Motiven tatsächlich auch Nützlichkeitserwägungen eine Rolle spielen, bestätigte eine im Jahr 1995 von Kurt W. Becker und Vassilios Papathanassiou durchgeführte Befragung von 164 Körperspendern am Anatomischen Institut der Universität des Saarlands. Die Autoren kamen zu dem Ergebnis, dass unter den Gründen, die zum Vermächtnis des eigenen Körpers an die Anatomie führten, hinter „Unterstützung der Wissenschaft“ (1), „Mit dem Körper soll nach dem Tode etwas Sinnvolles gemacht werden“ (2) und „Hilfe für Mitmenschen“ (3) die „Entlastung der Angehörigen“ an vierter Stelle zu den herausragenden Motiven zählte.

Der Anatom Klaus D. Mörike wagte bereits 1988 eine weitreichende Prognose zur Körperspendebereitschaft der Deutschen: „In den USA können schon die Anatomischen Institute mancher Universitäten die ihnen angebotenen Toten nicht mehr alle übernehmen, weil so viele Menschen wegen der ungeheuer angestiegenen Beisetzungskosten ihren Körper letztwillig einer Anatomie zur Verfügung stellen. Noch ist es bei uns nicht so weit gekommen, aber es scheint sich bereits abzuzeichnen.“

Steigende Bestattungskosten

In der Tat erscheinen seit einigen Jahren regelmäßig Presseartikel, die eine eklatante Zunahme von Körperspendewilligen vermelden. Was sind die Hintergründe dieser Trendumkehr? Eine maßgebliche Rolle spielen die steigenden Bestattungskosten: Bereits für ein einfaches Begräbnis sind heute in Deutschland Kosten von 2 500 bis 3 000 Euro zu veranschlagen. Diese Tatsache scheint umso bedeutsamer, wenn man die Entwicklung des Sterbegeldes in den Blick nimmt: Jene Geldleistung, die die Kosten für die Bestattung eines Verstorbenen auffangen sollte und bereits im Jahr 1883 zum Leistungspaket der ersten Krankenversicherung unter Otto von Bismarck gehörte, belief sich Anfang der 1980er-Jahre noch auf 4 200 DM. 1989 wurde sie auf 2 100 DM reduziert und mit dem Währungswechsel im Jahr 2002 ungeachtet der Teuerungsrate auf 1 050 Euro festgesetzt. 2003 erfolgte eine weitere Herabsetzung des Sterbegeldes auf 525 Euro, bevor es zum 1. Januar 2004 ersatzlos gestrichen wurde. Seitdem sind die Bestattungskosten zur Gänze vom Verstorbenen beziehungsweise seinen Hinterbliebenen zu tragen.

Bereits diese Entwicklung zeigt, dass die Übernahme oder zumindest die Reduzierung der Bestattungskosten im Falle der Körperspende ein Motiv für die zunehmende Nachfrage nach Vermächtnissen darstellen dürfte. Die anatomischen Institute stehen angesichts dieser Entwicklung unter Druck: Erstens kann aus Kapazitätsgründen nur eine gewisse Anzahl Körperspender angenommen werden, zweitens stellt der Wegfall des Sterbegeldes eine hohe finanzielle Belastung auch für die Universitäten dar.

Aufnahmestopp

Ein Teil der Institute schließt neue Vereinbarungen nur noch mit einer Klausel ab, wonach Körperspender nicht gedeckte Kosten der Bestattung übernehmen müssen. Andere akzeptieren Körperspenden nur noch, wenn der Vermächtnisgeber bereits im Voraus einen Kostenbeitrag für das Begräbnis zusichert. So schreibt Spiegel-Online am 4. Juli 2008: „Nach Angaben der Anatomischen Gesellschaft verlangen etwa 20 bis 30 Prozent der 32 Anatomie-Institute in Deutschland von den Spendern eine finanzielle Beteiligung zwischen 600 und 1 200 Euro für die Aufnahme einer Leiche.“ Andere haben sich für einen Annahmestopp oder für die Verschärfung der Annahmebedingungen für eine Körperspende entschieden.

Dennoch scheint seitens der anatomischen Institute eine erhebliche Hemmschwelle zu bestehen, die Übernahme (eines Teils) der Bestattungskosten von den Körperspendern einzufordern, wie eine Internet-basierte Untersuchung von Schäfer et al. aus dem Jahr 2010 ergab: Selbst diejenigen Institute, die sich bereits zu einem Kostenbeitrag durch den Vermächtnisgeber entschieden haben, erbitten diesen meist mit offensichtlichem Unbehagen mit entschuldigenden und beschwichtigenden Formulierungen. Andere bitten gar um Verständnis, dass für die Übernahme des Leichnams keine Vergütung bezahlt werden kann, so als ob dies an anderen Instituten üblich wäre.

Geldwerter Vorteil

Es kann als unbestritten gelten, dass die Körperspende mit nachfolgender Bestattung durch ein anatomisches Institut gegenüber einer konventionellen Bestattung seit der Abschaffung des Sterbegeldes einen geldwerten Vorteil bringt, der sich positiv auf die Nachfrage auswirkt. Alle anatomischen Institute vertreten den Standpunkt, dass die Bestattung der Leichname von Körperspendern zu ihrer traditionellen Aufgabe gehöre. Gleichzeitig verteidigen die anatomischen Institute den altruistischen Charakter des Körpervermächtnisses, wie Schäfer et al. herausarbeiteten: Von 15 anatomischen Instituten in Deutschland, die auf ihren Homepages ausführliche oder zumindest grundlegende Informationen zur Körperspende anboten, stellten 12 ganz explizit den gemeinnützigen Charakter der Körperspende heraus. Geradezu paradigmatisch ist hierbei die Aussage des Heidelberger Anatoms Joachim Kirsch: „Niemand spendet nur aus monetären Erwägungen. Das altruistische Motiv spielt eine noch größere Rolle.“

Kosten versus Nutzen

In jedem Fall lässt sich nachweisen, dass das Interesse der Bürger an finanziell aufwendigen Bestattungen sinkt. Einen möglichen Grund hierfür sieht der Soziologe Volker Nölle in der zunehmenden Ausrichtung privater Entscheidungen an Kosten-Nutzen-Betrachtungen. Diese Herangehensweise gelte eben auch für Angelegenheiten rund um das Begräbnis. Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass allgemein die Nutzenerwartung an Be gräbnisse beziehungsweise Grabstätten gesunken ist. Einen Erklärungsansatz bie tet das psychologische Modell der „vor greifenden Trauer“: Aufgrund der gestiegenen

Lebenserwartung der Menschen und den häufiger nach chronischer Krankheit und längerem Sterbeprozess eintretenden Todesfällen findet die Abschiednahme über einen längeren Zeitraum statt, und ebendies lässt die Angehörigen die Trauerphasen bereits vor dem erwarteten Todeseintritt erfahren, was sich insgesamt positiv auf die Verlustverarbeitung auswirkt.

Eine weitere Begründung steckt hinter dem soziologischen Begriff des „sozialen“ Sterbens: Gemeint ist ein Prozess der gesellschaftlichen Ausgliederung, dem alternde Menschen unterworfen sind und der mit einem Verlust der gesellschaftlichen Teilnahme verbunden ist. Die gesellschaftliche „Verabschiedung“ alter Menschen findet bereits im Vorfeld des physischen Todes statt, was die Bedeutung der Trauerfeier als Abschiedszeremonie relativiert. Auch die Zunahme von alleinstehenden Menschen ohne Familienangehörige oder nahe Bezugspersonen trägt dazu bei, dass das Interesse an aufwendigen Bestattungen sinkt.

Räumliche Distanz

Eine ähnliche Auswirkung entfaltet die Mobilisierung der Gesellschaft: Hinterbliebene wohnen häufiger von den örtlich gebundenen Grabstätten entfernt, so dass die Trauer und der Bezug zum Verstorbenen zunehmend über andere, ortsunabhängige Symbole oder Erinnerungsgegenstände wie Fotografien, Schmuckstücke oder virtuelle Internet-Gedenkstätten hergestellt werden.

Dieser Trend entspricht im Wesentlichen dem, was ein typisches Ehrengrab für Körperspender darstellt: Meist als anonymes Grabmal gestaltet, ist es gleichfalls eher als Symbol aufzufassen und weniger als ein konkreter Ort, der einen persönlichen Bezug der Hinterbliebenen zu derem individuellen Verstorbenen herzustellen vermag – diese Funktion wird wegen des langen Zeitraums zwischen Tod und Bestattung durch andere Erinnerungsgegenstände erfüllt.

Apologetische Pirouetten

Obwohl die meisten Vertreter der Anatomie offiziell verlauten lassen, dass das Motiv zur Körperspende überwiegend von Idealismus geprägt sei, senden sie durch ihre apologetischen Pirouetten eine ganz andere Botschaft: nämlich die, dass die vollständige Übernahme der Bestattung traditionell Aufgabe der anatomischen Institute sei. Diese Haltung aber unterstreicht letztlich den Anspruch des Körperspenders auf die Gegenleistung der Bestattungsbesorgung durch das anatomische Institut und damit die Annahme, dass Körperspenden nicht allein oder vorrangig gemeinnützig sind.

Private Vorsorge fällt weg

Bis zur Abschaffung der Sterbegeldleistungen hat der Vermächtnisgeber diese quasi als Mitgift in die Körperspendevereinbarung eingebracht. Mit der Streichung des Sterbegeldes hatte der Gesetzgeber die Begräbnisvorsorge in den Bereich der Privatvorsorge und damit in die Verantwortung des Einzelnen übertragen. Solange die anatomischen Institute jedoch weiterhin ganz oder teilweise auf die Zahlung der Bestattungskosten verzichten, braucht der Körperspender zu Lebzeiten keine private Vorsorge für seinen Todesfall zu betreiben. Dieses Geld steht ihm dann sogar schon zu Lebzeiten zur Verfügung.

Der eigene Leichnam eröffnet dem Körperspender demzufolge finanzielle Freiheitsgrade, indem er das für die private Sterbevorsorge nicht benötigte Kapital anderweitig einsetzen oder alternativ (für die Hinterbliebenen) anlegen kann. Spätestens an dieser Stelle endet der traditionelle Spendencharakter des Körpervermächtnisses – und es wäre durchaus nicht unmoralisch, dies offen zu kommunizieren.

Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil.Dominik GroßDr. med. dent Gereon SchäferInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinWendlingweg 252074 AachenTel.: 0241/8088095Fax: 0241/8082466dgross@ukaachen.de

• Literaturhinweis: Gereon Schäfer, Stefanie Westermann und Dominik Groß, „Do ut des – Zur Motivation von „Körperspendern“ und zur Funktion des toten Körpers, in: Dominik Groß, Jasmin Grande (Hrsg.), Objekt Leiche. Technisierung, Ökonomisierung und Inszenierung toter Körper (= Todesbilder, 1), Frankfurt a. M. 2010, S. 518 bis 543.  

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