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Autoaggressivität

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Sich ritzen, schneiden oder verbrennen – solche selbstverletzenden Verhaltensweisen nehmen an Häufigkeit zu. Mehr und mehr junge Menschen – vor allem Mädchen – versuchen, durch ein solches autoaggressives Verhalten emotionalen Druck abzubauen. Die Persönlichkeitsstörung ist für die Betroffenen wie auch für ihre Angehörigen enorm belastend.

Versagensängste, Misserfolge, Angst und Wut, Selbsthass und generell ein hoher emotionaler Druck – das sind typische Triebfedern für autoaggressives Verhalten. Weit verbreitet ist dabei die sogenannte offene Selbstverletzung, ein Verhalten, bei dem die Betroffenen sich selbst Verletzungen in Form wiederholter Gewebeschädigungen zufügen, ohne suizidale Absicht, aber mit dem Wissen, dass es sich hierbei nicht um ein normales Verhalten handelt.

Vom offenen selbstverletzenden Verhalten (SVV) abzugrenzen sind sich selbst schädigende Verhaltensweisen, die jedoch „gesellschaftlich akzeptiert“ sind wie etwa das Rauchen, hoher Alkoholkonsum oder exzessiver Sport. Abzugrenzen vom SVV ist außerdem die Automanipulation von Erkrankungen, also das Selbst-Herbeiführen einer Störung oder das Verstärken von Beschwerden, zum Beispiel, weil Krankheit als einzig erträgliche Daseinsform erlebt wird.

Selbstverletzung ohne bestimmte Absicht

Ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als dem offenen SVV folgt außerdem das Münchhausen-Syndrom, bei dem die Betreffenden Symptome vortäuschen oder auch künstlich herbeiführen, um damit einen bestimmten Zweck zu erfüllen wie etwa eine Berentung durchzusetzen. Auch gibt es Störungen, die simuliert werden, oder Symptome, die selbst induziert werden, zum Beispiel von Strafgefangenen, die eine Hafterleichterung anstreben. Das aber sind andere Störungen oder Verhaltensweisen, die nicht dem SVV zugeordnet werden, auch wenn die betreffende Person sich dabei selbst schädigt.

Ritzen und Co.

Beim offenen SVV ist die Selbstverletzung nicht auf eine bestimmte Form beschränkt, wenngleich am häufigsten derzeit wohl das „sich Ritzen“ sein dürfte. Dabei fügen die Betreffenden – meist handelt es sich um Mädchen oder junge Frauen – sich Schnittverletzungen mit scharfen Gegenständen zu, also mit Rasierklingen, Skalpellen, Messern oder auch Scherben. Dies geschieht meistens an den Unterarmen und eventuell auch an den Oberschenkeln, seltener in der Bauch- oder Brustregion, im Gesicht oder im Genitalbereich.

Neben dem Ritzen kann das SVV auch durch Verbrennen oder Verbrühen erfolgen, zum Beispiel durch das Halten der Hände über eine Kerze oder durch das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut. Möglich sind auch das Verätzen, das Kratzen und das Beißen in erreichbare Körperteile bis hin zum Abbeißen der Fingerkuppen oder dem Zerkauen der Wangeninnenseite oder der Lippen. Üblich ist auch das Stechen mit Nadeln in die Haut oder das Stören der Wundheilung durch Übergießen mit Alkoholika, Cola oder anderen Flüssigkeiten oder gar das Einbringen von Senf in die Wunden. Seltener dagegen kommt es zum Ausreißen von Haaren oder zum Schlagen mit den Händen gegen den Kopf oder sogar zum Schlagen des Kopfes gegen eine Wand.

Die Verletzungen werden versteckt

Dass mit dem selbstverletzenden Verhalten keine spezielle Absicht verbunden ist, zeigt schon die Tatsache, dass die Verletzungen nicht der Umwelt gezeigt, sondern im Gegenteil meist verdeckt werden. Das geht soweit, dass die Betreffenden im Sommer kein kurzärmeliges T-Shirt tragen und sich zum Beispiel nie die Ärmel des Pullovers hochkrempeln. Nicht selten bleibt das auffällige Verhalten damit sogar innerhalb der Familie lange Zeit unentdeckt.

Doch auch wenn die Angehörigen merken, dass mit ihrem Familienmitglied „etwas nicht stimmt“, kommt es oft nicht dazu, dass professionelle Hilfe in Anspruch genommen wird, teils weil die Betroffenen dazu nicht bereit sind, teils aber auch weil angenommen wird, dass das „Problem“ sich irgendwann von alleine lösen wird, und weil Verhaltensweisen wie das Ritzen sowie auch die anderen Methoden der Selbstverstümmelung noch weitgehend tabuisiert sind. Das erklärt auch, dass das Ritzen sowie andere Arten des SVV in den Medien weit weniger Beachtung finden als seinerzeit die Anorexia nervosa oder die Bulimie und dass es als Störung in weiten Teilen der Bevölkerung kaum bekannt ist.

Menschen, die sich selbst verletzen, hocken keineswegs nur im stillen Kämmerlein und sind zum Teil nicht erkennbar depressiv oder sozial zurückgezogen. Im Gegenteil: Viele von ihnen spielen nicht selten sogar ihrer Umwelt vor, stets fröhlich und lebenslustig zu sein. Sie kaschieren aber ihre Verletzungen und Narben durch Kleidung aus Sorge, durch ihr Verhalten sozial geächtet zu werden. Damit aber baut sich ein zusätzlicher Druck auf, nicht entdeckt zu werden.

Allerdings kann es auch umgekehrt sein und die Jugendlichen ziehen sich nach und nach aus ihrem Freundeskreis zurück. Hellhörig werden sollte man deshalb in der Familie, wenn Jugendliche ihre Freizeitaktivitäten ändern, mehr Zeit zu Hause und im Internet verbringen, ihren Freundeskreis vernachlässigen, starken Stimmungsschwankungen unterliegen und zum Teil depressiv werden. Dies sollte nicht als „Folgen der Pubertät“ einfach abgetan werden, sondern es ist in solchen Fällen verstärkt darauf zu achten, ob die betreffenden Jugendlichen ihre Unterarme verbergen, ob es unerklärlich viele Narben gibt oder ob Blutspuren bei der Wäsche auffallen.

Die Verletzungen fügen sich die Betreffenden in aller Regel nicht öffentlich zu, sondern zurückgezogen mit sich alleine. Die Handlungen erfolgen zudem meist nicht spontan, sondern geplant, wobei ihnen nicht selten ein innerer Kampf gegen den Impuls, sich zu verletzen, vorausgeht.

Erschreckend häufig

Exakte Zahlen zur Häufigkeit des SVV fehlen naturgemäß und die Schätzungen schwanken zwischen 0,7 und 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Damit dürften rund 600 000 bis sogar 1,2 Millionen Menschen hierzulande sich mehr oder weniger häufig Verletzungen selbst zufügen. Weitaus häufiger ist die Störung, wenn man nur die Gruppe der Jugendlichen betrachtet: So zeigt eine Studie des britischen „Center for Suicide Research“, in der 6 000 Schüler im Alter von 15 bis 16 Jahren untersucht wurden, dass mehr als jeder Zehnte Erfahrungen mit dem SVV hat. Das Ritzen sowie andere selbstverletzende Praktiken nehmen aber offenbar weiterhin noch an Häufigkeit zu. Dabei dürfte es durchaus berechtigt sein, von einer hohen Dunkelziffer auszugehen.

Allgemein sind mehr Mädchen als Jungen betroffen, das Verhältnis liegt bei 5:1, wobei die ersten Erfahrungen mit dem SVV meist in der Zeit der Pubertät erfolgen: Etwa jeder zweite Betroffene beginnt schon im Alter von 14 Jahren und 90 Prozent haben vor dem 18. Lebensjahr damit angefangen, sich selbst zu verletzen. Mehr als 40 Prozent der Betreffenden üben das SVV mindestens fünf Jahre lang oder sogar noch länger aus, 15 Prozent sogar länger als zehn Jahre. Besonders gefährdet sind offenbar Jugendliche, die sich ihrer sexuellen Orientierung noch unsicher sind, die gehänselt oder gemobbt werden und sich dagegen nicht zu wehren wissen.

Mit 72 Prozent ist unter den Verhaltensweisen das Ritzen am häufigsten vertreten, gefolgt vom Verbrennen (35 Prozent), sich schlagen (30 Prozent), die Wundheilung verhindern (22 Prozent), die Haut zerkratzen (22 Prozent), sich Haare ausreißen (10 Prozent) und sich Knochen brechen (8 Prozent). Oftmals werden von einer Person auch mehrere Arten der Selbstverletzung nebeneinander praktiziert. Auffällig in der britischen Studie war ferner, dass Schüler mit SVV überproportional häufig rauchten, erhebliche Mengen an Alkohol konsumierten oder Drogen nahmen.

Kein eigenständiges Krankheitsbild

Selbstverletzendes Verhalten stellt nach derzeitiger Vorstellung kein eigenständiges Krankheitsbild dar, sondern ist ein Symptom, das sich häufig begleitend zu einer psychischen Störung zeigt. So leiden viele Betroffene unter Depressionen und/oder einer Angststörung. Häufig finden sich Traumatisierungen in der Vorgeschichte wie zum Beispiel ein sexueller Missbrauch. Das aber ist längst nicht immer der Fall.

Nicht selten bestehen zugleich Essstörungen wie eine Anorexia nervosa oder eine Bulimie, Zwangsstörungen und eventuell auch eine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit. Menschen, die sich selbst verletzen, weisen oftmals eine Borderline-Persönlichkeitsstörung auf und zeigen zum Teil erhebliche Störungen des Sozialverhaltens und eine starke Bindungsunfähigkeit. Die betreffenden Jugendlichen sind außerdem häufig sehr sensibel und haben ein gering ausgeprägtes Selbstwertgefühl. Es handelt sich oft um überdurchschnittlich intelligente Menschen, wobei der Anteil der SVV-praktizierenden Personen bei den Hochbegabten besonders hoch ist.

Typisch für Menschen, die sich autoaggressiv verhalten, ist ein hoher emotionaler Druck, dem sie offenbar nicht standhalten können. „Gefühle wie Wut, Ärger, Trauer, Frustrationen oder Hilflosigkeit richten sich nicht, wie es oft bei normaler Erregung oder Aggressivität der Fall ist, gegen andere Menschen oder Gegenstände, sondern gegen sich selbst“, heißt es erklärend bei der Selbsthilfeorganisation „Rote Linien“.

Das SVV ist demnach, so ist es auf der Webseite der Organisation weiter zu lesen, auch als eine hilflose Art der Selbstfürsorge zu verstehen, da die Betroffenen mit ihrem Verhalten Druck, Spannung und Stress abbauen und so weitere Gefährdungen bis hin zum Suizid verhindern. Der Schnitt ins eigene Fleisch scheint entlastend zu wirken und quasi einem „Druck Ablassen“ gleichzukommen.

Das SVV kann aber auch der Selbstbestrafung dienen. Es ist häufig die Folge einer inneren Leere, die Betroffenen können sich selbst nicht mehr spüren oder wahrnehmen und überwinden dieses Gefühl, indem sie sich körperliche Schmerzen zufügen. Der körperliche Schmerz überdeckt damit quasi die seelische Qual.

Teufelskreis zwischen Druck und Entspannung

Während der Selbstverletzung scheint eine Dissoziation und eine gewisse Selbstentfremdung zu bestehen, die Betroffenen nehmen die Realität nicht mehr wahr und haben kaum mehr ein eigenes Körpergefühl. Sie betrachten ihren eigenen Körper quasi von außen wie den eines Fremden und empfinden während der selbstverletzenden Aktion in aller Regel auch keinen Schmerz. Vielmehr scheint diese wie in einer Art Trance vollzogen zu werden, der anschließend Gefühle der Entspannung, der Erleichterung und der Zufriedenheit folgen. Diese aber halten meist nur kurze Zeit an und gehen über in Scham, Frustration und auch Wut über das eigene Tun und die eigene Schwäche. Damit baut sich neuer emotionaler Druck auf, so dass ein regelrechter Teufelskreis gebahnt wird.

Autoaggressivität birgt Suchtpotenzial

Auf den ersten Blick unverständlich scheint das Phänomen, dass das autoaggressive Verhalten offenbar ein gewisses Suchtpotenzial in sich birgt. Menschen, die einmal damit begonnen haben, „Entlastung“ in diesem besonderen Verhalten zu suchen und zu finden, können nur sehr schwer wieder davon wegkommen. Dies scheint, so eine plausible Hypothese, direkt auf biochemischen Veränderungen zu beruhen, die sich durch die Verletzung vollziehen. Denn es kommt dabei wahrscheinlich zur Ausschüttung von Endorphinen, zentral wirksamer Botenstoffe, die auch als „Glückshormone“ bezeichnet werden.

Endorphine werden generell im Körper gebildet und freigesetzt, wenn es gilt, große Anstrengungen oder große Schmerzen durchzustehen. Ihre Wirkung kennt jede Frau, die ein Kind geboren hat und jeder Marathonläufer, der erfolgreich sein Ziel erreicht hat. Die Substanzen mindern das Schmerzempfinden und lassen beispielsweise trotz der enormen Schmerzen während der Entbindung oder der Strapazen beim Marathonlauf Glücksgefühle aufkommen.

Ähnlich scheint es beim SVV zur vermehrten Bildung von Endorphinen zu kommen, wonach die Betroffenen regelrecht „süchtig“ werden können. Das ist leicht verständlich, wenn man bedenkt, dass es sich bei den Endorphinen um Opiat-Derivate handelt. Neben den Endorphinen scheinen aber während des SVV auch weitere Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin gebildet zu werden.

Ähnlich wie bei anderen Formen der Abhängigkeit kann es auch bei dieser Verhaltensstörung zu Toleranzerscheinungen kommen. Dann gewöhnen sich die Betroffenen an den Reiz und müssen sich immer stärkere Verletzungen zufügen, um Entlastung zu erfahren. Eine solche Entwicklung ist nicht charakteristisch, durchaus aber möglich.

Ebenso kann es bei Menschen, die mit dem SVV aufhören wollen, zu regelrechten Entzugserscheinungen kommen mit dem Auftreten von Ängsten, Unruhe und sogar Panikattacken, was erklärt, warum viele Betroffene es nicht aus eigener Kraft schaffen, ihr autoaggressives Verhalten zu beenden.

Behandlung

Schwierig gestaltet sich in aller Regel die Behandlung des SVV, was viele Familien mit Angehörigen, die sich selbst verletzen, oft hilflos zurücklässt. Denn je größer der Druck von Freunden und Angehörigen wird, das schädigende Verhalten aufzugeben, umso mehr Druck baut sich verständlicherweise bei den Betroffenen auf und umso weniger werden sie vom Ritzen und vom Verbrennen lassen können. Ganz falsch aber sind Reaktionen wie Unverständnis und Ignoranz, Beschuldigungen oder Drohungen, weil sie das Problem in keinem Fall lösen.

Die Betroffenen brauchen vielmehr eine Psychotherapie, doch setzt dies die aufrichtige Bereitschaft voraus, sich behandeln zu lassen, um von der Autoaggression wegzukommen. Die Behandlung dauert üblicherweise mehrere Jahre und sollte nur von in der Therapie des SVV versierten Therapeuten vorgenommen werden. Vermittelt werden diese zum Beispiel über eine der psychotherapeutischen Beratungsstellen.

Die Heilungsaussichten sind umso höher, je jünger die Betroffenen sind und je früher eine gezielte Behandlung einsetzt. Rund ein Drittel der Patienten aber gelten, so heißt es bei Rote Linien weiter, als „nicht therapierbar“. Als geheilt gilt demnach ein Mensch, der sich regelmäßig selbst verletzt hat, wenn er fünf Jahre lang keine Autoaggression dieser Art mehr ausgeübt hat, wobei jedoch auch dann weiterhin eine latente Gefährdung erhalten bleibt, in Krisensituationen dieses Verhalten wieder aufzunehmen.

Christine VetterMerkenicher Str. 22450735 Köln

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