Wissenschaftsblock an der Charité

Praktisches Handeln und wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt

227678-flexible-1900
Heftarchiv Zahnmedizin
An der Universitätszahnklinik der Charité wird den Studenten in einem besonderen Seminar fundiertes wissenschaftstheoretisches und -geschichtliches Wissen vermittelt. Dies schult auch die Kommunikation mit den Patienten.

Sind elektrische Zahnbürsten besser als Handzahnbürsten? Wie sicher sind Implantatversorgungen? Für welche alternativmedizinische Behandlung gibt es wissenschaftliche Beweise? Ist Amalgam wirklich so giftig? Warum werden keine Fluoridtabletten mehr gegeben?

Fragen wie diese werden von Patienten häufig gestellt und sie erwarten eine kompetente Antwort. Die Universitätszahnklinik der Berliner Charité will ihre Studenten so ausbilden, dass sie auf wissenschaftlicher Basis begründete Antworten geben können. Wenn es um die praktisch klinische Tätigkeit geht, wird es noch viel schwieriger für die Studenten, denn der Fortschritt bringt stetige Veränderungen.

Paradigmenwechsel verläuft statisch

Es ist noch nicht so lange her, da wurden Studenten aus dem Kurs verwiesen, wenn die Unterfüllung in der Kavität nicht verhindert hat, dass etwas Ätzgel auf das Dentin gelangte – heute wird der gesamte Kavitätenboden in das „total etching“ einbezogen. Studenten müssen wissen, wie es der Pulpa dabei geht, und sie sollen verstehen, warum sich dieses Behandlungskonzept verändert hat. Ein weiteres Beispiel für einen tief greifenden Paradigmenwechsel ist die Gabe von Fluoridtabletten zur systemischen Kariesprophylaxe. Eine Vielzahl von wissenschaftlichen Studien und nicht wenige Dissertationen und Habilitationsschriften haben dazu geführt, dass Fluorid zu dem am meisten untersuchten Forschungsgegenstand wurde. Das Ergebnis ist aber ernüchternd, denn man muss heute erkennen, dass bei der Schmelzbildung die Wirkung der Fluoridgabe auf den Ameloblasten doch überschätzt wurde.

Wissenschaftlich argumentieren

Das Studium der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde findet an der Universität statt, weil es ein wissenschaftliches Studium mit weiter gehenden Bezügen zu anderen medizinischen und grundlagenwissenschaftlichen Fächern ist. Das zahnärztliche Handeln muss also auf der Grundlage wissenschaftlich fundierter Erkenntnisse erfolgen.

Wie in jedem praktischen medizinischen Fach kommt aber auch der Erfahrung des Behandlers, die er selbst in jahrelanger praktischer Tätigkeit gewonnen hat, eine große Bedeutung zu. Und in einem Ausbildungsbetrieb an der Universitätsklinik müssen – größtenteils noch immer in viel zu großen Gruppen – die Studenten zu praktischen Erfolgen am Patienten geführt werden. Dabei muss sich der Studierende dann aus praktischen Gründen oft auf bewährte „Lehrmeinungen“ verlassen können.

Die Studenten lernen also im Spannungsfeld zwischen diesen „eminenzbasierten“ und den „evidenzbasierten“ Handlungsanweisungen ihr praktisches zahnärztliches Handeln. Ziel ist dabei, dass die Studenten ihr praktisches Handeln am wissenschaftlich fundierten Erkenntnisfortschritt ausrichten.

Da sich dieser durchaus ändert, bedeutet dies auch, dass sich jeder praktisch tätige Kollege während seines gesamten Berufslebens stetig fortbildet. Wir wollen die Studenten aber auch in die Lage versetzen, das „Neue“ mit wissenschaftlich geschultem Blick hinterfragen und beurteilen zu können.

Aufbau des Kurses

Vor diesem Hintergrund wurde am Centrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde an der Berliner Charité im Jahr 2007 eine neue Ausbildungsveranstaltung eingeführt, die den etwas unglücklichen Namen „Wissenschaftsblock“ trägt. Der Name wurde von extern bestimmt und soll keinesfalls suggerieren, alle Veranstaltungen neben dem „Wissenschaftsblock“ seien unwissenschaftlich.

Nach einigen Semestern soll hier ein kurzer Erfahrungsbericht über die Inhalte und die Einschätzung durch die Studenten gegeben werden:

Die Veranstaltung wird im 4. Semester und im 9. Semester angeboten. Sie ist eine Pflichtveranstaltung der Fakultät, allerdings in der schon sehr veralteten Approbationsordnung nicht vorgeschrieben. Die Studenten finden sich in Gruppen zu acht Teilnehmern zusammen und widmen sich ihrem Thema, das sie sich aus dem gesamten Bereich der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde je nach Interessenlage meist selbst ausgesucht haben.

Nach einem „Impulsreferat“ werden einzelne Fragestellungen herausgearbeitet, die sich für eine tiefer gehende Recherche in der wissenschaftlichen Literatur eignen. Hierzu haben die einzelnen Gruppen meist zwei Wochen Zeit, in denen sie sich mit den Dozenten zu Beratungen – unter anderem auch nach der Methode des „problem based learning (PBL)“ – treffen. Dafür wurde in der Berliner Abteilung ein weiterer Seminarraum eingerichtet, in dem die Studenten auch an mehreren PCs ihren Literaturrecherchen nachgehen können. Ein Zugang zu den originalen Zeitschriften ist meist nur über das Campusnetz mit seinen Lizenzen möglich. Diese PCs wurden von der Quintessenz Verlags-GmbH gespendet. Nach der Recherchearbeit treffen alle Gruppen wieder im Hörsaal zusammen und stellen sich gegenseitig ihre Ergebnisse vor. In den anschließenden Diskussionen entstehen oft tiefer gehende Fragen, denen die Gruppen dann auf den Grund gehen. Schließlich stellen die Teilnehmer einzelne Studien zu der Ausgangsfrage vor, um sie kritisch zu bewerten.

Problemorientiertes Lernen

Durch dieses Prozedere wird den Studenten deutlich, wie wissenschaftliches Arbeiten funktioniert. Sie lernen, wissenschaftliche Publikationen danach zu beurteilen, welche Methode zur Klärung der Fragestellung eingesetzt wurde, ob sie geeignet sind und ob aus den gewonnenen Ergebnissen die richtigen Schlüsse gezogen wurden . Bei der Auswahl der Themen waren die Ausbilder positiv überrascht, wie groß das Gebiet der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde doch tatsächlich ist.

Einige Beispiele:Die Studenten wunderten sich über die doch recht kurzen Laufzeiten der Studien zur Beurteilung des Erfolgs von Implantatversorgungen. Neben den eher „klassischen“ Fragen zum Fluorid, zur Fissurenversiegelung und zu den Kompositen widmeten sich die Studenten auch dem Amalgam. Viele kennen es ja nur noch aus der inzwischen alten Literatur und wundern sich, dass es gar nicht so ungeeignet ist für bestimmte Füllungen. Es ging auch um die Notwendigkeit von Weisheitszahnextraktionen, um die Rolle des Lasers in der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, um tissue engineering – oder auch um Zusammenhänge zwischen allgemeinen Erkrankungen und der Kopf-, Mund- und Kieferregion.

Die Studenten interessierten sich auch für alternativmedizinische Ansätze und dafür, wie sich diese wissenschaftlich erfassen und beurteilen lassen. Andere Gruppen widmeten sich Fragen der Ästhetik, denn zahnärztliches Handeln ist zweifellos auch darauf ausgerichtet. „Wie entstehen die Wünsche im Wandel der Zeit und wie sind die Einflüsse unterschiedlicher Kulturen und Altersgruppen?“ Oder: „Wie kann der Arzt hierbei moderierend, verantwortungsbewusst und handlungssicher agieren?“ Und: „Woran orientiert er sich und gibt es wissenschaftlich unterlegte Bezüge?“

Auch waren die Studierenden an psychologischen Aspekten im Umgang mit dem Patienten stark interessiert. Sie erkannten, dass sie manchem Patienten hilflos gegenüberstehen, wenn sie deren Persönlichkeitsstruktur (und ihre eigene!) nicht wenigstens in Ansätzen erkennen können.

Bewertung des Ausbildungsansatzes

Diese Beispiele zeigen, dass auch die Dozenten von den Zahnmedizinstudenten sehr viel Neues gelernt haben. Allein die hohe Anzahl der Studierenden (derzeit sind es in einigen Semestern mehr als 90 Studenten auf 45 Studienplätzen!) sorgt für eine Vielzahl von gesammelten Fragen und zusammengetragenen Fakten, die es zu moderieren gilt.

Während die Studenten zu Beginn des Semesters oft nur Lehrbuchwissen referieren. da sie es möglicherweise nicht gewöhnt sind, über das reine Repetieren hinausgehend Fragen zu stellen, lernen Sie doch dann mit der Zeit , dass gerade das in diesen Lehrveranstaltungen erwünscht und notwendig ist. Erst im Laufe der Zeit treten ja Fragen, Ideen und Anregungen auf, ebenso wie die Fähigkeit, mit Originalarbeiten kritisch umzugehen.

Wenn die Studenten nur noch repetieren, was in den Curricula nahezu stunden- und wortweise festgelegt ist, kann sich ein Fach nicht entwickeln. Es braucht stattdessen die Möglichkeit, dass die Nachwuchswissenschaftler (und die Dozenten!) bei einer Fragestellung innehalten und diese tiefer verfolgen. Das verlangt Muße und auch Möglichkeiten, die ausgetretenen Pfade wenigstens zeitweise zu verlassen. Wenn aber Unternehmensberater suggerieren, dass ein Studium nur dann „effizient“ ist, wenn es schnell durchgezogen und beendet wird, dann zeigt dies, dass die Bedeutung des Wortes „Studium“ nicht erfasst wurde. Wenn diesen falschen Vorschlägen gefolgt wird, wird die Chance verspielt, das Fach der Zahnmedizin weiterzuentwickeln.

Studenten, die sich intensiver mit den Studien befassten, haben auch erkannt, dass die wissenschaftliche Wahrheit oft nur ein Spiegel der gegenwärtigen Wissenschaftsförderung und der Universitätsstruktur darstellt. Zeitschriften, die Gebühren für Druckseiten und für Farbabbildungen nehmen, bringen dafür allzu häufig nur kurz gefasste und aufgrund des kondensierten Schreibstils nur schwer lesbare Beiträge. Aufgrund der vielen geteilten Publikationen gibt es oft nur „Stückwerk“ und nur vereinzelt Langzeitstudien.

Kurs im vierten Semester gilt als optimal

Die Studenten können im 4. Semester mehr Ruhe und Zeit für eine intensive Teilnahme an diesen hier beschriebenen Veranstaltungen aufbringen. Im 9. Semester, so haben die Evaluationsbögen ergeben, nahm die Arbeit am Patienten und das nahende Staatsexamen einen so großen Raum ein, dass es nicht mehr primär wichtig ist, was dem zahnärztlichen Handeln wissenschaftlich zugrunde liegt. Stattdessen kommt es darauf an, dass die Behandlung überhaupt im Rahmen der festgelegten Bedingungen gelingt. Auch wenn sich diese curricularen Probleme nicht ad hoc lösen lassen werden, so bleibt doch zu hoffen, dass die Studenten erkannt haben, dass sie den Entwicklungen des Faches nur durch kontinuierliche Fortbildung und kritische Kenntnis der aktuellen Originalarbeiten verfolgen können. Ohne einen tiefergehenden Einblick in den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung ist dies aber nicht möglich.

Prof. Dr. Dr. Ralf Johannes RadlanskiDr. Herbert RenzProf. Dr. Wolf-Dieter MüllerCharité-Universitätsmedizin BerlinZentrum für Zahn-, Mund- und KieferheilkundeAßmannshauser Str. 4-614197 Berlinralfj.radlanski@charite.de

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.