Arzneimittelpolitik

Auf Biegen und Brechen

Die Gesundheitspolitik ist ein heißes Pflaster. Ein besonders hart umkämpftes Terrain bildet die Pharmabranche. Das legitime Wirtschaftsinteresse von Unternehmen steht den begrenzten Ressourcen einer arzneimitteltherapeutischen Versorgung von Millionen Versicherten gegenüber. Die zukünftige Arzneimittelpolitik der neuen Bundesregierung wird auch zwischen notwendiger Ausgabensteuerung und wirtschaftsfreundlicher Industrieförderung schwanken. Ein Balanceakt auf Biegen und Brechen.

Der Pharmalobby werden zuweilen mystisch verklärte Mächte zugeschrieben. Die Kräfte ihrer politischen Einflussnahme erscheinen gewaltig. Selbst die Formulierung ganzer Gesetzestextpassagen soll den Pharmakonzernen möglich sein. Ihre Fühler in die Ministerien von Bund und Ländern und in die politischen Entscheidungsgremien ähneln den Armen riesiger Kraken – so manche Vorstellung. Heerscharen von Anwälten würden von der Big Pharma finanziert, um auch noch so kleine Schlupflöcher des Gesundheitssystems zu orten mit nur einem Ziel: Gewinnmaximierung.

Dass die Pharmaindustrie in toto eher kritisch gesehen wird, ist kein Wunder. Die Pharmaunternehmen selbst bieten den Medien immer wieder die Gelegenheit, sie in einem „besonderen“ Licht zu zeichnen. Getriebene und profitgierige Pharmavertreter, die versuchen mit ihren dubiosen Wettbewerbsmethoden in den Arztpraxen dieser Republik die Umsätze der Firmen in die Höhe zu treiben, von Firmen vertuschte Arzneimittelstudien oder skandalöse Preisauswüchse bei alternativlosen Arzneitherapien stehen alle Monate im Mittelpunkt der investigativen TV-Formate. Die negative Prestige-Bilanz des Pharmalobbyisten lässt sich wohl nur noch durch die eines Interessenvertreters der Waffenindustrie toppen.

Kritisch beobachtet

Viele fragwürdige Verhaltensweisen der Firmen wurden in den letzten Jahren gesetzlich unterbunden. Auch einem selbst entwickelten Pharmakodex, der das Wettbewerbsgebaren zwischen den Herstellern regeln soll, fühlen sich die meisten Unternehmen mittlerweile verbunden. Doch ihr Politikstil und ihre Verkaufsmethoden werden gemeinhin weiter kritisch beobachtet. Der Ablasshandel, bei dem die Regierung Schröder 2001 auf Druck der Branche und wegen einer Einmalzahlung in Höhe von 400 Millionen DM auf einen geplanten Preisabschlag bei Medikamenten um vier Prozent verzichtete, ist noch in lebhafter Erinnerung. Jüngstes Beispiel ist die Schweinegrippe: Bei den Lieferverträgen mit dem Impfstoffhersteller GlaxoSmithKline sollen Bund und Länder kräftig über den Tisch gezogen worden sein. Zwar einigten sich beide Vertragspartner letztlich auf eine reduzierte Abnahmemenge der Impfseren, aber ein bitterer Geschmack bleibt.

Mythos der Macht bröckelt

Dennoch: Der Mythos der Macht bröckelt. Seit der Gesundheitsreform 2007 haben viele Unternehmen – gerade kleinere und mittlere Firmen, die 93 Prozent aller pharmazeutischen Unternehmen in Deutschland ausmachen – zu kämpfen. Die bei der Arzneimittelabgabe in der Apotheke vorrangigen Arzneimittelrabattverträge haben tiefe Spuren gerade bei den Generikaherstellern hinterlassen: Umsatzeinbußen, Personalabbau im Außendienst, Margenverfall. Marktverdrängung ist das Gespenst, das vielen Unternehmen den Schweiß auf die Stirn treibt und den Konzentrationsprozess der Branche weiter forciert. International aufgestellte Konzerne haben dabei flexiblere Möglichkeiten auf sich verändernde Marktsituationen zu reagieren als kleine Produzenten mit nur einem oder zwei Präparaten auf dem Markt. Die Big Pharma hat einen längeren Atem bei Rabattschlachten, kann auf andere Marktsegmente ausweichen oder Produktionsstandorte verlegen.

Immer wieder stehen die Arzneimittelpreise im Vordergrund der Debatte. Der Vorwurf: Die Arzneimittelindustrie diktiere den Krankenkassen ihre Preise – und besitze dabei Freiheitsgrade wie in keinem anderen europäischen Land. Fakt ist: In Deutschland ist jedes Arzneimittel nach seiner Zulassung erstattungsfähig, zu einem Preis, den die Industrie zu einem großen Teil bei der Markteinführung selbst bestimmt. Bei Originalpräparaten gilt deshalb Deutschland als europäisches Referenzland. Viele Länder, wie zum Beispiel Frankreich, mit rigideren Preisbildungssystemen warten also bei der Einführung neuer Pillen ab, wie hoch der Preis in Deutschland ist, und setzen ihren einfach mit einem 20-prozentigen Abschlag darunter fest. Den Krankenkassen in Deutschland ist dieser Umstand seit Langem ein Dorn im Auge – sie kämpfen für schärfere Instrumente schon bei der Zulassung von Medikamenten, um die Arzneimittelausgaben einzudämmen.

Gesetzlich geregelt

Doch wie setzt sich überhaupt der Preis für ein Arzneimittel zusammen? In Deutschland ist der Preis eines verschreibungspflichtigen Medikaments durch die Arzneimittelpreisverordnung gesetzlich geregelt. Für verschreibungspflichtige Arzneimittel erheben die Apotheken einen Aufschlag von drei Prozent des Einkaufspreises zuzüglich eines Festzuschlags von 8,10 Euro je Packung. Die gesetzlichen Krankenkassen erhalten übrigens Sonderkonditionen – statt der 8,10 Euro müssen sie lediglich 5,80 Euro als Fixaufschlag an die Apotheken zahlen. (Im Januar 2010 legte der GKV-Spitzenverband Widerspruch gegen einen Schiedsspruch ein, der vorsieht, den Kassenabschlag pro Packung zugunsten der Apotheken von 2,30 Euro auf 1,75 Euro zu senken.) Der Großhandel erhält prozentuale Aufschläge zur Vergütung der Beschaffung, Bevorratung und Verteilung von Arzneimitteln. Zum Schluss kommt auf diese verschiedenen Handelsstufen noch die Mehrwertsteuer. Der Apothekenverkaufspreis ist für alle verschreibungspflichtigen Fertigarzneimittel deutschlandweit einheitlich. In Europa erheben neben Deutschland nur noch Dänemark, Norwegen, Island und Bulgarien für alle Arzneimittel den vollen Mehrwertsteuersatz. Allein der volle Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel kostet die GKV jährlich 4,3 Milliarden Euro. Sie hatte 2007 aufgrund der Mehrwertsteuererhöhung rund 800 Millionen Euro höhere Arzneimittelausgaben.

Bei den Diskussionen um zu hohe Arzneimittelkosten wird häufig unterschlagen, dass der deutsche Staat also gehörig vom vollen Mehrwertsteuersatz auf Arzneimittel profitiert und sich deshalb vor allem die Haushaltspolitiker gegen einen ermäßigten Steuersatz für Arzneimittel wehren.

Vielfältige Preisregulierung

Vor der relativ simplen Preisbildungssystematik der beschriebenen Handelsstufen (Apothekenaufschläge, Großhandel, Mehrwertsteuer) greifen vielfältige staatliche und einzelvertragliche Preisregulierungen: Höchst- und Festbetragsvorgaben, gestaffelte Herstellerabschläge und Rabattverträge bestimmen den Herstellerabgabepreis auf den die Handelsstufen aufsetzen.

Ist der Patentschutz für ein innovatives Arzneimittel abgelaufen, können die Preise für ein Medikament fallen, da nun alle pharmazeutischen Hersteller die Möglichkeit haben, dieses zu kopieren. Da Generikahersteller einen Großteil der Investitionen (die Industrie spricht von bis zu 870 Millionen Euro) einsparen, die bei der Erforschung und Entwicklung eines Arzneimittels entstehen, können sie ihre Medikamente günstiger im Markt anbieten. Häufig gehören zu forschenden Pharmaunternehmen auch Teilkonzerne, die generische Nachfolger ihrer eigenen Originale vertreiben, zum Beispiel Novartis/Sandoz.

Zusätzlich ist der Arzneimittelmarkt durch die Aut-idem-Regelung, Richtgrößenvereinbarungen, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, den vollständigen Ausschluss bestimmter Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung oder Zuzahlungsbefreiungsgrenzen reguliert.

In Deutschland werden verschiedene Kategorien von Arzneimitteln unterschieden: verschreibungspflichtige, nicht-verschreibungspflichtige apothekenpflichtige und freiverkäufliche Medikamente der Selbstmedikation. Laut IMS Health lag der Gesamtumsatz für verschreibungspflichtige Arzneimittel für das Jahr 2008 bei 31,7 Milliarden Euro. Der Umsatz der verschreibungsfreien Arzneimittel betrug insgesamt 5,4 Milliarden Euro.

Hohe Summen

Es geht um hohe Summen. Allein der Anteil der Arzneimittelausgaben an den Gesamtausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung (160,76 Milliarden Euro) beläuft sich mit 29,23 Milliarden Euro auf 18,2 Prozent (2009). Nach aktuellen Prognosen sollen sich in diesem Jahr die Ausgaben von gesetzlicher und privater Krankenversicherung auf fast 200 Milliarden Euro hochschrauben – 174 Milliarden GKV-Ausgaben, 22 Milliarden PKV-Ausgaben. Hinzu kommen noch über 50 Milliarden Euro des sogenannten zweiten Gesundheitsmarkts mit allen privat finanzierten Produkten und Dienstleistungen. Das Spektrum reicht hier von frei verkäuflichen Arzneimitteln über Functional Food, wie zum Beispiel probiotischen Joghurt oder Nahrungsergänzungsmittel, bis hin zur Mitgliedschaft im Fitnessoder Gesundheitsstudio. Daran lässt sich erkennen, um welches Marktpotenzial die Pharmaunternehmen konkurrieren.

Die arzneipolitischen Ziele der Krankenkassen angesichts der Überalterung der Gesellschaft und des technischen Fortschritts sind klar: den Kostendruck auf die Hersteller erhöhen, die Vielzahl gleichwertiger aber unterschiedlich teurer Arzneimittel eindämmen und die Erstattung für therapeutisch vergleichbare Medikamente begrenzen. Neben den verschiedenen Kostendämpfungsmaßnahmen für Arzneimittel (Festbeträge, Rabattverträge oder Herstellerabschläge) setzen die Krankenkassen deshalb vor allem auf zwei Instrumente: die Zweitmeinung und die Kosten-Nutzen-Bewertung. Beide Verfahren zielen zuvorderst auf eine Kostensenkung durch eine restriktive Verordnung von Innovationen.

Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 ist für die Verordnung von bestimmten Arzneimitteln die Einholung einer Zweitmeinung bei einem fachlich besonders ausgewiesenen Arzt eingeführt worden. Spezialpräparate mit hohen Jahrestherapiekosten sowie Arzneimittel, bei denen erhebliche Risiken durch unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Interaktionen oder eine nicht indikationsgerechte Anwendung bestehen können, werden einem gesonderten Verordnungsverfahren unterzogen. Bei der Kosten-Nutzen-Bewertung werden neue Medikamente mit etablierten Therapien verglichen und wird festgestellt, ob ein eventueller Zusatznutzen einen höheren Preis (Höchstpreisfestlegung) rechtfertigt. Es versteht sich von selbst, dass die Pharmaunternehmen, die sich nicht generell gegen das Verfahren sperren, an der Entwicklung der Bewertungsmethoden hohes Interesse zeigen. Weil die Ergebnisse dieses Kosten-Nutzen-Vergleichs zukünftig über das Schicksal heute in der Entwicklung befindlicher Arzneien entscheiden. Bislang konnte sich jedoch das verantwortliche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) noch mit keiner anerkannten Methodik zur Kosten-Nutzen-Bewertung durchsetzen.

Neuausrichtung gefordert

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) forderte jüngst eine Neuausrichtung der Arzneimittelpolitik, die die Kassenärzte komplett aus der Preis- und Kostenverantwortung für Arzneimittel entlassen sollte. Die Regressgefahr, der sich Ärzte aussetzen, wenn sie ihr Arzneimittelbudget überschreiten sieht die KBV als Haupthinderungsgrund dafür, dass sich immer weniger Ärzte niederlassen. Sie sollen nun künftig nur noch Wirkstoff, Dosierung und Dauer der Arzneimitteltherapie verordnen. Der Apotheker wählt dann das Medikament für den Patienten aus. Gemeinsam mit den Apothekern will die KBV eine Positivliste verordnungsfähiger Wirkstoffe erstellen, die umfassender sein soll als kassenindividuelle Listen, die einzelne Krankenkassen für ihre Versicherten aufstellen. Nach Vorstellung der KBV läge eine Kostenkontrolle für Arzneimittel zukünftig allein bei den Kassen, die mit den Pharmafirmen über den Preis für die Medikamente verhandeln.

Das Instrument der Zweitmeinung und die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln werden wohl auch trotz eines liberal geführten Ministeriums und der neu zu besetzenden Leitung des IQWiG weiter für Unruhe sorgen. Zwar ist im Koalitionsvertrag eine Rückführung des mittlerweile erreichten sehr hohen Regulierungsgrades im Arzneimittelbereich mit einer Vielzahl von nebeneinander bestehenden und sich teilweise aufhebenden Steuerungsinstrumenten vorgesehen. Doch ist zu befürchten, dass auch diese Regierung ob der unterschiedlichen Interessenlagen von Politik, Krankenkassen, Leistungserbringern und Herstellern im Grunde straucheln wird. Nicht zuletzt der Versicherte und Patient will im Ernstfall auf die bestmögliche Arzneimittelversorgung zurückgreifen können. Das Nähen von Gesundheitsreformen mit weiteren Arzneisparpaketen wird also Bestand haben – das Biegen und Brechen auf der Kante des Möglichen weitergehen. Ein wenig Mehr an Transparenz und ein deutlich Weniger an Regulierung im Gesundheitssystem wäre jedoch für alle ein Gewinn.

Wolfgang StraßmeirStubenrauchstr. 17A12161 Berlin

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