Arzneimittelversorgung für Minderjährige

Lücken in der Kinderapotheke

pr
Noch immer mangelt es bei vielen Medikamenten an kindgerechten Darreichungsformen und Dosierungsempfehlungen. Denn es genügt nicht, die Erwachsenendosis von Arzneimitteln für Minderjährige herunterzurechnen. Die Ende Januar 2007 in Kraft getretene EU-Kinderarzneimittelverordnung, die Pharmaunternehmen Vorgaben zur klinischen Erprobung von Arzneiwirkstoffen für die pädiatrische Anwendung macht, soll hier Abhilfe schaffen. Die Studien und Zulassungen brauchen jedoch Zeit. Noch sind nicht allzu viele neue Medikamente für Kinder auf dem Markt.

Kinder sollen in gleicher Weise am medizinischen Fortschritt teilhaben wie Erwachsene. Das ist das Ziel einer europäischen Verordnung, die forschende Pharmaunternehmen seit gut drei Jahren dazu verpflichtet, innovative Produkte auch an Minderjährigen zu erproben. Damit will die Europäische Union zu mehr Arzneimittelsicherheit in der Pädiatrie beitragen. Immerhin sind über 20 Prozent der EU-Bevölkerung – das entspricht etwa 100 Millionen Bürgern – jünger als 16 Jahre.

Verschreibung nur im off-label-use

Bislang jedoch ist mehr als die Hälfte aller Arzneimittel nicht für Kinder zugelassen; bei Präparaten für die Behandlung neugeborener Intensivpatienten sind es sogar bis zu 90 Prozent. Ärzte können den kleinen Patienten die Mittel somit nur im sogenannten off-label-use verordnen. Grund hierfür ist, dass sich klinische Studien an Kindern für die Industrie oft nicht rechnen. Der Aufwand für die unterschiedlichen Altersgruppen ist enorm und die Zahl der Probanden oft gering.

„Eine Verabreichung von nicht an Kindern geprüften Medikamenten ist allerdings problematisch, da sich Dosis und Wirkung der Produkte bei Minderjährigen anders verhalten können als bei Erwachsenen“, so Professor Dr. Fred Zepp, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ). Das erhöhe die Gefahr von Über- und Unterdosierungen sowie von Nebenwirkungen.

Pädiatrische Studien gefordert

Um Minderjährigen künftig eine optimale Behandlung zu ermöglichen, trat im Januar 2007 die EU-Verordnung zu Kinderarzneimitteln in Kraft. Sie verlangt, dass forschende Pharmahersteller pädiatrische Studien vorlegen, wenn sie einen Wirkstoff neu zulassen oder die Indikation eines patentgeschützten Produkts ändern wollen.

Über die Anträge entscheidet ein Ausschuss bei der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA in London. Ihm gehören neben Mitarbeitern der EMA und der EU-Mitgliedsländer auch Fachärzte und Vertreter von Patientenorganisationen an. Ein um sechs Monate verlängerter Patentschutz für die jeweiligen Präparate soll den finanziellen Mehraufwand für die Entwicklung kompensieren.

Ausgenommen von der Regelung sind Generika, vergleichbare biologische Medikamente, homöopathische und traditionelle pflanzliche Präparate, Arzneimittel mit mindestens zehnjähriger medizinischer Verwendung in der EU sowie Medikamente, deren Anwendung bei Kindern nicht sinnvoll ist, wie Mittel gegen Alzheimer, Brustkrebs, Parkinson oder Wechseljahresbeschwerden.

Holt ein Unternehmen die Erprobung an Kindern für ein patentfreies Medikament jedoch freiwillig nach, darf es dieses zehn Jahre lang exklusiv für Minderjährige anbieten. Für einige klinische Studien, deren Marktexklusivität abgelaufen ist, erhält die Industrie ferner Zuschüsse aus dem Forschungshaushalt der EU.

Kein Paradigmenwechsel in Sicht

Die Verordnung hat bislang allerdings zu keinem Paradigmenwechsel in der Pädiatrie geführt. So ist nach Aussage von Dr. Thomas Sudhop, Leiter der Abteilung Wissenschaftlicher Service beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), die Zahl der klinischen Studien mit Kindern und Jugendlichen zwischen 2006 und 2009 weitgehend konstant geblieben.

Pro Jahr werden nach Angaben der DGKJ weiterhin nur etwa 25 Medikamente für Kinderindikationen zugelassen. Zepp rechnet frühestens ab 2013 damit, dass Kinder und Jugendliche tatsächlich von der EU-Verordnung profitieren werden und der off-labeluse bei der Behandlung von Minderjährigen mehr und mehr zur Ausnahme wird.

Bei der EMA sind gleichwohl in den letzten drei Jahren knapp 700 Anträge nach den neuen EU-Vorschriften eingegangen. „Bei 350 ist der Prüfplan für klinische Studien genehmigt worden“, so Dr. Birka Lehmann, Leiterin der pädiatrischen Abteilung beim BfArM. Er bildet die Voraussetzung für die klinischen Studien, von denen sich allerdings die meisten noch in der Planungsphase befinden.

Die Erwachsenen kommen zuerst

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (VFA) begründet dies damit, dass die Studien an Minderjährigen in der Regel erst beginnen, wenn für die betreffenden Medikamente die Zulassungsstudien mit Erwachsenen abgeschlossen sind. Der VFA geht allerdings davon aus, dass sich die Zahl der jährlichen pädiatrischen Zulassungen für neue Präparate aufgrund der EU-Verordnung in einigen Jahren verdreifachen wird. Zwei Drittel der bei der EMA eingegangenen Anträge betreffen patentgeschützte Arzneimittel, die noch ohne jede Zulassung sind. Weitere 31 Prozent gelten verschreibungspflichtigen Medikamenten, die bereits auf dem Markt sind, die nun aber für neue Anwendungsgebiete oder in neuen Darreichungsformen in der Pädiatrie erprobt werden sollen. Der Rest (etwa drei Prozent) entfällt auf patentfreie Arzneimittel. Hauptindikationsgebiete sind die Onkologie, die Allergologie, die Endokrinologie sowie Infektionskrankheiten und Herzkreislauferkrankungen.

Experten nicht genügend berücksichtigt

Deutsche Kinder- und Jugendmediziner kritisieren indes, dass der pädiatrische Sachverstand bisweilen nicht ausreichend berücksichtigt wird. So waren nach einer Umfrage der DGKJ vom vergangenen Jahr lediglich 19 von 380 pädiatrischen Kliniken an der Erstellung der Prüfpläne oder an Studien mit Minderjährigen beteiligt.

Zepp fordert, ein von der Politik, der Industrie und den Krankenkassen verlässlich getragenes, nationales Studien-Netzwerk einzurichten, um die Arzneimittelsicherheit für Kinder und Jugendliche in Deutschland und Europa dauerhaft und langfristig zu verbessern. Vorbild hierfür könnte das 2002 gegründete Paed-Net sein, das allerdings seit 2008 keine Fördergelder mehr vom Bundesforschungsministerium erhält. Andere europäische Länder, wie Frankreich, Großbritannien und die Niederlande seien hier derzeit besser aufgestellt, so Zepp.

Von einer professionellen Infrastruktur aus Forschung, Kinderkliniken und niedergelassenen Pädiatern erhoffen sich die Ärzte auch, Arzneimittelprüfungen für Kinder aller Altersklassen flächendeckend umsetzen zu können. Denn Säuglinge und Kleinkinder werden aus Sicht der DGKJ derzeit noch nicht ausreichend bei der Arzneimittelentwicklung berücksichtigt.

Professor Dr. Wolfgang Rascher von der DGKJ appelliert in diesem Zusammenhang an die Eltern, ihre Kinder auch an einer Studie teilnehmen zu lassen, um ausreichend Daten für die Sicherheit und Wirksamkeit von Arzneimitteln zu erhalten.

Petra SpielbergChristian-Gau-Str. 2450933 Köln

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.