Interdisziplinäre Aufgabe

Früherkennung und Behandlung orofazialer Dysfunktionen

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Orofaziale Dysfunktionen und ihre Auswirkungen im Mund- und Gesichtsbereich sind ganzheitlich zu betrachten. Die frühzeitige Erkennung und Behandlung ist eine interdisziplinäre Aufgabe, bei der die Zusammenarbeit von Zahnmedizinern mit Logopäden/Sprachtherapeuten eine besondere Rolle spielt. Hier eine übersichtliche Betrachtung.

Bei der Betreuung von Kindern mit orofazialen Dysfunktionen sollte der Zusammenhang mit der individuellen Persönlichkeit des Kindes hinsichtlich seiner allgemeinen Körperspannung, seiner Zahn- und Kieferentwicklung, seiner Artikulation und Ernährung immer Beachtung finden.

Erstkontakt mit Kindern

Das äußere Erscheinungsbild eines Kindes, seine Körperhaltung, der Händedruck und seine Aussprache geben bereits Aufschluss über einen möglichen unausgewogenen Gesamtkörpertonus, der sich parallel oft in einer hyper- oder hypotonen orofazialen Muskulatur wiederfindet. Bei der auffälligen offenen Mundhaltung, die gleichzeitig eine pathologische Zungenruhelage zur Folge hat, liegt eine statische Dysfunktion aufgrund allgemeiner Haltungsschwäche vor. Die Lippen sind in vielen Fällen kraftlos inkompetent, die Unterlippe ist häufig eingerollt und scheinbar wulstig.

Da bei offener Mundhaltung die regelrechte physiologische Zungenruhelage am Gaumen nicht eingenommen wird, kann beim Schlucken oder beim Sprechen Speichel in den Mundwinkeln sichtbar werden (Hypersalivation). Beim Sprechen ist die Zunge bei den s-Lauten oftmals sichtbar. Es liegt ein Sigmatismus interdentalis (Lispeln) vor.

Fragt man die Eltern dieser Kinder nach Auffälligkeiten im häuslichen Bereich, so ist

• von Ermahnungen die Rede, mit geschlossenen Lippen zu kauen, um Schmatzgeräusche zu vermeiden oder

• nicht nur weiche, süße Nahrung, sondern auch die Brotrinde zu essen, was anderenfalls auf eine „Kaufaulheit“ hinweist.

Darüber hinaus wird tagsüber von Haltungsfehlern mit rundem Rücken und nachts von Schnarchen berichtet. Diese anamnestischen und äußerlichen Hinweise sind Grund genug, um nach schädlichen Gewohnheiten zu fragen und das Kind auf orofaziale Dysfunktionen zu untersuchen.

Intraorale Funktionsdiagnostik

Bei offener Mundhaltung ist zu prüfen, ob gleichzeitig eine Mund- statt einer Nasenatmung vorliegt. Die Mundatmung führt zu häufigen Erkältungserkrankungen und zu Entzündungen im Nasen-Rachenraum. Dabei ist abzuklären, ob das Kind schlafbezogene Atmungsstörungen wie habituelles Schnarchen oder möglicherweise eine Schlafapnoe hat. In diesen Fällen ist die Konsultation eines HNO-Facharztes oder eines schlafmedizinisch orientierten Pädiaters angezeigt.

Sind Zahnfehlstellungen oder eine Rücklage erkennbar, ist gleichzeitig eine kieferorthopädische Untersuchung anzuraten.

Für Logopäden/Sprachtherapeuten sind die „dynamischen“ orofazialen Dysfunktionen der Zunge – das „viszerale Schluckmuster“ – von besonderem Interesse, das heißt, es liegt ein funktional irreguläres Bewegungsmuster der Zunge in der oralen Phase des Schluckaktes vor. Die Zungenspitze liegt beim Schlucken nicht an der Rugae, sondern an oder zwischen den Schneidezähnen. Die Folgen sind – durch die vielen bewussten und unbewussten Schluckvorgänge – frontal offene Bisse, die zu weiteren funktionellen Störungen führen.

Neben den aktiven Fehlfunktionen der Zunge ist auch die „pathologische Zungenruhelage“ [1] bei offener Mundhaltung zu beachten. Dabei liegt die Zunge ebenfalls nicht in korrekter Ruhelage an der Rugae des Gaumens, sondern ist nach dorsal kaudal abgewichen, liegt überwiegend nur an den Zähnen des Unterkiefers.

Gesamtkörperspannung und Haltungsschwäche

Die Folge: Durch das Ungleichgewicht zwischen Wangenmuskulatur und der oberen Zahnreihe entstehen ein- oder beidseitige Kreuzbisse und ein zu schmaler Oberkiefer.

Darüber hinaus kann die – durch die nach dorsal abgedrängte oder durch die Rücklage des Unterkiefers fehlerhafte – dorsale Zungenlage den hinteren oberen Rachenraum einengen, was zum Schnarchen oder sogar zur Schlafapnoe führen kann [2].

Zu den „dynamischen Dysfunktionen“ zählen auch alle Habits, die ebenfalls zu weiteren orofazialen Störungen führen können. Daher sollten Lutschgewohnheiten jeglicher Art spätestens im dritten Lebensjahr abgewöhnt werden – oftmals leichter gesagt als getan.

Auch hier sollten Zahnmediziner und Logopäden/Sprachtherapeuten gemeinsam tätig werden, da schädliche Gewohnheiten zu weiteren Dysfunktionen und zu Zahnfehlstellungen führen.

Unbestritten sind die Ursachen für orofaziale Dysfunktionen hyper- oder hypotone Muskelaktivitäten, denen man auf den Grund gehen sollte. Kinder mit Bewegungseinschränkungen im orofazialen Bereich haben häufig Schwierigkeiten Bewegungsabläufe des gesamten Körpers zu steuern [3]. Fehlende Körperspannung führt auch zu Energie- und Lustlosigkeit sowie zu fehlender Motivation.

Kinder mit orofazialen Störungen haben bei ihrer motorischen Entwicklung häufig keine oder nur eine kurze „Krabbelphase“. Die Phase des physiologischen Krabbelns ist jedoch wichtig, um Gelenke und Muskeln zu trainieren, die im Zusammenhang mit der orofazialen Muskulatur stehen.

Ein weiterer Meilenstein der motorischen Entwicklung ist der Ellbogen-Becken-Stütz. Wird er nicht erlangt, kann eine hypotone Grundspannung im orofazialen Bereich die Folge sein, die mit einer Vorverlagerung der Zunge, einem fehlenden Mundschluss und Hypersalivation einhergeht. Von Bedeutung für die orofazialen Funktionen ist auch die Nackenaufrichtung bei Neugeborenen. Sie entscheidet über die Trennung von Unterkiefer- und Zungenbewegung [3]. Findet diese Trennung nicht statt, bewegt sich der Unterkiefer bei Zungenbewegungen mit.

Eine hypotone Gesamtkörperspannung im Sinne einer ungünstigen Körperhaltung begünstigt zudem eine unphysiologische Atem- und Zwerchfellfunktion.

Offene Mundhaltung und Mundatmung

Eine offene Mundhaltung geht häufig mit der Mundatmung einher. Diese kann sich direkt schädlich auf die Frontzähne auswirken: Deren Oberflächen trocknen aus, was wiederum kariöse Defekte verursacht. Auch die Lippen können trocken, rissig und spröde werden, mit der Folge, dass ein ständiges Lippenlecken zu einem Habit mit Schädigung der Hautareale um den Mund herum führt.

Oft sind eine Verengung der Naseneingänge und ein unausgeformtes Nasenprofil zu beobachten. Dadurch entfällt das Anfeuchten, Erwärmen und Säubern der Atemluft. Eine gesteigerte Infektanfälligkeit ist die Folge. Auch Störungen der velaren und pharyngealen Motorik können durch Mundatmung ausgelöst werden. Durch die fehlende oder ungenügende Belüftung der Eustachischen Röhre entstehen Tubenfunktionsstörungen und Schleimhautansammlungen im Mittelohr [4]. Nachfolgend können geringgradige Schallleitungsschwerhörigkeiten auftreten [5].

Artikulationsstörungen

Orofaziale Dysfunktionen können zu Artikulationsstörungen führen:

• Sigmatismus (Fehlbildung der s-Laute)

• Multiple Interdentalität (interdentale Lautbildung von l, t, d, n)

• Lautersetzungen:sch wird zu sch1 wird zu ßk, g werden zu t, ddr, tr werden zu gr, kr

Die Artikulation kann verwaschen oder undeutlich klingen und der Stimmklang gestört sein.

Ernährung

Orofaziale Dysfunktionen können auch die Ernährungsart beeinflussen. Kinder bevorzugen oft weiche Nahrung oder sie „spülen“ die Nahrung unzureichend gekaut hinunter, so dass die Kaumuskulatur nicht oder kaum beansprucht wird.

Ursachen zur Entstehung von Dysfunktionen

Orofaziale Dysfunktionen sind multifaktoriell und nicht monokausal zu betrachten, da meist mehrere und nicht immer offensichtliche Ursachen zugrunde liegen:

• lange Flaschenernährung sowie Flasche als Einschlafhilfe oder zwischendurch (nur Stillen stärkt die Mundmuskulatur von Anfang an)

• Schnabel- und Sportlerflaschen (derartige Trinkgefäße ragen in den Mund hinein, die Zunge richtet sich gegen das in den Mundraum liegende Teil und liegt nicht am Gaumen)

• Habits, die sich unterteilen in- intraorale Habits (Daumen-, Finger- und Gegenstände lutschen, die Wangenschleimhaut an oder zwischen die Zahnreihen ziehen)- orale Habits (Lippenbeißen, an der Zunge saugen)- extraorale Habits (Kopf oder Kinn aufstützen) [6]

• häufige Infekte durch Mundatmung (vergrößerte Rachen- oder Gaumenmandeln)

• persistierende frühkindliche Reaktionen (Weiterbestehen von Reflexen [Reaktionen] über die physiologische Zeitspanne hinaus, wie Such-, Saug- und Schluckreflex)

• vererbte Konstitutionen sind nicht auszuschließen

• Nachahmung (wie Sprechstörungen oder offene Mundhaltung von Geschwistern oder Eltern)

Logopädie-Therapie von Dysfunktionen

Therapieziel ist, das orofaziale Muskelgleichgewicht herzustellen oder wiederherzustellen und unter Einbeziehung der Gesamtkörperspannung einen eutonen Muskeltonus (Wohlspannung) zu erreichen. Je länger falsche Bewegungsmuster bestehen bleiben und je älter das Kind ist, umso schwieriger wird die Umstellung. Das heißt: Bezogen auf den orofazialen Bereich sowie auf den gesamten Körper muss ein Kind neue Funktions- und Bewegungsmuster erlernen, damit die etablierten gespeicherten „unreifen“ Muster überschrieben werden können [7]. Eine Selbstregulation bei offener Mundhaltung und einhergehender unphysiologischer Zungenruhelage ist nicht zu erwarten.

Erst durch den Abbau des viszeralen Schluck musters kommt es ohne andere interdentale Zungendyskinesen und Habits zu einer schnellen sichtbaren Selbstausheilung dentoalveolärer Veränderungen [1].

Sprachtherapeutische Behandlungen zum Abbau der orofazialen Dysfunktionen – also zur Erlangung eines orofazialen Muskelgleichgewichts – richten sich in ihren Inhalten und in ihrem Therapieablauf nach den Bedürfnissen und dem Alter des Kindes.

Für Kinder ab zehn Jahren kann unter anderem die Myofunktionelle Therapie (MFT) nach Garliner [8] zur Herstellung und Stabilisierung einer Gesichtsmuskelbalance und zur Anbahnung des korrekten Schluckablaufs durchgeführt werden. Des Weiteren besteht die Möglichkeit Übungen zur neurophysiologischen Reorganisation nach Padovan [3], in die Therapie mit einzubeziehen.

Übungen zur Stärkung der Zungen- und Lippenmuskulatur, in Kombination mit Übungen zur Gesamtkörperspannung als „vorbeugende Kieferorthopädie“, können bei Kindern bis zu zehn Jahren spielerisch geübt werden. Dabei ist der Abbau von eventuell bestehenden Habits Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie.

Zur Erlangung eines orofazialen Muskel gleichgewichts bedarf es täglicher Übungen. Sie beinhalten die folgenden acht Übungsbereiche:

1. zur Gesamtkörperkoordination/Gesamtkörperspannung2.zur Mundraumwahrnehmung (Stereognosefähigkeit)3.zur korrekten Zungenruhelage4.zur Stärkung der Zungenmuskulatur5.zur Stärkung der Lippenmuskulatur6. zur Anregung der Nasenatmung7.zum Pusten und Blasen8.zum Saugen

Therapiebegleitend, effektiv und effizient ist bei vielen Patienten der Einsatz von zahn medizinisch-kieferorthopädischen Funktionsgeräten, wie dem „Stoppi“, dem „Infant-Trainer“ sowie dem „Position Trainer“. Denn nach der Geburt erworbene Dysfunktionen und Zahnfehlstellungen können durch prophylaktische Maßnahmen der Zahnärzte behoben werden.

Sie sind der wichtige Schlüssel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Logopäden/Sprachtherapeuten und Voraussetzung, um orofaziale Dysfunktionen – wie oben beschrieben – wirkungsvoll zu therapieren.

Der Entwöhnungssauger „Stoppi“ ist ein Ersatz für schädliche Lutschgegenstände mit grazilen Aufbissschienen – aber ohne den deformierenden Fremdkörper, der bei allen üblichen Saugern zwischen den Schneidezähnen liegt. Nach dem zweiten Lebensjahr lassen sich mithilfe des Entwöhnungssaugers Lutschgewohnheiten am Beruhigungssauger oder an der Dauernuckelflasche abbauen und so frühzeitig die Entstehung von Kieferanomalien verhindern (Abbildung 2).

Der „Infant-Trainer“ (Abbildung 3) kann ab dem vierten Lebensjahr ebenfalls im Milchgebiss eingesetzt werden. Mit seiner Hilfe können Lutschgewohnheiten abgebaut und bei vorliegender Mundatmung kann auf gesunde Nasenatmung umgestellt werden. Eingearbeitete Luftpolster sollen ein sanftes Training der Kiefer- und Gesichtsmuskulatur bewirken und der Zunge durch eine stimulierende Zungenlasche zu einer korrekten Lage in Ruheposition und beim Schlucken am vorderen Gaumenabschnitt verhelfen. Das Kind wird damit zum Kauen unter Einsatz der Kaumuskulatur angeregt.

Der „Position Trainer“ (Abbildung 4) ist im frühen Wechselgebiss für Kinder ab sechs Jahren indiziert. Er unterstützt ebenfalls die korrekte Zungenruhelage, führt zur Nasenatmung und fördert den Mundschluss. Der „Position Trainer“ hält den Zungen-, den Lippen- und den Wangendruck von den Zähnen und steuert den Zahndurchbruch bleibender Zähne.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen ist die Bedeutung der interdisziplinären Diagnostik und Behandlung von Kindern mit orofazialen Dysfunktionen deutlich geworden. Folglich müssen Vorsorgeuntersuchungen zur Zahngesundheit die kiefer orthopädische Befunderhebung und Analyse des funktionellen Status mit einschließen [1].

Die fachübergreifende Zusammenarbeit sollte

• Zahnmedizin/Kieferorthopädie• Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde• Orthopädie• Kinderheilkunde• Sprachtherapie• Physiotherapie und• Ernährungswissenschaft umfassen.

Interdisziplinäre Diagnostik/Behandlung und die damit einhergehende Kommunikation zwischen den Fachdisziplinen finden im Alltag häufig nicht statt. Zur Vereinfachung und Förderung der Kommunikation hat die Autorin gemeinsam mit der Zahnärztin Dr. Andrea Barth, Hannover, einen Kommunikationsbogen für Eltern zur Vorlage bei Ärzten oder Therapeuten entwickelt. Die jeweiligen Kommunikationspartner tragen die entsprechenden Befunde/Therapien ein und geben den Bogen an die Eltern zurück.

Ziel des Kommunikationsbogens ist es, einen schnellen Überblick über die Entwicklung des Kindes zu erhalten und zusätzlich einen Blick über die eigene Disziplin hinaus zu bekommen. Die Patienten können folglich allumfassend – unter Einbeziehung der gesamten persönlichen Entwicklung – behandelt werden. Erst damit ist eine effektive und effiziente Therapie möglich, die einigen Kindern einen „Leidensweg“ erspart und folglich zur Kostenreduzierung führt.

Überweisen an Logopäden und Sprachtherapeuten

Zur Erlangung eines orofazialen Muskelgleichgewichts können Zahnärzte und Kieferorthopäden Sprachtherapie zum Beispiel mit der Diagnose „Viszerales Schluckmuster“ und/oder „Störungen der Artikulation“ auf Muster 16 verordnen.

Fazit

Wichtig ist es, orofazialen Dysfunktionen bereits im Milchgebiss entgegenzuwirken, um den daraus resultierenden Dysgnathien und Sprechstörungen vorzubeugen oder sie zu reduzieren.

Will man der Forderung nach „präventions orientierter (Zahn-)Medizin“ gerecht werden, darf es nicht sein, dass orofaziale Dysfunktionen nicht behandelt werden, um einen richtlinienkonformen Behandlungsbedarfsgrad und damit die Kostenübernahme durch die Krankenkasse zu erreichen.

Zur Reduzierung späterer Kosten besteht hier dringender Handlungsbedarf sowohl der Krankenkassen als auch des Bundesausschusses: In den GKV-Leistungskatalog müssen mehr präventive Maßnahmen als bisher aufgenommen und die Einschränkung der Frühbehandlung muss aufgehoben werden.

Ulrike KoppAkademische SprachtherapeutinApprobierte Kinder- undJugendlichenpsychotherapeutinKaiserstr. 2931311 UetzeInfo@praxis-kopp.de

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