Gastkommentar

Das Ende der Tarifeinheit

Das am 23. Juni gefasste Urteil des Zehnten Senats des Bundes - arbeitgerichts zum Ende der Tarifeinheit hat weitreichende Folgen, auch für das Gesundheits - wesen, meint die Berliner gesundheitspolitische Fachjournalistin Dr. Jutta Visarius.

Kläger war ein Krankenhausarzt, der nach TVÖD-Abschluss einen zusätzlichen Urlaubstag im Oktober 2005 nach altem BAT mit der Begründung geltend machte, er sei Mitglied des Marburger Bundes. Der neue MB-Tarif trat erst am 1.8.2006 in Kraft. Das Gericht entschied, dass das beklagte Krankenhaus im Oktober 2005 sowohl an den TVÖD als auch an den alten BAT tarifgebunden war, damit für eine Tarifpluralität. Die Verdrängung eines geltenden Tarifvertrags durch einen anderen sei nicht mit Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes zu vereinbaren. Eine zwangsweise Auflösung der verfassungsrechtlich vorgesehen Tarifpluralität sei auch nicht mit Hinweis auf Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche zu rechtfertigen.

Damit bestätigt der Zehnte Senat entgegen früherer Rechtssprechung das Urteil des Vierten Senats des Bundesarbeitsgerichts. Die Tarifeinheit ist damit Vergangenheit.

Einheitsgewerkschaft und Tarifeinheit waren jahrzehntelang Garanten für wirtschaftliche Prosperität, ein Bollwerk gegen viele, lange und schädigende Streiks, wie in Italien oder in Frankreich. Selbst Gewerkschafter in diesen Ländern bewunderten den Weg der Einheit des deutschen Kooperationsmodells.

Tarifeinheit ist auch eine Frage der innerbetrieblichen Solidarität, dass keine Gruppe in einem Betrieb durch Tarifverträge besser gestellt wird als andere. Inzwischen sind Gesellschaft und Arbeitswelt pluraler geworden.

Das überkommene Solidaritäts- und Korporationsmodell der sozialen Marktwirtschaft wird immer häufiger in Frage gestellt und durch ein Wettbewerbsmodell ersetzt.

Im Krankenhaus wollen Ärzte einen eigenen Tarifvertrag, der ihren spezifischen Belangen, auch den finanziellen, Rechnung trägt. Dasselbe gilt zum Beispiel für Lokomotivführer und Piloten.

Die Tarifvielfalt ist für DGB und Arbeitgeber verständlicherweise ein Ärgernis, und schon bereiten DGB und BDA eine gemeinsame Gesetzesinitiative „Funktionsfähigkeit der Tarifautonomie sichern – Tarifeinheit sichern“ vor.

Ob die geforderte Gesetzesänderung mit dem Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes vereinbar ist, mag dahingestellt bleiben, auch, ob eine solche Änderung eine Mehrheit finden würde. Das Urteil hat aber darüber hinausreichende Bedeutung – auch auf den ambulanten Bereich.

Der Verweis auf den Artikel des Grundgesetzes, dessen Neuinterpretation, die Aufgabe der Einheit, ist auch ein Zeichen für Selektivverträge. Analogien, insbesondere mit Verankerung im Grundgesetz, haben hohe rechtliche Relevanz.

Einheit oder Pluralität? Wie die gesetzlichen Vorgaben aktuell auch sein mögen, das ist eine Grundsatzentscheidung, der sich Zahn- und Ärzteschaft stellen müssen und die nicht nach jeweiligen wirtschaftlichen Vorteilen mit unterschiedlichen Argumentationslinien erfolgen kann.

Das Urteil des Arbeitsgerichts sollte Anlass sein, erneut ernsthaft nachzudenken und zu diskutieren. Dabei sollten nicht nur Machtkalküle eine Rolle spielen. Abgesehen davon, wie der Gesetzgeber zum Paragraphen 73b entscheidet, müssen zwei Frage beantwortet werden:

Was hat Zukunft?

Wie gestaltet sich damit die Zukunft der jungen Ärzte und Zahnärzte?

Gastkommentare entsprechen nicht immer der Ansicht der Herausgeber.

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