Selbstmedikation

OTC als Wachstumsmarkt

Patienten legen auch bei rezeptfreien Medikamenten, den sogenannten Over-the-Counter-Präparaten (OTC) Wert auf die Beratung ihres Arztes. Die arztgestützte Selbstmedikation spielt eine immer stärkere Rolle. Doch immer noch wissen 20 Prozent der Patienten nicht, warum sie bestimmte Medikamente nur noch auf dem grünen Rezept bekommen.

Immer öfter kurieren Patienten leichte Erkrankungen mithilfe nicht verschreibungspflichtiger Medikamente. Gleichzeitig vermelden Ärzte und Apotheker einen gestiegenen Beratungsbedarf zur Wirksamkeit dieser Mittel. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Infas-Studie, die beim 47. Wirtschaftsforum des Deutschen Apothekervereins in Potsdam vorgestellt wurde. Häufigste Anlässe für den Medikamentenkauf sind Kopfschmerzen oder eine Erkältung. Als Infoquelle für das geeignete Präparat benannten 90 Prozent der Befragten eine ärztliche Empfehlung für eher wichtig bis sehr wichtig. Fast die Hälfte meinte allerdings, bei einer einfachen Akuterkrankung auf die Beratung in der Apotheke verzichten zu können.

„Das Segment der Selbstmedikation wird im Vergleich zum restlichen Arzneimittelmarkt künftig weiter an Bedeutung gewinnen“, bestätigt auch Dr. Frank Wartenberg vom Marktforschungsinstitut IMS Health. Besonders umsatzstark sind die Bereiche Tonika und Immunstimulanzen sowie Herz-Kreislauf-Mittel. Die entsprechenden Prä parate werden vor allem von älteren Menschen geordert, meist über Kataloge, weniger per Internet. Nach Ansicht des Marktforschers wird der demografische Wandel die Entwicklung des Selbstmedikations- und Selbstzahlermarkts weiter vorantreiben. Durch einerseits eine alternde Bevölkerung und andererseits zunehmende Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung und damit einhergehenden Leistungskürzungen werde mittelfristig der Weg für den zweiten und dritten Gesundheitsmarkt geebnet. Nach Erhebungen des Marktforschers spielt insbesondere die arztgestützte Medikation eine immer stärkere Rolle. Sie sei allein im vergangenen Jahr um zehn Prozent gewachsen. 2009 habe der Vertrieb von nicht-verschreibungspflichtigen (sogenannten OTC-Mitteln – Over the Counter) und freiverkäuflichen Arzneimitteln bereits ein Volumen von 3,6 Milliarden Euro gehabt. „Das Grüne Rezept hat sich offenbar durchgesetzt“, resümiert Wartenberg.

Eingeführt wurde das grüne Rezept von Ärzten, Apothekern und Arzneimittelherstellern als Reaktion auf die Neuregelung im Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG). Mit dem GMG hatte der Gesetzgeber 2004 rezeptfreie Medikamente von der Erstattungsfähigkeit in der GKV weitestgehend ausgeschlossen. Davon waren neben durchaus fragwürdigen Medikamenten auch therapeutisch sinnvolle Arzneimittel betroffen. „Auf dem Grünen Rezept können Ärzte nicht rezeptpflichtige Arzneimittel vermerken, die zwar nicht von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt werden, für die Behandlung des Patienten aber sinnvoll sind. Das grüne Rezept ist eine Merkhilfe für den Patienten und außerdem – und das ist für die Ärzteschaft besonders wichtig – ist es ein einfaches und effizientes Mittel, um eine Non-Compliance zu vermeiden“, erklärt Dr. Roland Stahl, Sprecher der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV). Für die Pharmaindustrie ist es hingegen in erster Linie ein Marketinginstrument.

Unmittelbar nach der Einführung des Gesetzes hatte der Deutsche Ärztetag 2004 die Politik aufgefordert, den Ausschluss von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten aus der Erstattung der GKV umgehend zu beenden. Das GMG mit dem Erstattungsausschluss sei ein willkürlicher Eingriff in die Therapiefreiheit der Ärzte. Zudem werde die Bezahlung dieser Medikamente für die Patienten eine zusätzliche Belastung, da diese Kosten nicht für die Bemessung der Zuzahlungsgrenze herangezogen würden.

Rund sechs Jahre später belegt eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts TNS-Healthcare, dass zumindest die Mehrheit der Hausärzte sich mit dem gesetzlichen Ausschluss aus der Erstattungsfähigkeit arrangiert hat. OTCMedikamente spielen insbesondere in den Hausarztpraxen immer noch eine wichtige Rolle. Fast jedes fünfte verordnete Arzneimittel müssen – oder wollen – Kassenpatienten mittlerweile selbst bezahlen.

Die Umfrage „Arzt und Selbstmedikation“ unter Allgemeinmedizinern und Internisten zeigt: Für 96 Prozent aller befragten Hausärzte sind apothekenpflichtige rezeptfreie Medikamente bei der Behandlung von leichten Beschwerden sinnvoll, allerdings glauben 65 Prozent der befragten Ärzte auch, dass rezeptfreie Arzneimittel bei der Behandlung von starken Gesundheitsstörungen nicht die Therapie der Wahl sein sollten. Um auf die zunehmende finanzielle Belastung ihrer Patienten Rücksicht zu nehmen, verordnen die Hausärzte bei durchschnittlich 14 Prozent aller Rezepte ein verschreibungspflichtiges Arzneimittel, selbst wenn für die Behandlung auch ein OTC-Arzneimittel zur Verfügung steht. Der Grund: Knapp zwei Drittel ihrer Patienten fragen nach, warum sie das Arzneimittel selber bezahlen müssen und kein normales Rezept bekommen. Um Diskussionen zu vermeiden, greift etwa ein Drittel der Ärzte in einer solchen Situation dann doch lieber zum rosafarbenen statt zum grünen Rezeptblock, jeder fünfte Arzt begründete sein Verordnungsverhalten mit der Angst, Patienten zu verlieren.

„Die Ergebnisse der Studie zeigen den hohen Stellenwert, den Ärzte und Patienten der Selbstmedikation einräumen. Dennoch greift der Arzt häufig zu verschreibungspflichtigen Medikamenten, um dem Patienten Kosten zu ersparen. Dies bestätigt unsere Annahme, dass oft nicht die medizinisch sinnvollste Arzneimitteltherapie zur Anwendung kommt, sondern wirtschaftliche Faktoren zum großen Teil die Therapieentscheidung des Arztes beeinflussen“, erklärt Manfred Kreisch vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI), der die Studie in Auftrag gegeben hat.

Aktuelle Zahlen darüber, ob die Patienten die auf dem Rezept empfohlenen Medikamente auch wirklich in der Apotheke kaufen, liegen nicht vor. Doch nach Angaben der befragten Ärzte akzeptieren die meisten Patienten die Ausstellung des grünen Rezepts oder eines Privatrezepts für ein nicht verschreibungspflichtiges Medikament. Dies ist nach der Untersuchung vor allem dann der Fall, wenn Ärzte mit ihren Patienten über Selbstmedikation und die Hintergründe des grünen Rezepts sprechen – denn immerhin jeder fünfte Patient kennt das grüne Rezept nicht oder weiß nicht, was es bedeutet. Hier ist wohl auch in den kommenden Jahren noch so manches aufklärende Gespräch in der Arztpraxis notwendig.

Otmar MüllerGesundheitspolitischer Fachjournalistmail@otmar-mueller.de

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