Differentialdiagnostik ungewöhnlicher Hautläsionen

Selbstverletzung im Gesicht

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Eine 72-jährige Patientin stellte sich mit einem ausgeprägten Hämatom und mit einem superinfizierten Zweieurostück-großen Defekt im Bereich der rechten Wange vor. Klinisch zeigten sich multiple Kratzspuren und Wunden im gesamten Gesicht in unterschiedlich fortgeschrittenen Heilungsstadien, teils superinfiziert, teils bereits vernarbt (Abbildungen 1a und 1b).

Anamnestisch berichtete die Patientin über ein plötzliches Auftreten einer Schwellung an der rechten Wange. Dieses Phänomen stehe im Zusammenhang mit einer seit etwa 16 Jahren bestehenden Hauterkrankung unklarer Genese. Aufgrund dieser Hauterkrankung sei die Patientin mehrfach in stationärer dermatologischer Behandlung gewesen, ohne dass eine Ursache habe gefunden werden können. Auch einer augenärztlichen Operation hatte sich die Patientin aufgrund der narbig verzogenen Augenlider bereits unterziehen müssen.

Bei Palpation des Hämatoms entleerte sich schwallartig Blut aus der Defektzone. Es zeigte sich eine spritzende arterielle Blutung, die sich durch Kompression nicht stillen ließ. Es erfolgte daher in lokaler Anästhesie die Ausräumung des umgebenden Koagels und die Unterbindung des arteriellen Gefäßes, bei dem es sich um einen Ast der Arteria facialis handelte.

Bereits zuvor war die Patientin aufgrund ähnlicher Verletzungen unklarer Genese vorstellig gewesen. Auch diese Verletzungen mussten bereits operativ versorgt werden. Es handelte sich um eine Blutung aus der Arteria temporalis links, eine offene Wunde an der linken Wange mit arterieller Blutung und einen Substanzdefekt des rechten Kieferwinkels.

Bei den früheren Ereignissen gab die Patientin als Ursache beispielsweise den Wechsel eines Verbands zur Behandlung der „unklaren Hauterkrankung“ an. Unter eingehender Befragung räumte die Patientin dann aber die Manipulation der Gesichtshaut durch Kratzen mit den Fingernägeln ein, dies tue sie jedoch nur aufgrund eines ausgeprägten Juckreizes, den sie auf die oben erwähnte Hauterkrankung zurückführe. in weiteren Gesprächen erkundigte sich die Patientin nach möglichen Parasiten als Ursache der Hauterkrankung und sprach die Existenz von „Wanderwürmern“ unter der Haut an.

Das klinisches Erscheinungsbild multipler Artefakte und die Angaben der Patientin zu einer vermuteten Parasitose führten zu der Verdachtsdiagnose eines Dermatozoenwahns und damit zur Weiterleitung der Patientin in die psychiatrische Klinik.

Diskussion

Obwohl die hier dargestellte Form sicher eine seltene Variante darstellt, ist selbstverletzendes Verhalten grundsätzlich ein häufiges Phänomen. Am häufigsten wird selbstverletzendes Verhalten in der Adoleszenz beobachtet, in Deutschland wird hierzu bei 14-Jährigen eine Häufigkeit von elf Prozent regelmäßiger absichtlicher Verletzungen angegeben. Besonders typisch sind unterschiedliche Formen der Selbstverletzungen bei psychischen Erkrankungen wie den Borderline-Persönlichkeitsstörungen. Verletzungen kommen aber auch bei psychisch primär gesunden Personen vor, beispielsweise zur Vortäuschung einer Straftat oder zum Versicherungsbetrug [Zinka und Rauch, 2007].

Die Grenzbereiche zwischen Normvarianten und Verhaltensstörungen, wie Nägelkauen oder auch exzessive Sportausübung, sind schwer zu definieren. In der Zahnheilkunde ist hier vor allem die Problematik des Wangen- oder Lippenbeißens (Abbildung 2) typisch.

Neben den klassischen „direkten“ Selbstverletzungen (Abbildung 3) – typischerweise durch Kratzen, Ritzen, Schneiden oder Verbrennungen – haben in der medizinischen und zahnmedizinischen Betreuung auch „indirekte“ Selbstverletzungen Bedeutung. Hierbei handelt es sich um die Herbeiführung invasiver ärztlicher beziehungsweise zahnärztlicher Maßnahmen durch die Vortäuschung von Symptomen. Dieses „sich selbst krank machen“ kann sich sowohl auf die eigene Person als auch auf andere beziehen, betroffen sind hier vor allem Kinder, durch deren Verletzung medizinische Betreuung (Zuwendung) induziert wird.

Der Dermatozoenwahn ist demgegenüber eine seltene psychiatrische Erkrankung. Die betroffenen Patienten empfinden taktile Halluzinationen und sind bei dieser Psychose unabwendbar davon überzeugt, von Parasiten befallen zu sein. Bereits 1938 beschrieb Ekbom die Phänomenologie des Dermatozoenwahns bei sieben seiner eigenen Patienten nebst 15 weiteren Fällen [Ekbom, 1938]. Im Bemühen die vermeintlichen Parasiten zu entfernen, verletzen die Patienten ihre Haut mechanisch – wie im vorliegenden Fall unsere Patientin – oder tragen schädigende Substanzen auf ihre Haut auf [Wilson und Uslan, 2004]. Darüber hinaus werden oft umfangreiche obsessive Aktivitäten zur Bekämpfung der Parasiten unternommen, die exzessive Reinigung von Kleidung, Bettwäsche, Haushaltsgeräten und Sanitärbereichen, eine Raumdesinfektion mit Pestiziden, aber auch das Verbrennen von Mobiliar und Gebäuden geschehen in dem Bestreben, die vermeintlichen Parasiten zu vernichten und eine Re-Infektion zu verhindern [Hinkle, 2009].

Der Dermatozoenwahn betrifft überwiegend ältere Patienten der siebten und der achten Lebensdekade und in der Patientengruppe dominiert das weibliche Geschlecht. Eine Verschleppung der Diagnose ist typisch, da die Patienten im Zuge der „Parasitenbekämpfung“ häufig eine lange Folge von Kontakten durchlaufen (Kammerjäger, Gesundheitsamt, Hausarzt, Hautarzt), bevor die psychiatrische Diagnose gestellt wird [Hinkle, 2009].

Die Behandlung erfordert zunächst den Ausschluss einer allgemeinen Erkrankung und anderer Ursachen für die Hautveränderung. Die Primärtherapie der Wahl verwendet Pimozide [Lee, 2008]. Manche Patienten sprechen aber auch gut auf atypische Neuroleptika wie Risperidon an.

Dr. Dr. Kathrin SteinProf. Dr. Dr. Martin KunkelKlinik für Mund-, Kiefer- undplastische GesichtschirurgieRuhr-Universität BochumKnappschaftskrankenhausBochum-LangendreerIn der Schornau 23-2544892 Bochumkathrin.stein@ruhr-uni-bochum.demartin.kunkel@ruhr-uni-bochum.de

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