Kongress — Zahnmedizin interdisziplinär

Risiken erkennen, richtig entscheiden

Egbert Maibach-Nagel
„Nichts geschieht ohne Risiko – aber ohne Risiko geschieht auch nichts.“ Dieses Ex-Bundespräsident Walter Scheel zugeschriebene Bonmot passt zur Zahnmedizin. In der Praxis entscheidet der professionelle Umgang mit Risiken über Erfolg oder Misserfolg. Patentrezepte gibt es – abgesehen von Leitlinien als Handlungskorridore – in der Zahnmedizin keine. Die Fachwelt ist trotzdem überzeugt: „Risikoerkennung und Risikomanagement“ lassen sich schulen. Der wissenschaftliche Kongress des Deutschen Zahnärztetages 2011 (11./12. November in Frankfurt) steht unter diesem Generalthema.

Tausende von Entscheidungen trifft jeder Mensch täglich – die meisten erfolgen unbewusst, eigene wie fremde Erfahrungen nutzend, umfängliche Sachverhalte bewusst vereinfachend. Ein psychologischer Vorgang, der sicherlich dazu beigetragen hat, die Menschheit von den Bäumen und aus den Höhlen der Frühwelt in die heutige Zivilisation zu holen. Getroffen werden Entscheidungen zu großen Teilen intuitiv. Die daraus resultierenden Handlungen sind Ergebnis komplexer Prozesse. „Viele Entscheidungen werden gar nicht bewusst getroffen“, erläutert Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin, diesen existenziell wichtigen Ablauf für unser Alltagsleben: „Man macht das sozial, man versucht, andere zu imitieren. Man versucht aber auch, Entscheidungen hinauszuschieben.“

Gigerenzer hat 2009 das Harding Zentrum für Risikokompetenz gegründet. Der Psychologe berät Unternehmen, Organisationen und staatliche Institutionen, um erforderliche Entscheidungsprozesse zu strukturieren. Er will – wie er es bezeichnet – zur Kompetenz befähigen.

Seiner Meinung nach tut sich unsere Gesellschaft – vom jeweils Betroffenen bis hin zur höchsten Entscheiderebene – generell schwer, strukturierte Entscheidungen zu treffen: „Risikomanagement müsste an den universitären Lehrstühlen gelehrt werden“, fordert der Wissenschaftler deshalb und verdeutlicht – unter anderem auch in seinem Einführungsvortrag auf dem diesjährigen Zahnärztetag – immer wieder, wie man den Umgang mit der „Erlebniswelt Risiko“ optimieren kann.

Was Gigerenzer zur Risikoforschung vermittelt und als Handlungsansatz anrät, erinnert an den Klettersport: Die Techniken sind erlernbar, in der Berufspraxis entscheiden aber – wie am Berg – Erfahrung und Intuition. Die „Intelligenz des Unbewussten“ weist den Weg, während Regeln und Leitlinien wie Seil und Karabinerhaken für zusätzliche Sicherheit sorgen. Für denjenigen, der beruflich folgenschwere Entscheidungen zu treffen hat, ist das Durchschauen dieser ineinandergreifenden Mechanismen hilfreich. Zum Beispiel in der Zahnmedizin: Hier lässt die meist gegebene Individualität der Behandlungsfälle unterschiedliche Therapieentscheidungen zu. „Erkennen, Bewerten, Handeln“ – so das Motto des Wissenschaftlichen Kongresses zum Deutschen Zahnärztetag – bildet deshalb den Fokus, unter dem die zahnmedizinischen Fachbereiche sich in Frankfurt der Diskussion stellen.

Denn eigentlich gehört das Managen von Risiken „zu jeder Therapiestufe“ des Zahnarztes. So urteilte beispielsweise Prof. Dr. Wilfried Wagner, Mainz, im November 2010 auf dem 24. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Implantologie in Hamburg: Bei der Indikationsstellung geht es um Risikoreduzierung, bei der Diagnostik um Risikoerkennung. Planung und Vorbereitung, aber auch die sorgfältige Durchführung der Behandlung dienen der Vermeidung von Risiken. Kommt es zu Komplikationen, setzt der Mainzer Fachmann Wagner übrigens auf sofortiges Handeln, um später schwieriger zu behebenden Folgeschäden vorzubeugen.

Mit dem Bauch entscheiden

Propagiert wird also eine Handlungsweise, die auf Erfahrungswerten aus der Praxis beruht und sich mit der Einschätzung vieler zahnärztlicher Kollegen deckt: „Der gute Zahnmediziner ist der, der es schafft, das, was er weiß, mit dem zu verbinden, was er spontan empfindet“, bekräftigt DGZMKPräsident Prof. Dr. Henning Schliephake Wagners Auffassung und stützt damit gleichzeitig die Aufforderung des Psychologen Gigerenzer an die Fachwelt, sich bei ihren Entscheidungen ruhig auch auf Intuition, auf das richtige „Bauchgefühl“ zu verlassen. Bei aller Evidenz, die zur Verfügung steht, sei es wichtig, auch die eigene Erfahrung als Kontrollinstanz in die Entscheidungsfindung einzubinden.

Auch wenn sich das in der Regel nicht dokumentieren lasse, spreche das kaum gegen den Erfolg dieses Handlungsansatzes: „Eine gute Bauchentscheidung kann man in der Expertise nicht begründen. Man lernt bestimmte Dinge, die die Entscheidungen außerhalb des Bewußtseins mit beeinflussen“, erläutert Gigerenzer den Grund, warum man einer fachlich fundierten, aber eher gefühlten Entscheidungsfindung durchaus folgen kann.

Es ist also ein Erfolgsmodell. Aber können sich auch die Patienten diesem Weg anvertrauen? Prinzipiell ja, die Voraussetzungen sind auch im modernen zahnmedizinischen Umfeld nach wie vor gegeben. Schliephake: „Die Kolleginnen und Kollegen in der Praxis sind durchaus fähig, die richtige Entscheidung zu treffen und ihrer Arbeit gut nachzukommen – trotz der Vielfalt der Informationen, trotz der vielen technischen Neuerungen.“

Die Kenntnis des Zahnarztes „in der Breite ist sehr gut“, so die Einschätzung des DGZMK-Präsidenten über seine Kollegen, die er nur in einem Bereich relativiert: „Was zahnmedizinische High-End-Versorgung betrifft, da streiten sich ja auch Wissenschaftler, wie valide das jeweils für eine Therapieentscheidung ist.“ Da tue „der Allgemeinzahnarzt auch gut daran abzuwarten, was in der Wissenschaft ausgefochten wird“.

Soviel zum Zahnmediziner selbst. Aber was ist mit den heilsuchenden Laien? „Die sind oft überfordert, weil sie die Informationen, die man hat, nicht transparent überliefert bekommen“, moniert der Max-Planck-Forscher Gigerenzer mit Blick auf das Gesamtgeschehen im Gesundheitswesen. Ergo reklamiert er – zusammen mit einer internationalen Gruppe von Wissenschaftlern aus Medizin, Psychologie, Wirtschaft, Gesundheits-, Versicherungswesen und Industrie, die 2009 auf dem interdisziplinären Forschungstreffen des Ernst-Strüngmann-Forums Maßnahmen zur Verbesserung für Gesundheitskompetenz und Gesundheitsversorgung diskutiert haben – die Befähigung von Patienten, Ärzten und auch Journalisten, sich kompetenter mit gesundheitsrelevanten Informationen zu versorgen.

Bessere Doktoren ...

Bildung im Sinne eines umfassenden, aber verständlichen Wissens für alle Beteiligten ist die Lösung, die die interdisziplinäre Fachwelt vorschlägt: „Bessere Doktoren, bessere Patienten und bessere Entscheidungen“, so der Titel eines von Gigerenzer und anderen anlässlich des Ernst-Strüngmann-Forums 2009 herausgegebenen Kompendiums, seien über profunde Bildung und transparente Informationsvermittlung erzielbar. Besser geschulte Fachjournalisten, besser geschulte Ärzte und besser informierte Patienten können massiv dazu beitragen, die Erfolge medizinischer Versorgung zu steigern. Die dafür einzusetzenden Maßnahmen reichen von der schon bei Kindern zu startenden Erziehung, wissenschaftliche Informationen richtig zu hinterfragen, zu verstehen und natürlich auch verständlich erklärt zu bekommen bis hin zur sinnvollen Nutzung moderner Informationsmedien wie dem Internet oder anderen entsprechend informativen Datenarchiven.

Eine umfassende „Demokratisierung“ der gesellschaftlichen Entscheidungsprozesse im Gesundheitswesen durch Schaffung von Kompetenz ist das Rezept, das die Wissenchaftler der Politik vorschlagen. Gigerenzer: „Bildung auf allen Ebenen ist nicht alles, aber eine wesentliche Komponente für die Genesung des Gesundheitswesens.“

Auch die dazu gehörigen Ziele haben die Wissenschaftler bereits definiert: „Dazu gehört eine ehrliche Informationspolitik – von den Top-Zeitschriften bis zu den Fachmedien und Broschüren. Dazu gehört auch eine Forschung, die mehr für den Patienten da ist. Und dazu gehört eine bessere Ausbildung der Ärzte für den Umgang mit Regeln und Unsicherheiten. Man braucht Anreizstrukturen, wo die Ärzte nicht mehr so viel Interessenkonflikte haben. Man muss Wege finden, wo man Ärzten eine gute Bezahlung gewährt, wenn sie Entscheidungen treffen, die nur den Patienten nutzen.“

... bessere Patienten

Das ist deutliche Kritik an den Verantwortlichen des derzeitigen Gesundheitssystems, die sich auf die aktuelle Forschungslage beruft. Die Wissenschaft hat jedenfalls die Erkenntniswelt in den Bereichen Entscheidungsfindung, Risikovorsorge und -management zwecks Optimierung von Prozessabläufen in den letzten Jahren massiv angereichert und ist seit geraumer Zeit damit befasst, sie für den Gebrauch – ob im systemischen Denken oder zur Alltagsbewältigung – zu adaptieren.

So ist Risikoforschung, das Entwickeln von Systemen zur Risikoerkennung und -bewältigung inzwischen fester Bestandteil im Prozessmanagement von Staaten, Unternehmen und Organisationen. Gemessen an der Nachfrage ist es ein funktionables Erfolgsmodell.

Aber gilt das auch für den Bereich der Zahnmedizin? Die steckt angesichts fortschreitender Forschung und Entwicklung, aber auch wegen wachsender Anforderungen an Qualität und Sicherheit medizinischen Handelns mehr denn je in der Situation, nachvollziehbare, transparente sowie gemeinsam mit den Patienten erarbeitete Entscheidungen umzusetzen. Weitere Regulierung durch Kommissionen, Ausschüsse oder Behörden ist hier, da geht der Bildungsforscher Gigerenzer mit der Zahnärzteschaft durchaus konform, wenig hilfreich: „Wissenschaft war kaum je so reguliert wie heute.“ „Regulierungen, beispielsweise die durch solche Instanzen wie den Gemeinsamen Bundesausschuss, sind für begleitendes Risikomanagement nicht unbedingt förderlich“, meint auch DGZMKPräsident Schliephake. Aber wahrscheinlich sei das „die Krux der kommenden Jahre: die Versuche, hier leitend einzugreifen und zu regulieren“. Schliephake dementiert nicht die Notwendigkeit von Rahmenbedingungen, gibt aber zu bedenken, dass gerade diese oft nicht von medizinischer Notwendigkeiten geleitet seien.

Dennoch sind sie für den Auftrag des Zahnarztes ausschlaggebend. Deshalb seien andere Orientierungshilfen viel Erfolg versprechender. Zum Beispiel der partizipativ herbeigeführte Therapieansatz mit den mündigen, vorab „gebildeten“ Patienten. „Mir ist der Patient lieb, der sich informiert hat, den ich darüber aufklären kann, was von seinem Vorwissen richtig und was falsch ist“, beschreibt Schliephake das Wesen des partizipativen Ansatzes: „Der Behandler muss ja den Patienten zu einer befundadäquaten Entscheidung führen.“ Hierzu gehört nach Einschätzugn des Wissenschaftlers selbstverständlich größtmögliche Sachkenntnis.

Das ist eins der Motive, warum der Psychologe Gigerenzer die Menschen befähigen will, in diesen Dingen „besser“zu werden. Er ist überzeugt, dass die Herausforderungen, die das Gesundheitswesen in den kommenden Jahren stellen wird, sich mithilfe einer forcierten Gesundheits-„Bildung“ weitaus besser bewältigen lassen. Mangelndes Wissen, nicht mangelndes Geld ist in den Augen des Bildungsforschers das größere Manko unserer Gesundheitssysteme. Ein klares Plädoyer für lebenslanges Lernen und konstruktive Fort- und Weiterbildung.

Über den Tellerrand

Die Zahnmediziner selbst haben sich nach Auffassung von DGZMK-Präsident Schliephake auch in den vergangenen Jahren an diese Maxime gehalten: „In der Zahnmedizin wird gelesen und das Wissenslevel auch gehalten. Dabei erweisen sich gerade in der Praxis Übersichtsarbeiten oder Metaanalysen als wertvoller als die ebenfalls rezipierten einzelnen Arbeiten.“ Der DGZMKPräsident weist auch darauf hin, dass im Bereich der Zahnmedizin die Fortbildung nicht in den Händen der Industrie liegt, sondern gerade auch in denen der eigenen Standesorgansationen.

Deutschlands Zahnmediziner, so wird auch hier bestätigt, brauchen weder Organisationshilfe noch externe Kontrolle, wenn es um die fachliche Fort- und Weiterbildung geht. Alles Themen, die auch auf dem Deutschen Zahnärztetag umgesetzt werden, betont DGZMK-Präsident Schliephake: „Das Kongressprogramm wird auch den Blick über den fachlichen Tellerrand hinaus bieten. Prof. Gigerenzer wird eine Rahmendefinition treffen. Aber es gibt darüber hinaus in der Zahnmedizin durchaus viele spezifische Handlungsrezepte. Denn Zahnmedizin ist auch Erfahrungswissenschaft, die ja gerade auch individuell geprägt ist.“

Trotz gegebener Evidenz sei vieles in der täglichen Praxis ein Gemisch aus Erlerntem, Erfahrung und Intuition, eben nicht nur reine Tatsachenentscheidung. Wenn jemand beispielsweise komplexe Fälle vernünftig löse, dann sei das mehr als evidenzbasiertes Handeln. Schliephake: „Die Fähigkeit zu modulieren, die eigenen Erfahrungen einfließen zu lassen, das macht letztendlich den guten Arzt aus.“

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