Das soziale Engagement Karl August Lingners

Wohltäter mit Eigeninteressen

Heftarchiv Gesellschaft
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Dresden feiert 2011 das Lingner-Jahr: Der 150. Geburtstag von Karl August Lingner, der 100. Jahrestag der ersten Hygieneausstellung und die Firmengründung der Sächsischen Serumwerke sind Anlass für zahlreiche Veranstaltungen. Der Unternehmer Lingner ist auch heute noch zuallererst durch die Weltmarke „Odol“ bekannt. Aber nicht nur der unternehmerische Erfolg ist bei dem Dresdener Industriellen interessant. Ebenso spannend ist sein sozialmedi-zinisches Engagement im Bereich der Hygiene für breite Bevölkerungsschichten. Doch das war nicht immer uneigennützig, wie ein Blick in die Geschichte zeigt.

Am Ende des 19. Jahrhunderts war die Bakteriologie durch Mediziner wie Louis Pasteurs (1822 – 1895) oder Robert Koch (1843 – 1910) stark in der Diskussion. Die Notwendigkeit von effektiver Hygiene trat in den Fokus der Öffentlichkeit. Nach wie vor waren Infektionskrankheiten ein Problem, das breite Bevölkerungsschichten betraf. Das viel beachtete Werk „Die Mikroorganismen der Mundhöhle“ von Willoughby Dayton Miller (1853 – 1907) war im Jahr 1889 erschienen.

In dem Kontext nahe liegend war, dass der Dresdner Unternehmer Karl August Lingner (21.12.1861 in Magdeburg – 5.6.1916 in Berlin) ein Antiseptikum für die Mundhöhle herstellen wollte. 1893 kam das Produkt „Odol“ auf den Markt und wurde schnell zu einem großen Erfolg [siehe zm 9/1993, S. 64-65].

Charakteristisch für den Industriellen Lingner war, dass er sich nicht auf seinen unternehmerischen Lorbeeren ausruhte, sondern vielfaches Engagement im Bereich der Sozialhygiene zeigte. [Der Begriff „Sozialhygiene“ wurde von dem Mediziner Alfred Grotjahn 1904 im Rahmen eines Konzepts für öffentliche Gesundheitspflege als medizinischer Fachbegriff geprägt. Später wurde er von den Nationalsozialisten in staatliche Maßnahmen zur Rassenhygiene und Volksgesundheit eingebettet.]

Lingner hatte das Geschick, für die hygienischen Probleme seiner Zeit schnelle praktische Lösungen zu finden und in die Tat umzusetzen. Das soziale Mäzenatentum Karl August Lingners fand bei den Zeitgenossen großes Echo. Dem Brockhaus von 1925 war die soziale Tätigkeit Lingners posthum einen Eintrag wert, denn der Großindustrielle „erwarb sich große Verdienste um die Volksgesundheitspflege als Organisator der Ausstellung zur Bekämpfung der Volkskrankheiten, dem Vorläufer der vom ihm ins Leben gerufenen Dresdener Hygieneausstellung von 1911. L. stiftete in Dresden das Hygienemuseum „Der Mensch“, ist auch Begründer der sächs. Landesdesinfektionsanstalt, einer ebensolchen Anstalt für Dresden, einer Zentralstelle für Zahnhygiene, der Dresdener Lesehalle und anderer öffentl. Wohlfahrtseinrichtungen“ [in: Brockhaus, Handbuch des Wissens in vier Bänden, Leipzig 1925, Bd. 3, S. 81].

Soziales Engagement war im 19. und im beginnenden 20. Jahrhundert im Übrigen keine Ausnahme. Ein ebenso bekanntes Beispiel dafür ist die Margarethenhöhe in Essen, die auf die Initiative von Margarethe Krupp zurückging. Von 1909 bis 1920 entstand dort die Gartenstadt mit der Zielsetzung, die Wohn- und Lebensverhältnisse der Arbeiterschaft zu verbessern. Nicht immer gründete der Einsatz für Arbeiter und Angestellte aber auf rein humanitären Gesichtspunkten. Mit der unternehmerischen Fürsorge der Familie Krupp sollte dem stetig steigenden Einfluss der Sozialdemokratie der Wind aus den Segeln genommen werden.

Wohl der Bevölkerung

Welche Motivation hatte Lingner für sein Engagement in der Sozialhygiene? Dem Unternehmer Lingner lag das Wohl der Bevölkerung bis zum Ende seines Lebens am Herzen. In seinem Testament vermachte er unter anderem der Stadt Dresden seine Besitzungen auf dem Albrechtsberg, dem heutigen Lingnerschloss, und begründete sein Vermächtnis so: „Ich will, dass die gesamte Bevölkerung in die Lage gebracht wird, mit einer Ausgabe von 20-30 Pf. Die Schönheiten dieser herrlichen in Europa einzigartigen Lage zu geniessen“ [Testament Lingners vom 22. Mai 1916].

Einige Biografen Lingners glauben, dass sein Mäzenatentum durch den Kontakt mit jüdischen Gelehrten beeinflusst wurde. Dazu gehörte auch der Pädiater Arthur Schloßmann (1867 – 1932), der aus Dresden stammte und später die Kinderklinik in Düsseldorf übernahm. Schloßmann begleitete Lingners gemeinnütziges Wirken. Beide Männer waren Mitglieder im 1899 gegründeten „Deutschen Verein für Volkshygiene“, dessen Dresdener Sektion auch die 1. Internationale Hygieneausstellung 1911 förderte.

Ein anderer Beweggrund für Lingners Wirken könnte auch sein Wunsch nach Nobilitierung gewesen sein. Die Erhebung in den Adelsstand soll unter anderem an einem unehelichen Kind Lingners gescheitert sein [Vergleiche Hoffmann-Axthelm, Walter: Karl August Lingner und die soziale Zahnmedizin, in: zm 1983, S. 1982]. Zudem war die hohe Anzahl von Geliebten wohl zu viel für die damalige Zeit. Das Produkt „Odol“ wurde für zu profan gehalten und die Werbung, die wir heute als gelungen bezeichnen würden, galt den Zeitgenossen als zu schrill. Der Kaiser höchst persönlich soll entschieden haben, der „Odol-Lingner“ bekommt keinen Adelstitel.

Was die Zeitgenossen an Lingners Person gestört hat, verdeutlicht sehr gut eine Beurteilung von Walter Büchi, die der Lingner-Biograf Ulf-Norbert Funke in seinem Werk „Karl August Lingner – Leben und Werk eines sächsischen Großindustriellen“ zitiert: „Der schnelle Erfolg prägt das Lingnerbild auf Dauer. Moneymaker, Schoßkind des Glücks, Reklameheld. Was immer Lingner künftig tut, es wird durch diese Brille gesehen. Von nun an wird Mammon stets neben ihm auftauchen, hinter ihm hocken, durch die Nebentüre ins Spiel kommen: Ein Mammonmechanismus, der es dem Zeitgenossen wie dem Historiker schwer macht, Lingners Leistungen im Einzelfall gerecht zu werden“ [zitiert nach: Funke, U.-N., Karl August Lingner…, München 2007, S. 5].

Auch die Renovierung der Burg Tarasp im schweizerischen Engadin, wo auch Sachsen Königin Carola (1833 – 1907) öfters weilte, brachte nicht die gewünschte Ehrung. Im Testament vermachte Lingner das Bergschloss Sachsens letztem König Friedrich August III. (1865 – 1932), der nach Sichtung des Anwesens allerdings ablehnte. Der Einzug in die Welt des Adels blieb dem sächsischen Großindustriellen verwehrt. „Lediglich“ zum Königlich Sächsischen Wirklichen Geheimen Rat und Ehrendoktor der Universität Bern (1912) und zum Ehrenbürger der Stadt Dresden (1911) wurde der sächsische Industrielle ernannt.

Zahnhygiene im Fokus

Im Jahre 1900 regte Lingner die Gründung der „Zentralstelle für Zahnhygiene“ an. Unter anderem sollten mit dieser Einrichtung die Ursachen von Zahnkaries, sowie deren statistische Aufbereitung und die verstärkte Einstellung von Schulzahnärzten erreicht werden. Der Leiter der Zentralestelle, die bis 1908 Bestand hatte, wurde Dr. Carl Roese (1864 – 1947).

Zu seinen Vorstellungen über die Zentralstelle schrieb Lingner einige Jahre zuvor an Roese: „Diese wissenschaftliche Grundlage soll nichts gemein haben mit meinen persönlichen Unternehmungen. Dieselbe soll ohne Rücksicht auf meine Unternehmungen selbständig und unabhängig arbeiten. – Ich würde ein schönes modernes Laboratorium einrichten und alle Apparaturen, Literatur etc., welche für die Arbeiten nötig sind anschaffen. Für die Einrichtung und Leitung dieser Centralstelle möchte ich nun eine Persönlichkeit gewinnen, welche nicht nur gründliche Kenntnisse und Fähigkeiten für die projektierten Arbeiten besitzt, sondern auch mit Leib und Seele für die Ziele der Centralstelle eintritt. Der betreffende Herr müsste also nicht nur bakteriologisch geschult sein, sondern auch einige chemische Kenntnisse besitzen und selbstverständlich zahnheilkundig sein“ [zitiert nach: Funke, S.56].

Vorbeugende Desinfektion

1901 initiiert Lingner die Gründung einer „Städtischen Desinfektionszentrale“ für Dresden, an die angegliedert 1902 eine der ersten Desinfektionsschulen in Deutschland entstand. Beide Institutionen sollten möglichen Epidemien vorbeugen. Lingner kaufte das Grundstück für das Gebäude und beteiligte sich finanziell an den Betriebskosten. In seiner Argumentation der Stadt Dresden gegenüber verwies Lingner auf die große Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg: „Die Dringlichkeit [zur Einrichtung einer Desinfektionsanstalt in Dresden] würde aber erst dann klar bewiesen werden können, wenn die Stadt etwa von einer grossen Epidemie heimgesucht würde. Infolge eines solchen Ereignisses ist die Desinfektionsanstalt in Hamburg entstanden, nachdem sich klar herausgestellt hatte, dass die Abwesenheit geeigneter Desinfections – Einrichtungen Hunderten und Tausenden von Hamburger steuerzahlenden Bürgern das Leben gekostet hatte. Heute besitzt Hamburg das vielleicht besteingerichtete städtische Desinfektionswesen Deutschlands“ [zitiert nach: Funke, S.62]. Im Jahre 1906 wurde die Lehranstalt als „Landesdesinfektorenschule für das Königreich Sachsen“ dem Innenministerium unterstellt und blieb bis zum Umzug nach Leipzig im Jahre 1965 in Dresden bestehen.

Zu den Aufgaben der Desinfektionszentrale gehörte vor allem die Desinfektion von Wohnräumen, Kleidungstücken aller Art und Gebrauchsgegenständen. Unter Führung des Industriellen Lingner wurde auch ein Desinfektionsapparat für Wohnräume entwickelt und zunächst im eigenen Werk produziert.

Sächsisches Serumwerk

1903 entstand im Unternehmen Lingners die bakteriologische Abteilung, aus der 1911 das „Sächsische Serumwerk“ hervorging. Das Werk produzierte unter anderem in ausreichenden Mengen Seren und Impfstoff für Typhus und Cholera im ersten Balkankrieg 1912/13 und ermöglichte die Versorgung mit Tetanusserum während des Ersten Weltkriegs.

Zur Zentralestelle für Zahnhygiene stiftete Lingner auch eine Schulzahnklinik, in der ab Juli 1907 die Schüler kostenlos untersucht und behandelt werden konnten. Die Einrichtung blieb zwar nur kurz bestehen, weil es Probleme bei der Übernahme durch die Stadt Dresden gab, dennoch „sieht man heute in ihr eine seinerzeit neuartige Forschungsstätte, die Wesentliches zu den wissenschaftlichen Grundlagen der sozialen Zahnmedizin beigetragen und die praktischen Bemühungen für lange Zeit determiniert hat“. (Neumann, Jochen: Karl August Lingner – Leben und Werk im Dienste der Menschen, Festvortrag, in: 1888 – 1988, 100 Jahre Lingner-Werke Dresden – Düsseldorf, Lingner + Fischer GmbH 1988, S. 60) Eine städtische Schulzahnklinik für Dresden eröffnete erst im Jahre 1921.

Das Engagement Lingners bezog sich nicht nur auf die Unterstützung von Institutionen, die die Hygiene förderten, sondern auch auf Schriften dazu. 1909 wurde die Fachzeitschrift „Der praktische Desinfektor“ gegründet. Die Zeitschrift wurde im Deutschen Verlag für Volkswohlfahrt verlegt, den Lingner 1905 am Kurfürstendamm in Berlin ins Leben gerufen hatte. Die Publikation wurde nach seinem Tod ab 1922 als „Zeitschrift für Desinfektions- und Gesundheitswesen“ und ab 1929 als „Zeitschrift für Gesundheitstechnik und Städtehygiene“ weitergeführt.

Engagement in der Firma

Sein soziales Wirken im Großen übertrug Lingner auch auf seine Firma im Kleinen. Den Beschäftigten standen im Jahr zehn Tage Urlaub und eine Urlaubsentschädigung zu. Selbstverständlich gab es für die Belegschaft auch Hygieneräume, die zur Benutzung in der Arbeitszeit freistanden und es wurde für ausreichend Verpflegung gesorgt. Eine betriebseigene Sparkasse bot den Beschäftigten eine Verzinsung von fünf Prozent für ihre Einlagen. In Notlagen wurden den Arbeitern finanzielle Hilfen gewährt. Für die damalige Zeit eher ungewöhnlich, gab es auch Weihnachtsgeld, das für Arbeiter bei bis zu 50 Mark lag und für Angestellte in die Höhe eines Monatsgehalts reichen konnte. Innovativ war auch die Pausengymnastik für die Arbeiterschaft.

Das Ende von Karl August Lingner ist ein wenig makaber. Lingner war Zeit seines Lebens ein starker Tabakkonsument und hat somit auf die eigene Mundgesundheit nicht so stark geachtet. Nachdem eine sogenannte Raucher-Keratose, eine gutartige Anomalie an der Zunge festgestellt wurde, ließ sich Lingner nicht direkt operieren, sondern – fortschrittsgläubig wie er war – mit Radium bestrahlen. Die Folge war eine bösartige Entwicklung im Mundraum. Ende Mai 1916 wurden Karl August Lingner von dem bekannten Berliner Chirurgen August Bier (1861 – 1949) die Zunge und die Speicheldrüsen entfernt. Am 5. Juni desselben Jahres verstarb Lingner an einem Herzschlag.

Kay LutzeLievenstr. 1340724 Hildenkaylutze@ish.de

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