Forschung zum Verhalten am Arbeitsplatz

Präsent statt bei der Sache

Gesundheitlich angeschlagene Angestellte am Arbeitsplatz sind keine Seltenheit. Das Phänomen heißt „Präsentismus“ und hat nicht zuletzt durch reißerische Schlagzeilen in den Medien („Arbeiten, bis der Arzt kommt“) an Bedeutung gewonnen. Dabei wird der Begriff in der Wissenschaft nicht einheitlich definiert. Anlass genug für die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) die Forschungsergebnisse zu Einflussfaktoren, Folgen und mit dem Präsentismus verbundenen Kosten in einem Review zu analysieren.

Das Prozedere: Im Zeitraum von März bis April 2010 wurde in einschlägigen gesundheitswissenschaftlichen Datenbanken, Sammelbänden und Zeitschriften sowie auf den Webseiten zentraler Institutionen recherchiert. Im Fokus standen nur Originalstudien.Dabei wurde ein breites Spektrum an Suchbegriffen verwendet.

Die Methodik: Im Rahmen der Recherchewurden zunächst 541 relevant erscheinende Quellen identifiziert, von denen abschließend 285 aktuelle Forschungsarbeiten in den Review eingebunden wurden.

Die Autoren Mika Steinke und Prof. (em.) Bernhard Badura von der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Bielefeld identifizierten zwei Hauptstränge der gegenwärtigen Präsentismusforschung: Während sich insbesondere nordamerikanische Studien mit den Produktivitätsverlusten bei Fehlzeiten (Absentismus) und verminderter Arbeitsfähigkeit (Präsentismus) beschäftigen, legen Arbeiten aus Europa ihren Fokus auf das Verhalten von Beschäftigten, die trotz einer Erkrankung zur Arbeit gehen.

Die erste bekannte Verwendung des Begriffs Präsentismus (engl.: presenteeism) geht auf den US-amerikanischen Arbeitswissenschaftler Auren Uris zurück, berichten die Autoren. In seinem Artikel „How to Build Presenteeism“ aus dem Jahr 1955 thematisiert er die Frage, wie Fehlzeiten verringert und die Anwesenheit der Mitarbeiter verbessert werden können. Für Uris ist Präsentismus gleichbedeutend mit Anwesenheit am Arbeitsplatz. Dagegen ist der Zugang zum Thema Präsentismus, vor allem in Deutschland und den skandinavischen Ländern ein anderer: Präsentismus wird hier zumeist gleichgesetzt mit dem beobachtbaren Verhalten von Mitarbeitern, trotz einer Krankheit, die ein Fehlen legitimiert hätte, zur Arbeit zu gehen. „Das Verhalten, sich bei einer Erkrankung nicht krankzumelden, sondern arbeiten zu gehen, wird als ’Präsentismus’ bezeichnet“, schreiben die Autoren mit Verweis auf den Fehlzeiten-Report 2009. Die Präsentismusdiskussion in Deutschland basiere im Wesentlichen auf diesem Verständnis.

Ein bekanntes Phänomen

Ganz so neu ist das Phänomen nicht, wiedem Review zu entnehmen ist: So stellte sichschon 1966 bei einer ärztlichen Vorsorgeuntersuchung in mehreren hessischen Betriebskrankenkassen heraus, dass eine Mehrheit der Befragten ärztlich zu behandelnde Beschwerden aufwies und dennoch zur Arbeit ging.

Zurück in die Gegenwart: Die „seit Jahrzehnten sinkenden Krankenstände in Deutschland“ erklären die Autoren mit einer Reihe von Faktoren: So würden Selektionseffekte entstehen, indem jüngere, gesündere Beschäftigte gehalten werden, während ältere, häufiger kranke Mitarbeiter eher entlassen würden. Dazu kämen Struktureffekte, die sich aus dem Wandel von körperlicher hin zu überwiegend geistiger Arbeit ergäben. Fortschritte des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sowie in der Betrieblichen Gesundheitsförderung beziehungsweise dem Betrieblichen Gesundheitsmanagement spielten ebenfalls eine Rolle. Nicht außer Acht zu lassen seien auch die Disziplinierungseffekte. Denn mit einer anhaltend hohen Arbeitslosigkeit steige bekanntlich die „Symptomtoleranz“ der Beschäftigten. Krankmeldungen erfolgten verzögert.

Eine Vielzahl an vor allem US-amerikanischen Instrumenten zur Messung von Präsentismus seien bereits entwickelt. Hier gebe es allerdings noch Validierungsbedarf. Neun Instrumente zur Erfassung krankheitsbedingter Produktivitätsverluste werden ausführlich im Review beschrieben und bewertet. Da in den USA bereits länger der Einfluss von – vor allem chronischen – Erkrankungen auf die Produktivität untersucht wird, ließen sich hier deutlich bessere Aussagen zur Qualität der Messverfahren machen. Die Autoren fordern die Entwicklung und Validierung von deutschsprachigen Instrumenten zur Messung von Präsentismus, die auf Selbsteinschätzungen von Erwerbstätigen basieren. Nichtsdestotrotz bestünden auch auf Bundesebene bereits eine Vielzahl an unterschiedlichen Items zur Erfassung des Verhaltens von Mitarbeitern, die trotz einer Erkrankung an ihrem Arbeitsplatz erscheinen (Abbildung oben).

Die Entscheidung, trotz einer Erkrankung arbeiten zu gehen, werde dabei durch ein komplexes Geflecht an persönlichen, arbeitsbedingten und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst. Auch das Geschlecht spiele eine Rolle: Drei in Deutschland durchgeführte Befragungen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) ergaben, dass Frauen häufiger angaben, trotz Krankheit arbeiten gegangen zu sein.

Die größte Anzahl an Studien (85 Arbeiten) konnte zum Aspekt „Kosten von Präsentismus“ recherchiert werden. Mehrere Studien kommen hier zu dem Ergebnis, dass der Produktivitätsverlust durch Präsentismus bei zehn Krankheiten höher ausfällt als der durch Absentismus. Diese Krankheiten sind: Allergien, Arthritis, Asthma, Krebs, Depression / psychische Erkrankungen, Diabetes, Herzerkrankungen, Bluthochdruck, Migräne/Kopfschmerz sowie Atemwegserkrankungen. Besonders drastisch schlägt sich diese Differenz für die Krankheiten Migräne, Diabetes, Arthritis und Bluthochdruck nieder. Auffällig: Beim Vergleich über mehrere Studien hinweg fallen die ermittelten Kosten für Präsentismus – für ein und dieselbe Krankheit – sehr unterschiedlich aus.

Kosten lassen sich messen

Zum Kanon der Daten aus Deutschland zählen die Autoren auch das Berechnungsmodell von Iverson Krause. Ausgehend von vorsichtigen Schätzungen ermittelt das Modell die 13 „teuersten“ Krankheiten mitden entsprechenden Produktivitätsverlustendurch Absentismus und Präsentismus. Das Modell kommt zu zwei Ergebnissen:

• 12 Prozent der Gesamtproduktivität von Unternehmen gehen aufgrund von Gesundheitsproblemen verloren. Dabei ermittelten die Autoren ein Verhältnis von Absentismus zu Präsentismus von 35 Prozent zu 65 Prozent.

• Pro Mitarbeiter verlieren Unternehmen 27 Tage im Jahr.

Fragt man nach den gesundheitlichen Folgen von Präsentismus, so gibt es noch nicht allzu viele Antworten. Momentan lägen nur wenige Studien vor, so die Autoren. Es darf jedoch als gesichert angenommen werden, dass Präsentismus – verstanden als das Verhalten, trotz einer Erkrankung zur Arbeit zu gehen – langfristig negative Folgen für die Gesundheit haben kann. So habe sich gezeigt, dass Mitarbeiter, die trotz Erkrankung zur Arbeit gehen, ein signifikant höheres Risiko haben, ihren eigenen Gesundheits-zustand als schlecht oder eher schlecht einzustufen. Zudem deute sich an, dass bei einem eher schlechten Gesundheitszustandsich durch Präsentismus langfristig das Risikovon Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht. Zwei Studien weisen auf einen Zusammenhang zwischen Präsentismus und Langzeit-Arbeitsunfähigkeit hin.

Unterm Strich bietet der Review einen ersten Überblick über den Stand der Forschung zum Präsentismus. In Zukunft wird es vor allem um die Entwicklung deutschsprachiger Messinstrumente, um die Untersuchung der Ursachen und Folgen von Präsentismus sowie um die Entwicklung entsprechender Interventionsmaßnahmen gehen .

www.baua.de/de/Publikationen

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