16. Kongress Armut und Gesundheit

Das Kind vor dem Brunnen retten

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Heftarchiv Gesellschaft
sf
Ob Adipositas, psychische oder verhaltensbezogene Auffälligkeiten, Kinder und Jugendliche mit niedrigem Sozialstatus schneiden bei fast allen Gesundheitsindikatoren schlechter ab. Mit einer Ausnahme: Allergien befallen Kinder mit hohem Sozialstatus laut dem Robert Koch-Institut deutlich häufiger. Auf dem Kongress im Dezember 2010 in Berlin stand die Gesundheitsförderung bei sozial benachteiligten Heranwachsenden im Fokus der Diskussionen und Workshops.

Der Regierende Bürgermeister von Berlin und Schirmherr der Verantstaltung, Klaus Wowereit, erklärte zum Auftakt: „Trotz modernster sozialer Sicherungssysteme leben rund 79 Millionen Menschen in Europa (etwa 19 Prozent von insgesamt 413 Millionen) unterhalb der Armutsgrenze. Armut mindert nicht nur die Lebensqualität, Armut schadet auch der Gesundheit.“ Zugleich hob er die Bedeutung des bundesweit größten Public Health-Forums hervor. Als Sprachrohr für die in Armut lebenden Menschen sensibilisiere der Kongress die Öffentlichkeit für die Situation der Menschen am Rande der Gesellschaft. Eine Stärkung des sozialen Zusammenhalts nütze letzlich der ganzen Gesellschaft, betonte Wowereit im Schöneberger Rathaus.

Zahlreiche Studien zeigen: Armut wirkt sich auf Bildung, soziale Teilhabe und Gesundheit aus. Ein niedriger sozioökonomischer Status, geringe formale Bildung, Arbeitslosigkeit, der Status Alleinerziehend und ein Migrationshintergrund sind Faktoren, die gesundheitliche Belastungen und Risiken begünstigen.

„Die Chancen, Gesundheit für alle zu verwirklichen, waren nie größer als heute“, sagte Thomas Gebauer, Geschäftsführer von medico international am Rande des Kongresses. Im Grunde ermögliche der globale Reichtum und das Wissen über die Zusammenhänge des Lebens längst allen den Zugang zu bestmöglicher Gesundheit. Die Realität sei aber eine andere. „Die voranschreitende Koppelung von Gesundheit an die Kaufkraft der Einzelnen hat das Ziel in weite Ferne rücken lassen“, kritisierte der medico-Chef.

Ressourcen gezielt nutzen

Anstatt sich an Defiziten zu orientieren, plädierte Prof. Raimund Geene von der Hochschule Magdeburg-Stendal dafür, die individuellen kindlichen Ressourcen durch positiven Motivation zu bergen und zu fördern. Seine Kritik: Das deutsche Versorgungssystem springe immer nur dann an, wenn Defizite diagnostisch feststellbar seien und das Kind bereits quasi sprichwörtlich in den Brunnen gefallen sei.

Unterhalb der Schwelle akuter Behinderung oder Behinderungsbedrohung besteht kein Rechtsanspruch auf Jugend- und Familienhilfe. Es zeige sich fächerübergreifend, dass für die Gesundheitsbildung von Kindern ein früher, präventiver Lebenswelt gestaltender Ansatz nowendig sei. Kurz, eine Orientierung gen Gesundheit statt gen Krankheit. Grundsätzlich befände sich der Gesundheitszustand der deutschen Kinder auf einem historisch einmalig positiven Niveau. Darauf verweist der 13. Kinder- und Jugendbericht, das Sondergutachten 2009 des Sachverständigenrates oder auch die World Vision-Studie 2009. Aber: Der schöne Schein wird durch „das wachsende Problem der sozialen Ungleichheit“ getrübt. Der Experte für Angewandte Kindheitswissenschaften warnte, dass das Vorhaben der Bundesregierung zur Anrechnung des Elterngeldes auf Hartz IV, diese bedenkliche Entwicklung forcieren könnte. Der Gesundheitsversorgung und der Kinder- und Jugendhilfe komme die undankbare Aufgabe zu, an Symptomen zu laborieren. Konkret bedeute das, die Folgeerkrankungen zu lindern. Gleichzeitig steigen Bedarf und Aufwendungen für Leistungen mit Rechtsanspruch. Dadurch werde der Posten für Prävention bei den ohnehin finanzschwachen Kommunen geschmälert. „Die Politik ist jedoch verpflichtet, gerade auch bei benachteiligten Kindern, Jungendlichen und ihren Eltern Verwirklichungschancen zu sichern“, betonte Geene.

Als Vertreter einer Krankenkasse sprach sich Dr. Herbert Reichelt, Vorsitzender des geschäftsführenden Vorstandes des AOK-Bundesverbandes für flächendeckende Gesundheitsbildung aus. Reichelt: „Nur wer seinen Körper kennt, kann bewußt gesundheitliche Entscheidungen treffen.“ Viele Menschen wüßten aber zu wenig über die Zusammenhänge ihres Körpers, monierte er. Gesundheitsbildung müsse daher früh in den Lebenswelten der Kinder ansetzen und bis zur Beendigung der Schule altersgerecht aufgebaut sein. Schließlich wirke sich Gesundheit auch positiv auf das Lernen aus. Exemplarisch nannte Reichelt die Gesundheitsprogramme „TigerKids“ (www.tigerkids.de) und „Sciencekids“ (www.sciencekids.de). Auf Bundesebene existiert der, von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) initiierte Kooperationsverbund „Gesundheitsförderung bei sozial benachteiligten“ mit 58 Good Practice Projekten. Sf

www.gesundheitliche-chancengleichheit.de 

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