40 Jahre Ärzte ohne Grenzen

Gegen Not und Hoffnungslosigkeit

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Heftarchiv Gesellschaft
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Médecins Sans Frontières ist die weltweit größte Organisation für medizinische Nothilfe. Vor 40 Jahren, am 20. Dezember 1971, wurde sie von zwölf französischen Ärzten und Journalisten gegründet. Im Jubiläumsjahr kann Ärzte ohne Grenzen, so der deutsche Name, auf eine bewegte Geschichte zurückblicken.

„Sie gehen dorthin, wo Not, Leid und Hoffnungslosigkeit am größten, oftmals von geradezu katastrophalen Ausmaßen sind und leisten Hilfe – unabhängig davon, ob die Katastrophe von Menschenhand oder durch die Natur verursacht wurde“, hieß es in der Laudatio des Nobelpreis-Komitees, das „Médecins Sans Frontières (MSF) im Jahr 1999 mit dem Friedensnobelpreis auszeichnete. Und noch einen Grundsatz der Organisation lobte das Komitee: „Charakteristisch für MSF ist, dass sie in ihrer Arbeit – klarer als irgendjemand sonst – zwei Kriterien vereinen: humanitäre Hilfe und Engagement für die Menschenrechte.“

Wo Katastrophen durch Menschen verursacht würden, nämlich durch die Missachtung fundamentaler Grundrechte, erhebe die Organisation ihre Stimme und gebe Zeugnis davon. Bei ihrer Gründung vor 40 Jahren bedeutete diese Herangehensweise eine ideologische Revolution auf dem Gebiet der humanitären Hilfe.

Sturm und Krieg

Zwei Ereignisse führten zur Gründung von Ärzte ohne Grenzen. Eines war der Bhola- Wirbelsturm in Ostpakistan, dem heutigen Bangladesch. Im Jahr 1970 forderte die Naturkatastrophe 500 000 Todesopfer. Die Mediziner, die dort Nothilfe geleistet hatten, schlossen sich im Dezember 1971 mit einer Ärztegruppe zusammen, die gerade aus einem Kriegsgebiet zurückgekehrt war – und Wut im Bauch hatte. Die Erfahrungen, die diese Ärzte als Mitarbeiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) bei einem Hilfseinsatz im Biafra-Krieg von 1967 bis 1970 gemacht hatten, prägen die Prinzipien von „Ärzte ohne Grenzen“ bis heute.

Bei dem Konflikt in der nigerianischen Provinz starben zwei Millionen Menschen, drei Millionen wurden vertrieben oder flüchteten. Kriegsauslöser war die Unabhängigkeits-erklärung des ölreichen, christlich dominierten Biafra im Jahr 1967. Die nigerianische Regierung versuchte, die Sezession militärisch abzuwenden. Die abtrünnige Provinz wurde umzingelt und mit einer Blockade belegt. Da keine Nahrungsmittel mehr in die Region gelangten, brach eine Hungersnot aus.

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Schweigen kann töten

Die französischen IKRK-Ärzte waren entsetzt über das Ausmaß des Hungers, der vor allem Kinder bis aufs Skelett abmagern ließ und Ödeme an ihren Körpern verursachte. Schockiert über das Erlebte waren sie sich sicher, dass in Biafra ein Völkermord stattfand. Sie ergriffen Partei für die Menschen dort und verlangten vom IKRK, die nigerianische Regierung öffentlich zur Verantwortung zu ziehen. Die strikte Neutralität des IKRK verbot diesen Schritt jedoch. Als bei einem Angriff der nigerianischen Armee im Oktober 1968 vier Mitarbeiter des Roten Kreuzes getötet wurden, war für die Ärzte das Maß voll. Sie gingen an die Presse und beschuldigtem Nigeria des Völkermords. „Es war unmöglich. Wir konnten nicht mehr schweigen. Dazu hatten wir kein Recht mehr. Wir mussten es herausschreien“, erinnert sich eins der Gründungsmitglieder, Pascal Grellety-Bosviel. Bernard Kouchner, ein weiterer Mitbegründer, sagte: „Weil wir keine Waffen hatten, mussten wir unsere Patienten mit der Macht der öffentlichen Meinung schützen.“

Rückblickend auf den Biafra-Krieg bewertet „Ärzte ohne Grenzen“ die Situation differenzierter. Die Gründerväter hätten die Situation falsch eingeschätzt, schreibt die Organisation in einer Festschrift anlässlich des Jubiläums: „In Biafra geschah kein Völkermord. Es ging nicht um Ausrottung, sondern um den Kampf gegen die Sezession, auch wenn Blockade und Hunger ein Teil der Kriegsstrategie der Regierung in Lagos waren. Das sezessionistische Regime setzte allerdings bald die Bilder hungernder Kinder bewusst ein, um mehr Hilfsgüter zu bekommen. Es war eine ’inszenierte’ Hungersnot.“ Die Ärzte hätten die Situation nicht richtig bewertet und sich von der Rebellenführung instrumentalisieren lassen, so das Fazit von MSF.

Auch wenn die Deutung der Lage falsch war: Der Biafra-Krieg gab den entscheidenden Impuls zur Gründung einer Ärzteorganisation mit einem neuen Verständnis humanitärer Hilfe. Wie MSF seinen Auftrag seit damals definiert, ist auf der Website nachzulesen: „Wenn in einer Konfliktsituation die Rechte von Zivilisten mit Füßen getreten werden und ihnen Hilfe verwehrt wird, setzt sich „Ärzte ohne Grenzen“ für diese Menschen ein. Die Organisation fühlt sich zwar den humanitären Prinzipien der Neutralität, Unparteilichkeit und Unabhängigkeit verpflichtet, hebt aber in Ausnahmesituationen ihre neutrale Position auf, bezieht Stellung und wird zum Sprachrohr für Menschen in Not.“ Man wisse, dass dadurch nicht jedes Leben gerettet werden kann. „Ärzte ohne Grenzen“ sei aber der festen Überzeugung, dass vor allem „Schweigen töten kann“.

Öffentliche Kritik, das betont die Organisation immer wieder, sei jedoch das letzte Mittel, zu dem sie greift, um gegen Menschenrechtsverletzungen und Machtmissbrauch vorzugehen. Vorher versuchen Ärzte ohne Grenzen, durch direkte Gespräche und stille diplomatische Intervention auf die Verantwortlichen einzuwirken.

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Erste Bewährungsproben

„Ärzte ohne Grenzen“ betreibt heute Sektionen in 19 Ländern, die deutsche wurde 1993 gegründet. Das internationale Netzwerk beschäftigt 30 000 Mitarbeiter und unterstützt mehr als 400 Projekte in 60 Staaten. Die deutsche Sektion beteiligte sich im Jahr 2010 mit 289 Mitarbeitern, darunter Ärzte, Krankenschwestern, Logistiker und Hebammen, an den Einsätzen.

Nach der Gründung 1971 war die Zahl der Projekte weitaus übersichtlicher. Der erste Nothilfeeinsatz fand 1972 nach einem Erdbeben in Nicaragua statt. „Ärzte ohne Grenzen“ lieferte zehn Tonnen Medikamente und stellte drei Mediziner. Größere Aufmerksamkeit erregte die Organisation 1976 mit einem siebenmonatigen Einsatz im Libanon und vor allem mit ihrem ersten groß angelegten Hilfsprogramm: In Thailand richtete sie ein Flüchtlingslager für Kambodschaner ein, die vor der Schreckensherrschaft der Roten Khmer flohen.

Im Jahr 1977 trug „Ärzte ohne Grenzen“ interne Kämpfe aus, als es zu einem Führungsstreit innerhalb der Organisation kam. Der neue Vorsitzende, Claude Malhuret, war gegen Kritik an Regierungen der Staaten, in denen man tätig war. Gründungsmitglied Bernard Kouchner wollte jedoch am Prinzip der Zeugenschaft, der „témoignage“, festhalten. Ein Kompromiss wurde nicht gefunden, so dass Kouchner im März 1980 mit rund 15 weiteren Ärzten MSF verließ und eine neue Organisation namens „Médecins du Monde“ gründete.

Kurz darauf kam es zu einer überraschenden Wendung: 1980 organisiert die Organisation den – intern sehr umstrittenen – „Marsch für das Überleben Kambodschas“, an dem Prominente wie Joan Baez und Liv Ullmann teilnahmen. Damit protestierte „Ärzte ohne Grenzen“ gegen die wirtschaftliche Ausbeutung des Landes durch die vietnamesischen Besatzer und gegen das Verbot, den Kambodschanern im Landesinneren humanitäre Hilfe zukommen zu lassen. Trotz der Demonstration gelang es erst 1989, medizinische Teams nach Kambodscha zu schicken.

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Weltweit ohne Grenzen

„Ärzte ohne Grenzen“ ist in Krisenregionen auf allen Kontinenten präsent. Mitarbeiter der Organisation halfen Notleidenden beim Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien, in der sudanesischen Krisenregion Darfur, beim Tsunami in den Küstenländern des indischen Ozeans 2004 – damit ist aber nur ein Bruchteil des Engagements genannt.

Rückschläge musste die Hilfsorganisation immer wieder wegstecken. Aufgrund der Öffentlichmachung von Menschenrechtsverstößen wurde sie mehrfach aus Krisengebieten verwiesen. Unter anderem musste „Ärzte ohne Grenzen“ – zusammen mit 37 weiteren humanitären Organisationen – 1995 Ruanda verlassen, weil Mitarbeiter auf das durch ruandische Truppen verursachte Blutbad im Vertriebenenlager Kibeho und die unmenschlichen Zustände in den ruandischen Gefängnissen hingewiesen hatten. Aber auch aus eigener Entscheidung hat „Ärzte ohne Grenzen“ wiederholt Einsätze abgebrochen. Im Oktober 1998 stellte die Hilfsorganisation nach drei Jahren alle Projekte in Nordkorea ein, weil die Regierung Nordkoreas die humanitäre Hilfe massiv behinderte. Im Sommer 2004 kamen in Afghanistan fünf Mitarbeiter der Organisation bei einem gezielten Angriff auf ihr Fahrzeug ums Leben. Daraufhin kündigt „Ärzte ohne Grenzen“ an, ihr 24-jähriges Engagement in Afghanistan zu beenden. Erst 2009 kehrte die Organisation ins Land zurück, wo sie vergangenen Oktober unter anderem eine chirurgische Klinik in Kundus eröffnete.

Die finanziellen Mittel für das weltweite Engagement gewinnt „Ärzte ohne Grenzen“ aus Spenden. Um ihre Unabhängigkeit von politischen oder anderen öffentlichen Institutionen zu gewährleisten, achtet die Organisation darauf, sich zu mindestens 50 Prozent aus Spenden zu finanzieren. Im vergangenen Jahr nahm die deutsche Sektion 89,4 Millionen Euro ein. Das war doppelt so viel wie 2009. Grund waren die Naturkatastrophen in Haiti und Pakistan. Von der Gesamtsumme flossen 72,2 Millionen in die Projekte des internationalen Netzwerks, für Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit sowie Spenderwerbung gab „Ärzte ohne Grenzen“ nur acht Millionen aus.

Wichtig für potenzielle Spender: „Ärzte ohne Grenzen“ trägt das Spendensiegel des Deutschen Zentralinstituts für soziale Fragen (DZI). Das DZI prüft, ob humanitäre Organisationen sachlich und seriös für ihre Zwecke werben und ob sie eine nachprüfbare, sparsame und satzungsgemäße Verwendung der Mittel unter Beachtung der einschlägigen steuerrechtlichen Vorschriften vorweisen können.

Mithilfe der Spendengelder setzt „Ärzte ohne Grenzen“ weltweit Projekte um, die über die bloße medizinische Behandlung hinausgehen. Das Hilfswerk initiiert außerdem Impfkampagnen und Ernährungsprogramme, sorgt für den Aufbau von Krankenhäusern und mobiler Kliniken in ländlichen Gebieten, psychologische Betreuung, Wasseraufbereitung, Sanitärprojekte, gesundheitliche Aufklärung und die Ausbildung einheimischer Fachkräfte in den Krisengebieten, um eine langfristige Versorgung der Bevölkerung zu garantieren.

Susanne TheisenFreie Journalistin in Berlininfo@susanne-theisen.de

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