Musiker und Krankheit

Die Kraft des Leidens

Heftarchiv Gesellschaft
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Schaffensdrang und Werk eines jeden Künstlers sind nicht nur von seiner Fantasie bestimmt, sie werden auch von seinen ganz persönlichen Erfahrungen geprägt. Körperliche oder seelische Leiden, Behinderungen oder schwere Krankheit und Gebrechen im Alter hinterlassen oft ihre Spuren im Werk. Das gilt vor allem auch bei Musikern, wie prominente Beispiele aus der Musikgeschichte von Mozart, Bach, Schumann, Tschaikowsky oder Mahler eindrucksvoll belegen.

Der Nachweis der Beeinflussung durch körperliche oder seelische Leiden ist bei der gegenständlichen Kunst einfacher als bei Musikern. Bei diesen muss die Kraft des Leidens auf das musikalische Werk oft Spekulation bleiben. Im Werk von Frida Kahlo ist die körperliche Pein unübersehbar, der Schmerz in der Musik von Robert Schumann oder von Gustav Mahler ist dagegen nur subjektiv zu erhören.

Krankheit kann einem künstlerischen Werk eine besondere Qualität geben, sie kann aber auch das Ende der Schaffenskraft bedeuten. So formuliert der Mediziner und Kunstliebhaber Philip Sandblom: „Die Musik ist inniger mit dem Seelenleben verbunden und hat einen lockereren Kontakt zu den äußeren Verhältnissen als die übrigen Kunstarten. Obendrein verfügt sie über die ungewöhnliche Eigenschaft, innere Spannungen lösen und dadurch ein Sauls-Gemüt zerstreuen zu können. Mehr als jede andere Kunst findet sie ihren Weg in die Tiefen unserer Gefühle, in die Höhen unserer Verzückung.“ [zitiert nach: Sandblom, Philip, Kreativität und Krankheit, Vom Einfluß körperlicher und seelischer Leiden auf Literatur, Kunst und Musik, Berlin u. a. 1990, S. 9].

Popstar der Klassik

Bei dem Vergnügen, eine „Zauberflöte“ in der Deutschen Staatsoper Berlin oder einen „Don Giovanni“ an der Scala in Mailand zu genießen, fragen sich die Besucher sicher nicht, ob die grandiose Musik von Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) von seinen möglichen physischen oder psychischen Erkrankungen beeinflusst wurde. Aber gerade beim „Popstar“ der klassischen Musik ist dieser Zusammenhang immer wieder diskutiert worden.

Besonders bei einem seiner letzten Kunstwerke, dem „Requiem“, wurde eine hörbare Todesnähe konstatiert. Kein halbes Jahr vor seinem frühen Tod wurde die „Zauberflöte“ im Freihaus- Theater in Wien uraufgeführt. Schon bei der Fertigstellung ist Mozart von kränklicher Blässe gezeichnet. Zuvor hatte er für Kaiser Leopold II. die Oper „La Clemenza di Tito“ geschrieben. Das Stück hatte bei der Krönung des Monarchen zum König von Böhmen am 6. September 1790 Premiere. Als Mozart bereits erkrankt ist, lässt ihn eine kurze Besserung sein letztes Werk, die „Kleine Freimaurerkantate“ komponieren und noch selbst am 18. November 1790 in der Loge dirigieren. Mozart hat also bis zuletzt geschaffen. Bei Mozart scheinen die Krankheit und der nahe Tod noch einmal die große musikalische Meisterschaft hervorzuholen.

An welcher Krankheit Mozart nun tatsächlich in der Nacht vom 4. auf den 5. Dezember 1791 gestorben ist, bleibt bis heute offen. Der Arzt Dr. Sallaba diagnostizierte bei Mozart im November 1790 ein „hitziges Frieselfieber“. Unter Zeitgenossen wurde auch die Vermutung angestellt, Mozart sei vergiftet worden. Der Biograf Georg Nikolaus von Nissen (1761–1826) beschrieb Mozarts letzte Krankheitsphase so: „Seine Todeskrankheit, wo er bettlägerig wurde, währte 15 Tage. Sie begann mit Geschwulsten an Händen und Füßen und einer beynahe gänzlichen Unbeweglichkeit: derselben, der später plötzliches Erbrechen folgte, welche man hitziges Frieselfieber nannte. Bis zwey Stunden vor seinem Verscheiden blieb er bey vollkommenem Verstande.“ [zitiert nach: Kerner, Dieter, Große Musiker, Leben und Leiden, 5. Auflage, Stuttgart 1998, S. 66].

Eine neuere Theorie niederländischer Wissenschaftler besagt, dass der Künstler möglicherweise an den Folgen einer Streptokokkeninfektion verstorben ist. Diese Annahme formulierten die Forscher in den „Annals of Internal Medicine“ [August 18, 2009, vol. 151, no. 4, S. 274-278]. „Our analysis is consistent with Mozart´s last illness and death being due to a streptococcal infection leading to an acute nephritic syndrome caused by poststreptococcal glomerulonephritis.” Die Wissenschaftler stützen sich bei ihrer Annahme auf den Krankenbericht, der von der Schwägerin Mozarts, Sophie Haibel, stammt. Woran Mozart auch immer gestorben ist; vielleicht hat der großartige Schöpfungsakt seiner Musik den Körper so viel Kraft gekostet, dass ihn schließlich Krankheiten umso leichter erfassen konnten?

In der Verfilmung von Mozarts Leben, „Amadeus“ von Miloš Forman aus dem Jahr 1984, wird auf ein anderes mögliches Leiden hingewiesen. Mozarts Unruhe und „Herumkasperei“ werden von dem Schauspieler Tom Hulce gekonnt in Szene gesetzt. Dahinter steht die Hypothese, dass Wolfgang Amadeus Mozart an dem sogenannten „Tourette-Syndrom“ gelitten haben könnte. Allerdings lässt sich diese Hypothese Jahrhunderte später nicht mehr verifizieren.

Meister des Barock

Johann Sebastian Bach (1685–1750) hat wahrscheinlich eine leichte Kurzsichtigkeit gehabt, die ihn aber nicht weiter beeinträchtigte. Seine Noten konnte er bis 1747 gut zu Papier bringen. In diesem Jahr zeigten sich bei Deutschlands größtem Barockmusiker erste Anzeichen eines Altersstares. Nun war Bach das Schreiben von Noten und erst recht das Stechen von Noten in Kupferplatten kaum noch möglich. Das Sehvermögen des Komponisten verschlechterte sich sehr rasch.

1750 weilte der englische Augenarzt John Taylor (1708–1772) in Leipzig. Anders als der Preußenkönig Friedrich II. (1712–1786), der nichts von der Kunst Taylors hielt, vertraute sich Bach dem Arzt an. Taylor hatte zwar Chirurgie mit Spezialisierung auf Augenheilkunde in London studiert, schien aber keine besonders große Erfolgsquote beim Starstich gehabt zu haben. Im 18. Jahrhundert kam es mangels keimfreier Starnadeln oft zu Augenentzündungen mit nachfolgender Erblindung oder schlimmeren Folgen, selbst wenn der Starstich fachgerecht durchgeführt worden war. Traten Komplikationen ein, dann waren die umherziehenden Okulisten meist schon abgereist.

Der Starstich bei Johann Sebastian Bach führte nicht zu dem gewünschten Ergebnis. In einem Nekrolog über den Barockkomponisten heißt es: „Er konnte nicht nur sein Gesicht nicht wieder brauchen, sondern sein im übrigen überaus gesunder Körper wurde auch zugleich dadurch und durch hinzugefügte Medikamente und Nebendinge gäntzlich über den Haufen geworfen, so daß er darauf ein völlig halbes Jahr lang fast immer kränklich war. Zehn Tage vor seinem Tode schien es sich gählings zu bessern, so daß er einstmals des Morgens ganz gut wieder sehen und auch das Licht vertragen konnte. Allein wenige Stunden darauf wurde er von einem Schlagflusse überfallen; auf diesen folgte ein hitziges Fieber, an welchem er, ungeachtet aller möglichen Sorgfalt zweyer der geschicktesten Leipziger Ärzte, am 28. Julius 1750 des Abends nach einem Viertel auf 9 Uhr, im 66. Jahre seines Alters, auf das Verdienst seines Erlösers sanft und seelig verschied.“ [zitiert nach: Kerner, S. 9-10].

Die Schaffenskraft Bachs als Musiker war durch die Sehbehinderung nicht beeinträchtigt. In seinen letzten Jahren arbeitete er am „Musikalischen Opfer“, einer Komposition nach einem Thema von Friedrich dem Großen. Sein letztes und unvollendetes Werk „Die Kunst der Fuge“ zeigt noch einmal die Meisterschaft des großen Künstlers. Ein ähnliches Schicksal wie Bach hatte auch Georg Friedrich Händel. Nach einem ersten misslungenen Starstich 1752, folgte 1758 ein zweiter durch Taylor ohne Erfolg.

Depressiver Pianist

Der Komponist der Romantik, Robert Schumann (1810–1856), litt an der sogenannten fokalen Dystonie. Diese Krankheit tritt bei Musikern relativ häufig auf. Die Ursachen der Erkrankung liegen nicht in einer fehlerhaften Steuerung der Muskulatur der Hand, sondern in der Großhirnrinde, wodurch der Pianist sein Instrument nicht mehr spielen kann. Robert Schumann war gezwungen, seine Karriere als Konzertpianist aufzugeben.

Zeugnis davon, wie schmerzlich dieser Einschnitt für den Künstler war, geben Zeilen, die er seiner späteren Frau Clara geschrieben hat: „Unglücklich fühle ich mich manchmal und hier gerade, daß ich eine leidende Hand habe. Und Dir will ich´s sagen: es wird immer schlimmer. Oft hab´ ich´s dem Himmel geklagt und gefragt: ´Gott warum hast Du mir gerade dieses gethan?´ Es wäre mir hier gerade von so großem Nutzen; es steht alle Musik so fertig und lebendig in mir, daß ich es hinhauchen müßte; und nun kann ich es nur zur Noth herausbringen, stolpere mit einem Finger über den Andern. Das ist gar erschrecklich und hat mir schon viele Schmerzen gemacht.“ [zitiert nach: Sandblom, S. 21].

Schumann verzagte trotz der Beeinträchtigung nicht und hat weiter Kompositionen geschrieben. Im Laufe seines Lebens wurde er immer wieder von Depressionen heimgesucht. Bereits als Jugendlicher schrieb er in sein Tagebuch: „Die Lebensgeister sind oft wie verschwunden, und war schon oft dem Wahnsinn nahe.“ Als Erwachsener machte er seinen psychischen Problemen Luft: „Ich kann kaum meiner Krankheit Herr werden, die eine recht niederdrückende Melancholie ist.“ Und: „Der Untergang ist nahe oder der Anfang eines neuen Lebens […] mir ist genauso, als würde ich Armer von Sinnen kommen.“ [zitiert nach: Kerner, S. 344].

Im Jahre 1853 diagnostizierte ein Arzt bei Schumann ein „unheilbares Gehirnleiden“. An welcher Krankheit Robert Schumann nun tatsächlich litt, darüber gingen die Urteile auseinander. Die Diagnosen reichten von „Progressiver Paralyse“ – als Spätfolge einer Syphilis-Infektion [siehe Skubella, Ulrich, Die Krankheit Robert Schumanns: Eine anrüchige Diagnose?, in: Deutsches Ärzteblatt 1999] – bis zu „Schizophrenie“.

Am 27. Februar 1854 versuchte Schumann, sich das Leben zu nehmen. In der Folge wurde er in die Irrenanstalt von Endenich bei Bonn eingeliefert, wo er zwei Jahre später starb. Eine genaue Diagnose von Schumanns Leiden ist rückblickend schwer zu stellen. Sicher scheint, dass die Erkrankung die kompositorische Kunst des Musikers gemindert hat. „Gerade die Werke aus Schumanns letzten Lebensjahren machen die peinliche Kluft zwischen Wollen und Nichtmehr- Können deutlich.“ [Kerner, S. 361]

Zerrissenheit im Zarenreich

Beim Hören der Musik des Russen Pjotr Iljitsch Tschaikowsky (1840–1893) glauben wir, der Glanz und die Seele des alten zaristischen Russland seien „auferstanden“. Die Musik des Künstlers hat eine Leichtigkeit und Fröhlichkeit, die dem Menschen Pjotr Tschaikowsky leider fehlte. In einer Welt voller gesellschaftlicher Zwänge konnte er im Zarenreich des 19. Jahrhunderts sein wirkliches Naturell nicht zeigen.

Todesnähe und Musik

Aus dem Werk Gustav Mahlers (1860–1911) sind einige Partituren mit „klagenden“ Passagen überliefert. So aus dem ersten Satz seiner Symphonie Nr. 5. Besonders deutlich sollen sich Mahlers gesundheitliche Probleme und seine Todesnähe in der musikalischen Vertonung chinesischer Dichtung widerspiegeln. „Das Lied von der Erde“ komponierte Mahler 1908. Das Werk besteht aus sechs Solo-Gesängen mit Orchester für Tenor und Alt oder Bariton. „Die edle, wenn auch zerrissene Menschlichkeit Mahlers und seine leidenschaftliche Naturliebe äußern sich in der Vertonung der zarten chinesischen Stimmungslyrik schöner und ansprechender als in allen anderen Werken.“ [Konzertführer, Wilhelmshaven 1986, S. 421].

Die unbekümmerte Art, in Spaziergängen die Natur zu erleben, wurde durch das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung zerstört. Bei Mahler wurde ein Herzleiden festgestellt. Die Ärzte empfahlen dem Komponisten, körperliche Anstrengungen zu vermeiden. Seit dieser Zeit fühlte sich Mahler in seinem Leben bedroht. Als nach einer Tonsillitis auch noch eine Streptokokkensepsis diagnostiziert wurde, glaubte sich der Musiker endgültig dem Tode nah. Tatsächlich verstarb Mahler im Mai 1911 an den Folgen einer tonsillogenen Sepsis.

Die veränderten Lebensumstände haben die Musik Mahlers in seinen letzten Jahren stark beeinflusst. Mahler war in seiner Persönlichkeit kein einfacher Mensch, durchaus mit melancholischen Wesenszügen ausgestattet. 1907 musste er nach zehnjähriger Amtszeit als Hofoperndirektor in Wien zurücktreten. In diesem Jahr starb auch seine Tochter Maria. In einem Brief an den Dirigenten und Komponisten Bruno Walter (1876–1962) äußerte sich Mahler über seinen seelischen Zustand so: „ [...] was in mir vorging und vorgeht, wissen Sie nicht; keinesfalls aber ist es jene hypochondrische Furcht vor dem Tode, wie Sie vermuten. […] ich will Ihnen nur sagen, dass ich einfach mit einem Schlage alles an Klarheit und Beruhigung verloren habe, was ich mir je errungen“ [zitiert nach: Sandblom, S. 168].

Wie außerordentlich sich die gesundheitlichen Schwierigkeiten auf Mahlers musikalisches Schaffen ausgewirkt haben, beschreibt der Psychoanalytiker und Psychologe Theodor Reik (1888–1969) in sehr anschaulicher Weise: „In seinen Briefen [Mahlers, Anmerkung des Autors] und manchen seiner Äußerungen, am deutlichsten aber in seiner Musik können wir verfolgen, wie sich Mahlers Einstellung zu seinem nahen Ende gewandelt hat – wie er selbst sich auch verändert und von allem gelöst hat, was ihm im Grunde fremd war. […] Wir erleben hier, wie ein Mensch in der Zerstörung wächst [… ] Wo andere untergehen, erhebt er sich zu ungeahnten Höhen.“ [zitiert nach: Sandblom, S. 168].

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