Die klinisch-ethische Falldiskussion

Abgebrochene Feile im Wurzelkanal

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Dominik Groß
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Hans Jörg Staehle
In diesem Fall geht es um den Umgang mit einer (zunächst) erfolglosen Wurzelbehandlung, um die Frage der Aufklärung über eine abgebrochene Feile und um die grundsätzliche Frage der Kollegialität unter Behandlern.

Es gilt zu beachten, dass es sich bei den Kommentatoren um Zahnärzte handelt, die ein besonderes Interesse für den Bereich Klinische Ethik oder eine diesbezügliche Vorbildung mitbringen. Die Kommentatoren bemühen sich im Rahmen ihrer Fallanalyse um die Abklärung bedeutsamer juristischer Hintergründe des jeweiligen Falles, sind aber keine Juristen. Dementsprechend handelt es sich bei den Kommentaren um persönliche Meinungsäußerungen aus ethischer Perspektive und nicht um rechtsverbindliche Stellungnahmen. Widerspruch, konstruktive Kritik und Zustimmung sind ausdrücklich erwünscht.

Der Fallbericht:

Die gesetzlich versicherte Patientin AG stellt sich bei ihrem Zahnarzt Dr. GS mit persistierenden Zahnschmerzen an Zahn 37 vor. Der Zahnarzt empfiehlt aufgrund der klinischen und der radiologischen Befunde eine endodontische Behandlung. Da im betreffenden Seitenzahnbereich die Zähne 35, 36 und 38 fehlen, misst GS dem Erhalt des Zahnes (Pfeilerzahn bei einem festsitzenden Zahnersatz) eine hohe Bedeutung bei. Die Patientin stimmt dem Eingriff nach der üblichen, korrekt und vollständig durchgeführten Aufklärung zu, und der Zahnarzt beginnt mit der Darstellung und Aufbereitung der Kanäle. Trotz mehrerer medikamentöser Einlagen will sich der Zahn in den nachfolgenden Wochen nicht beruhigen, so dass GS die Patientin schließlich nach einem kurzen Beratungsgespräch an einen gut bekannten Kollegen, den Spezialisten für Endodontologie Dr. MA, verweist. GS ruft persönlich in der Praxis seines Kollegen an und vereinbart einen kurzfristigen Termin.

Bereits zwei Tage später stellt sich die Patientin bei MA vor. Dieser entfernt die medikamentöse Einlage und inspiziert den Zahn. Nach einiger Zeit glaubt er in einem der drei Wurzelkanäle das Endstück einer abgebrochenen Hedström-Feile zu erkennen und fertigt ein Röntgenbild an, das diesen Verdacht bestätigt. GS hatte weder ihm noch der Patientin gegenüber eine diesbezügliche Andeutung gemacht. Obwohl MA bezweifelt, dass die abgebrochene Feile die Ursache der persistierenden Beschwerden darstellt, hält er es für angebracht, die Patientin über den unerwarteten Befund aufzuklären.

Er wählt hierfür sachliche Worte, doch die Patientin reagiert erregt und empört. Sie erklärt ihr Unverständnis, dass GS sie nicht früher an seinen Kollegen verwiesen hat, weil er doch offensichtlich mit ihrem Fall überfordert gewesen sei, und kündigt an, diesen bei der zuständigen Zahnärztekammer anzuzeigen und ihm für die vergeblich investierte Behandlungszeit und für etwaige Spätfolgen haftbar machen zu wollen. MA gelingt es nicht, sie zu beschwichtigen. Als die Patientin die Praxis verlässt, ringt MA mit Fragen:

Hat er sich unkollegial verhalten?

War es ethisch verantwortlich, die Patientin zeitnah aufzuklären, oder wäre es nicht korrekter gewesen, zuerst mit dem Kollegen Rücksprache zu halten beziehungsweise diesen zu bitten, ein derartiges Aufklärungsgespräch zu führen?

Hätte es überhaupt einer Aufklärung bedurft, wenn die Feile doch wahrscheinlich nicht einmal ursächlich für die Beschwerden war?

Hat er den Kollegen (unwillentlich und unmerklich) diffamiert und somit die Patientin zu dieser heftigen Reaktion provoziert?

Was hätte er insgesamt anders machen sollen oder können?

Dominik Groß, Aachen

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Kommentar 1

Bei endodontischen Eingriffen kann es zu Problemsituationen (wie persistierenden Zahnschmerzen) und Komplikationen (etwa Instrumentenfrakturen) kommen, ohne dass sich hieraus automatisch ein Behandlungsfehler ableiten lässt. Der erstbehandelnde Zahnarzt hat insofern korrekt gehandelt, als er die Patientin an einen Spezialisten für Endodontologie überwies, nachdem die Schmerzsymptomatik für ihn nicht beherrschbar war. Nach einem endodontischenEingriff besteht die Verpflichtung, alle Aufbereitungsinstrumente auf Unversehrtheit zu überprüfen. Ob der erstbehandelnde Zahnarzt dieser Verpflichtung nachgekommen ist, ist nicht bekannt. Falls er einen Hinweis auf eine Instrumentenfraktur gehabt hätte, hätte er dies sowohl der Patientin als auch dem Kollegen mitteilen müssen. Aber auch die Vorgehensweise des Spezialisten für Endodontologie lässt einige Fragen offen. In der hier beschriebenen Situation hätte man zunächst eine umfassende Anamnese und Befunderhebung (einschließlich der Anfertigung eines Ausgangs-Röntgenbildes) erwartet und nicht die sofortige Manipulation an einem vorbehandelten und offenbar komplexen Kanalsystem. Durch eine erst nachfolgend hergestellte Röntgenaufnahme kann er unter Umständen selbst in Bedrängnis geraten (Wurde das Instrument womöglich von ihm selbst frakturiert?). Dass er die Patientin nach Erkennen des frakturierten Instruments (über dessen Größe wir nichts erfahren) sofort aufgeklärt hat, war richtig, da er sich sonst selbst dem Vorwurf einer mangelnden Aufklärung ausgesetzt hätte. Allerdings ist nicht auszuschließen, dass man bei anderer Vorbereitung und Gesprächsführung den Unmut der Patientin besser hätte steuern können. Bei Anfertigung eines Ausgangsröntgenbildes hätte der Spezialist ein frakturiertes Instrument vermutlich noch vor jeglicher Intervention am Zahn bemerkt und den Überweiser frühzeitig anrufen können, um eine Abstimmung vorzunehmen. Aus der vorgegebenen Datenlage ist nicht erkennbar, ob einer der beiden behandelnden Zahnärzte gegen einzelne der vier Prinzipien ethischer Entscheidungen [Beauchamp/Childress, 2009] verstoßen hat (Kasten). Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lassen sich die Fragen wie folgt beantworten:

Der Zweitbehandler hat sich nicht unkollegial verhalten.

Es war ethisch verantwortlich und aus juristischer Sicht auch notwendig, die Patientin noch am Tag der Identifikation des Instrumentenfragments aufzuklären.

Es hätte der Aufklärung in jedem Fall bedurft, auch wenn das frakturierte Instrument möglicherweise nicht Ursache für die Beschwerden war.

Ob der überweisende Kollege durch eine „ungeschickte“ Gesprächsführung unwillentlich diffamiert wurde, lässt sich nicht hinreichend beantworten, da der Gesprächsablauf nicht genau bekannt ist.

Der Spezialist für Endodontologie wäre gut beraten gewesen, vor jeglichen Manipulationen am Kanalsystem des betroffenen Zahnes eine umfassende Ausgangsdiagnostik zu betreiben (einschließlich der Sichtung aller vorhandenen Röntgenbilder, außerdem Neuanfertigung zumindest eines Röntgenbildes vom vorbehandelten Zahn). Nach der unerwartet entrüsteten Reaktion der Patientin war der Versuch einer Deeskalation und Beschwichtigung angemessen. Anzuraten wäre auch die zeitnahe Information des Überweisers. Es ist möglich, dass die Instrumentenfraktur vom Überweiser entweder nicht verursacht oder nicht bemerkt wurde (eventuell sehr kleines, schwer erkennbares Fragment). Ansonsten hätte man erwartet, dass er eine entsprechende Aufklärung sowohl der Patientin als auch des Kollegen betrieben hätte. Die Tatsache, dass er die Patientin überhaupt an einen Spezialisten überwiesen hat, ist angesichts der in Deutschland wenig etablierten Überweisungskultur als vorbildlich einzustufen. Dass sich die Situation dann doch so negativ entwickelte, erscheint äußerst bedauerlich, da der erstbehandelnde Kollege aus dieser Erfahrung möglicherweise bei einem ähnlich gelagerten Fall in der Zukunft von einer Überweisung Abstand nehmen wird.

Hans-Jörg Staehle, Johannes Mente

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Kommentar 2

Im vorliegenden Fall ist entscheidend, wie mit dem unerwünschten Zwischenfall einer Instrumentenfraktur bei der endodontischen Behandlung (Zahn 37) im Kontext einer Überweisung umgegangen wurde. Es kommt maßgeblich darauf an, dass der Patientin klar vermittelt wird, dass ein solcher Zwischenfall keineswegs als Behandlungsfehler oder gar als ein grober „Kunstfehler“ anzusehen ist, sondern dass dieser selbst sehr erfahrenen, ausgewiesenen Spezialisten unterlaufen kann. So wirbt ein namhafter Instrumentenhersteller für sein „Endo-Rescue-Kit“ explizit mit der Begründung, die Frakturrate habe im Zeitalter maschineller Aufbereitung zugenommen – ein deutlicher Hinweis auf das nach wie vor bestehende Risiko einer abgebrochenen Endodontie-Feile.

In diesem Fall ist dem Erstbehandler nicht aufgefallen, dass eines seiner Instrumente im Kanal gebrochen war. Das sollte nicht vorkommen, wenn man sorgfältig arbeitet und jedes Instrument wiederholt auf seine Länge prüft. Dies ist dem Erstbehandler hier also durchaus vorzuwerfen: Er hätte den Bruch sofort erkennen und der Patientin auch mitteilen müssen.

Die Überweisung zum Spezialisten ist des ungeachtet als eine gute Entscheidung im Sinne einer verantwortungsbewussten, „befundadäquaten“ Behandlung anzusehen, wie sie letztlich einem jeden Patienten zusteht: Der Hauszahnarzt hatte wohl erkannt, dass er den Zahn nicht hinreichend aufbereiten konnte und daraus die richtige Konsequenz gezogen (und damit auch auf GKV-Umsatz verzichtet).

Die Entscheidung des Hauszahnarztes, zunächst eine Aufbereitung zu versuchen, war richtig. Er hätte die Instrumentenfraktur allerdings bemerken müssen. Die idealtypische, fachlich korrekte und ethisch verantwortliche Vorgehensweise hätte danach folgendermaßen ausgesehen:

Die Patientin wäre zunächst – möglichst anhand einer Röntgenaufnahme – aufgeklärt worden. Hierbei hätte der Zahnarzt auf seine initiale Aufklärung über die Risiken der endodontischen Behandlung Bezug nehmen können, da zu dieser auch die Aufklärung über einen möglichen Instrumentenbruch gehört. Zugleich hätte er deutlich machen können, dass man derartige Fragmente oftmals gut entfernen kann. Danach wäre eine Überweisung – zur Fragmententfernung und Weiterbehandlung – unter Beigabe des Röntgenbildes sinnvoll gewesen.

So aber sieht der Hauszahnarzt möglicherweise einer juristischen Auseinandersetzung entgegen. Hierbei könnte sich zeigen, dass nicht die Fraktur als Fehler einzustufen ist, sondern der Umstand, dass diese nicht bemerkt und nicht kommuniziert worden ist. Das kann Schmerzensgeldforderungen nach sich ziehen, die in aller Regel von der Haftpflichtversicherung getragen werden.

Vor diesem Hintergrund sind die konkreten Fragen folgendermaßen zu beantworten:

Ja, das Verhalten des Endodontie-Spezialisten kann als wenig kollegial angesehen werden.

Es wäre ratsam gewesen, zunächst Rücksprache mit dem Hauszahnarzt zu halten – auch um zu klären, ob diesem die Instrumentenfraktur tatsächlich nicht aufgefallen war oder ob er diesen heiklen Punkt nicht anzusprechen wagte.

Eine Patientenaufklärung ist in solchen Fällen ohne Alternative, und sie muss zudem zeitnah erfolgen.

Der Spezialist hat zwar nicht „diffamiert“, aber seinen Kollegen durch eine offensichtlich unglückliche, nicht hinreichend sensible Gesprächsführung in ein schiefes Licht gerückt. Insofern hat er auch die heftige Reaktion der Patientin mitverursacht. Er hätte den Verdacht eines „Behandlungsfehlers“ des Hauszahnarztes gar nicht erst aufkommen lassen sollen.

Er hätte erst den Hauszahnarzt kontaktieren sollen, um dann die Patientin zu informieren, dass hier ein Instrumentenbruch vorgefallen sei, der niemals ganz ausgeschlossen werden könne.

Derartige Fälle landen leider immer öfter vor Gericht. Häufig beanstandet das Gericht eine mangelnde Aufklärung (wobei im vorliegenden Fall allerdings von einer initialen Aufklärung über die Risiken der endodontischen Behandlung berichtet wird) und gewährt unter Umständen ein Schmerzensgeld, ohne das Verhalten jedoch als Behandlungsfehler einzuordnen.

Paul Schmitt, Frankfurt

Korrespondenzadressen:

Univ.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Dr. phil. Dominik GroßInstitut für Geschichte, Theorie und Ethik der MedizinUniversitätsklinikum der RWTH AachenWendlingweg 252074 Aachengte-med-sekr@ukaachen.deDr. med. dent. Paul SchmittLiederbacher Str. 1765929 Frankfurt am Maindr.paul_schmitt@web.deUniv.-Prof. Dr. med. Dr. med. dent. Hans Jörg StaehleDr. med. dent. Johannes MentePoliklinik für ZahnerhaltungskundeMZK-Klinik des Universitätsklinikums HeidelbergIm Neuenheimer Feld 40069120 Heidelberghans-joerg.staehle@med.uni-heidelberg.dejohannes.mente@med.uni-heidelberg.de

INFO

Medizinethik

Die vier Prinzipien ethischer Entscheidungen nach Beauchamp/Childress:

Respekt vor der Patientenautonomie (Autonomieprinzip)

• Prinzip der Non-Malefizienz (Nichtschadensgebot)

• Benefizienz-Prinzip (Gebot des ärztlichen Wohltuns)

• Gebot einer gerechten Behandlung (Gerechtigkeitsprinzip)

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