Der besondere Fall

Operative Therapie einer bereits erwachsenen LKG-Patientin

Heftarchiv Zahnmedizin
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Peer W. Kämmerer
Lippen-, Kiefer- und Gaumenspalten (LKG-Spalten) zählen mit einer Inzidenz von 1:750 bis 1:2500 Geburten [Tinanoff, 2007] zu den häufigsten angeborenen Fehlbildungen. In den meisten Fällen beginnt die operative Behandlung der Lippe innerhalb der ersten drei Lebensmonate, der Gaumenverschluss findet im ersten Lebensjahr statt. Operativ nicht angegangene LKG-Spalten bei erwachsenen Patienten werden in Ländern mit einer umfassenden medizinischen Versorgung heutzutage nur noch selten gesehen. Im Folgenden wird daher von einem Fall einer erst im Erwachsenenalter operierten LKG-Patientin aus Indien (Fall und Operateur Dr. Kumar) berichtet.

Eine 20-jährige Frau stellte sich in Begleitung ihrer Mutter in der Ambulanz einer Abteilung für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie in Mumabi, Indien, vor. Ihr Hauptanliegen war eine Korrektur der fazialen Ästhetik bei Vorliegen einer nicht voroperierten, linksseitigen Lippenspalte (Abbildung 1).

Im anamnestischen Gespräch stellte sich heraus, dass die Patientin aufgrund ihres Äußeren an extremen Minderwertigkeitsgefühlen litt. Sie war nie zur Schule gegangen, verbarg ihr Gesicht gewöhnlicherweise mit einem Halstuch und vermied es, zu anderen Menschen außer zu ihrer Mutter zu sprechen. Diese fügte hinzu, dass der Vater der Patientin die Familie nach der Geburt des fehlgebildeten Kindes aufgrund dieser Missbildung verlassen hatte.

In der klinischen Untersuchung zeigte sich eine komplette Lippenspalte der linken Seite.

Das linke Nasenloch war um die Spalte herum erweitert, die Nase selbst durch eine Verschiebung in die kontralaterale Gesichtshälfte deformiert. Es bestand eine Protrusion der Zähne 12, 11 und 13 nach vestibulär durch die Spalte. Enoral imponierte weiterhin eine offene Gaumenspalte (Abbildung 2). Die Molaren befanden sich in Klasse-I-Okklusion nach Angle, ein interdentales Spacing konnte zwischen den Zähnen 13 bis 24 befundet werden; 11 und 21 waren rotiert, 22 nicht zu sehen. Im anterioren Bereich des rechten Oberkiefers hatte sich ein skelettal offener Biss entwickelt. Während des Sprechens oder Schluckens kam es zu einem Vorstrecken der Zunge.

Die radiologische Untersuchung bestand aus einem Orthopantomogramm (OPTG), einer Aufbissaufnahme sowie einer Fernröntgenseitaufnahme (FRS). Neben der Übersicht der Gebissituation mit Nachweis des nicht durchgebrochenen Zahnes 22 im OPTG (Abbildung 3) war in der Aufbissaufnahme der Umfang der knöchernen Gaumenspalte klar zu erkennen (Abbildung 4). Das FRS ließ – bis auf die vertikal anterior verkürzte Maxilla und eine Protrusion der anterioren Prämaxilla – einen weitgehend normalen knöchernen Befund diagnostizieren (Abbildung 5).

Behandlungsziele

Zusammen mit der Patientin wurden die Behandlungsziele festgelegt, die sich in ihrer Reihenfolge wie folgt zusammensetzten:

1) chirurgische Korrektur der protrudierten Prämaxilla,

2) chirurgische Korrektur der Lippenspalte und der Weite der Nasenlöcher,

3) chirurgische Korrektur der Gaumenspalte,

4) postoperative kieferorthopädische Behandlung,

5) abschließende Rhinoplastik.

Aufgrund der schweren Protrusion des Oberkiefers war ein primärer Lippenspaltverschluss nicht möglich. Operativ wurde in Lokalanästhesie daher eine vertikale Osteotomie im Frontzahnbereich durchgeführt, das aus dem Nasenboden gewonnene Segment nach kaudal verlagert (Abbildung 6) und über eine Osteosyntheseplatte fixiert. Die Wunde verheilte trotz schlechter Compliance der Patientin komplikationslos, daher konnte sechs Wochen nach der ersten Operation der Verschluss der Lippenspalte angegangen werden. Der Lippenverschluss wurde in Lokalanästhesie durch eine extendierte Rotations-Advancement-Technik nach Millard [Millard, 1975] mit einer Extension um die Basis des linken Nasenflügels durchgeführt. Die Enden der Spalte wurden freigelegt und das labiale Gewebe von dem kleineren Segment an das Gewebe des größeren Segments herangeführt. Es erfolgte anschließend ein dreischichtiger Verschluss. Die Nähte wurden am sechsten postoperativen Tag entfernt (Abbildung 7).

Obwohl mit der Patientin regelmäßige Nachsorgetermine vereinbart waren, erschien sie nicht zur Behandlung, was unter anderem in der Anreisezeit von über acht Stunden begründet war. Sie erschien nach sechs Monaten mit gut verheilten Wunden, obwohl sie anamnestisch zwischen der zweiten und der dritten postoperativen Woche eine Wundinfektion erlitten hatte. Das Selbstwertgefühl der Patientin hatte sich inzwischen deutlich verbessert, und das chirurgische Team hatte zum ersten Mal die Möglichkeit, ihr Lächeln zu sehen (Abbildung 8). Termine zum Verschluss des Gaumens in Intubationsnarkose wurden mit der Patientin vereinbart, aber bis heute noch nicht wahrgenommen.

Diskussion

Der Anteil nicht behandelter Patienten mit LKG-Spalten nimmt derzeit aufgrund sich verbessernder Aufklärung und fortgeschrittener medizinischer Möglichkeiten glücklicherweise auch in sogenannten Schwellenländern ab. Dies ist wesentlich auch der Verdienst diverser humanitärer Organisationen, die bei der Behandlung derartiger Fehlbildungen personelle und finanzielle Hilfe leisten. Adulte LKG-Patienten weisen oftmals nicht nur auffällige faziale Deformitäten auf, sie leiden nicht selten zusätzlich an schweren psychosozialen Beeinträchtigungen, die nicht zuletzt ihre Ursache in der Stigmatisierung durch die Umgebung finden. Eine Literaturrecherche zeigte anekdotische Berichte [Mantinaos, 1991], Fallschilderungen fazialer Wachstumsmuster und dentaler Anormalitäten [Derijcke et al., 1994; Will, 2000; Capelozza, Taniguchi et al., 2004; Shetye, 2004] sowie einige Berichte, die sich mit den (peri-)operativen Prozeduren der primären Wiederherstellung unbehandelter adulter LKG-Spalten beschäftigten [Kumar, 1987; Ward and James, 1990; Morioka et al., 2007]. Der hier vorliegende Fallbericht ermöglicht eine Analyse von Wachstum und Entwicklung derart unbehandelter LKG-Spalten und einen Vergleich mit dem Situs behandelter Patienten. Ein posteriorer Kreuzbiss wird häufig bei im Kindesalter operierten LKG-Patienten gesehen, während dieser – wie auch hier – bei adulten Patienten weit seltener vorkommt. Früh operierte LKG-Patienten zeigen vermehrt eine Retrusion des Oberkiefers. Die hier gesehene Protrusion der Prämaxilla ist eher typisch bei Patienten mit nicht operierten LKG-Spalten, wobei vor allem der anteriore Zungendruck verantwortlich gemacht wird [Lambrecht et al., 2000]. Dieser Zungendruck, mit dem die Patienten versuchen, einen Abschluss zwischen Mund- und Nasenraum zu erreichen, könnte auch die Ursache für den anterior offenen Biss in diesem Fall sein. Bei der Patientin wurde als erstes eine prämaxilläre Osteotomie durchgeführt, um später einen suffizienten Lippenschluss zu erreichen. Ähnliche Fälle wurden in der Literatur durch Zahnextraktionen behandelt [Ward and James, 1990; Morioka et al., 2007], hier konnten die Zähne jedoch komplett vital erhalten werden. Zähne und Gingiva waren suffizient über die intakte palatinale Mukosa, die labiale Mukosa über den intakten bukkalen Pedikel mit Blut versorgt. Die beiden chirurgischen Behandlungen wurden in Lokalanästhesie nach einer bilateralen Leitungsblockade des Nervus infraorbitalis sowie einer palatinalen Infiltration durchgeführt [Morioka et al., 2007]. Diese Methode verringert die operativen Kosten und erlaubt eine größere Anzahl operativer Eingriffe, auch in krankenhausfernen Gebieten. Die Operation des Gaumens und die Rhinoplastik waren unter Intubationsnarkose terminiert, konnten jedoch, ebenso wie die kieferorthopädische Behandlung, nicht begonnen werden. Zusammengefasst wird hier ein eher unüblicher Fall einer unbehandelten Lippen- und Gaumenspalte vorgestellt. Die Notwendigkeit supportiver Hilfeleistungen derartig stigmatisierter Patienten, gerade in abgelegenen Gegenden „unentwickelter“ Länder ist offensichtlich. Auch aufgrund der entfernungsbedingten administrativen Schwierigkeiten konnte der hier gezeigte Fall nicht abschließend operiert werden. Weiterhin wird anhand einer vertikalen Osteotomie der anterioren Prämaxilla ein neues Therapiekonzept diskutiert.

Dr. Vinay KumarDr. Dr. Peer KämmererKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieAugustusplatz 255131 MainzUniversitätsmedizin Mainzpeer.kaemmerer@unimedizin-mainz.de

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