Gesundheitliche Versorgung in Europa

Kranksparen im Zeichen der Krise

pr
Vier Jahre dauert die EU-Wirtschafts- und Finanzkrise nun an. Die Rezession, von der die europäischen Staaten unterschiedlich stark betroffen sind, wirkt sich inzwischen zum Teil auch auf die Gesundheitssysteme aus. Dies meint nicht nur die eingeschränkte Verfügbarkeit von Therapieangeboten, sondern auch die Zunahme bestimmter Krankheitsbilder sowie die Reduktion des medizinischen Personals in den von der Krise am härtesten betroffenen Ländern.

Die italienische Regierung will bis Ende 2014 rund 26 Milliarden Euro einsparen. Ein Großteil davon betrifft das Gesundheits- wesen. Auch in Spanien regiert aufgrund der schweren Wirtschaftskrise der Rotstift. Selbst in der als reich geltenden Provinz Katalonien fehlen Medienberichten zufolge inzwischen 400 Millionen Euro für Krankenhäuser und Altenheime. Außerdem soll sich die medizinische Versorgung von illegalen Einwanderern auf der iberischen Halbinsel künftig nur noch auf Kinder, Schwangere und Notfälle beschränken.

In Griechenland nutzt bereits eine große Anzahl von Bürgern die Ambulanzen von Hilfsorganisationen, wie „Ärzte der Welt“, die eigentlich nur für Obdachlose, Prostituierte, Drogenabhängige und Asylsuchende gedacht sind.

Experten warnen

Gesundheitsexperten sehen diese Entwicklung mit großer Sorge. „Die europäischen Politiker sollten lernen, dass die strikte Sparpolitik sowohl der Wirtschaft als auch der Gesundheit schadet“, machte Prof. Dr. Martin McKee von der „London School of Hygiene and Tropical Medicine“ beim diesjährigen „European Health Forum“ (EHFG) im österreichischen Gastein deutlich. Durch drastische Einsparungen im Gesundheitswesen würde die jeweilige Bevölkerung regelrecht „krankgespart“.

Wie hoch die Kürzungen in den zurück- liegenden Jahren ausgefallen sind, belegen OECD-Daten. So kam es beispielsweise 2010 nach Jahren steigender Gesundheitsausgaben in einer Reihe von europäischen Ländern zu drastischen Einschnitten: minus 7,6 Prozent in Irland, minus 7,3 Prozent in Estland, minus 6,5 Prozent in Griechenland. In Lettland gingen Studien zufolge die Gesundheitsbudgets von 2008 bis 2010 um 25 Prozent zurück, in der Tschechischen Republik waren es 30 Prozent.

Die Auswirkungen der Wirtschaftskrise und der Sparmaßnahmen auf den Gesundheitszustand der Menschen seien inzwischen unübersehbar, so McKee. So suchten in Spanien deutlich mehr Menschen als vor der Krise wegen psychischer Probleme, vor allem Depressionen, einen Arzt auf. In Griechenland wiederum sei die Zahl der stationär aufgenommenen Patienten allein zwischen 2009 und 2010 um 24 Prozent angestiegen. Das griechische Gesundheitsministerium berichtete zudem in der ersten Jahreshälfte 2011 von einem Anstieg der Selbstmordrate um 40 Prozent gegenüber derselben Periode im Vorjahr – vermutlich infolge der gestiegenen Arbeitslosigkeit.

Zwar seien einige Ausgabenkürzungen im Gesundheitswesen durchaus sinnvoll, um ineffiziente Strukturen zu beseitigen. Doch in vielen Fällen gebe es keinerlei Nachweis für einen Nutzen, betonte McKee. „Die gesamten Folgen der vielfältigen Einschnitte im Gesundheitssystem sind noch kaum absehbar. Sicher ist, dass sie vor allem Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes oder Krebs betreffen werden.“

Personal wandert ab

Die wirtschaftlich angespannte Situation wirkt sich darüber hinaus auch auf das Personal im Gesundheitswesen aus. „Die erste Konsequenz der Krise ist eine unmittelbare finanzielle Wirkung auf die Ärzteschaft, die zu zunehmender Demotivation führen kann“, erklärte Dr. Edwin Bormann, Generalsekretär der Europäischen Vereinigung der Fachärzte. In Rumänien etwa führte eine 25-prozentige Kürzung der Krankenhaus-gehälter zur Abwanderung von rund 2 500 Ärztinnen und Ärzten. Auch bei Pflege- kräften wird zum Teil kräftig gespart. „Ein Beispiel ist etwa Bulgarien, wo die Gehälter des Pflegepersonals 2010 um 10 bis 25 Prozent gekürzt wurden“, sagte EHFG- Präsident Prof. Dr. Günther Leiner. Andere Länder frören dagegen die Personalstände ein und besetzten frei werdende Stellen – wenn überhaupt – nur zum Teil nach.

„Die Ressourcen werden ebenfalls einge- froren und die Ärzteschaft muss sich mit den Konsequenzen arrangieren. In manchen Fällen wird die eingeschränkte Verfügbarkeit von Medikamenten und Ausrüstung zwangsläufig zur Rationierung führen“, kritisierte Bormann. Erste Anzeichen hierfür gibt es bereits: In Rumänien beispielsweise kam es 2011 zu einem dramatischen Rückgang beim Einsatz von Zytostatika, wie aus einer Anfrage des EU-Parlaments hervorgeht. Rund 10 000 Patienten würden seither auf eine möglicherweise lebensrettende Behandlung warten.

Zuzahlungen eingeführt

In manchen Staaten wiederum müssen die Patienten inzwischen deutlich tiefer in die Tasche greifen, wenn sie medizinische Leistungen in Anspruch nehmen wollen. In Italien etwa wurde eine Kostenbeteiligung für Besuche von Facharztordinationen oder Notaufnahmen eingeführt, während in Portugal die Zuzahlungen, die Patienten für den Besuch einer Notfallambulanz bezahlen müssen, auf 20 Euro verdoppelt wurden.

Dr. Thomas Czypionka vom „Institut für Höhere Studien“ in Wien wies zugleich darauf hin, dass die Wirtschaftskrise sich nicht nur nachteilig auf das Gesundheitswesen auswirken müsse. In Zeiten einer Rezession berge der Kostendruck vor allem für hoch entwickelte Länder die Chance, Reformen im Gesundheitssektor zu beschleunigen. Allerdings ließe sich dieses Phänomen nur dann nutzen, wenn schon vor der Krise ernsthafte Konzepte für Reformen entwickelt worden seien.

Um die negativen Folgen der Krise für die Gesundheits- und Sozialsysteme zu verringern und um Impulse für die ökonomische Erholung zu setzen, schlägt McKee eine Drei-Punkte-Strategie für Europa vor. Zum einen müsste über Regulationsmaßnahmen eine gleichmäßige Risikoverteilung im europäischen Bankenwesen erreicht werden, damit einzelne Länder nicht in unüber-windbare Schwierigkeiten geraten, weil sie das Risiko für Banken, die in ihrem Land registriert sind, auffangen müssen. Zum anderen fordert er eine gezielte Förderung von kleinen und mittleren Unternehmen als wesentliche Träger einer wirtschaftlichen Stabilisierung. Und schließlich müsse mehr Geld in die Gesundheitssysteme fließen: „Das ist nicht nur unbedingt notwendig im Sinne einer besseren Gesundheits- versorgung, sondern Investitionen in den Wachstumsmarkt Gesundheit würden auch Wachstumsimpulse setzen“, ist sich McKee sicher.

Petra SpielbergAltmünsterstr. 165207 Wiesbaden

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.