Begleiterscheinungen von Medikamenten

Orale Dyskinesien

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Daria Pakosch, Martin Kunkel

Eine 66-jährige Patientin stellte sich im Notdienst mit seit zwei Monaten progredienten oromandibulären Dyskinesien mit abnormen Zungenbewegungen und kauenden Bewegungen des Unterkiefers vor. Begleitet von Schmerzen war es der Patientin nicht möglich, den Mund in Ruhe geschlossen zu halten. Sobald die Patientin aktive Bewegungen unterließ, kam es innerhalb weniger Sekunden zu unwillkürlichen Exkursionsbewegungen des Unterkiefers und der Zunge (Abbildungen 1a und 1b). Diese Bewegungen ließen sich durch gezielte, bewusste motorische Aktivitäten sofort unterbrechen, um nach dem Ende der aktiven Bewegungen sofort wieder aufzutreten. Abbildung 2 zeigt die Patientin beim aktiven Vorlesen eines Textes a) und wenige Augenblicke nach dem Beenden des Vorlesens b). In der klinischen Untersuchung zeigten sich die Schleimhäute reizlos und intakt. Im Bereich der Kiefergelenke lag beidseits ein Druckschmerz vor, die Bewegung der Kiefergelenke war allerdings nicht eingeschränkt. In der extraoralen Untersuchung der Haut und der Muskulatur waren keine Auffälligkeiten vorzufinden. Die Computertomografie des Kopfes stellte sich unauffällig und altersgerecht dar, insbesondere konnten keine Blutung, kein Tumor und keine frische Ischämie nachgewiesen werden. Im Zusammenhang mit einer länger zurückliegenden, anamnestisch angegebenen neuroleptischen Medikation war daher am ehesten von einer Medikamenten-induzierten Dyskinesie auszugehen, so dass die Patientin aufgrund des erheblichen Leidensdrucks an die neurologische Universitätsklinik des Hauses weitergeleitet wurde.

Dort erfolgten in der weiteren Diagnostik die Bestimmung somatosensibler evozierter Potenziale (SEP) und eine Magnetstimulation (MEP), um die sensiblen und zentralmotorischen Leitungsbahnen zu überprüfen. Hierbei zeigte sich eine Läsion der somatosensiblen Afferenzen der Beine. Die Überprüfung der MEP ergab keinen Hinweis auf eine Läsion der pyramidalen Efferenzen der Arme und Beine.

Abschließend wurde die Symptomatik der abnormen Zungen- und Kaubewegung des Unterkiefers der Patienten dann auch als Spätdyskinesie infolge der vorhergegangenen Medikation klassifiziert. Daraufhin wurde eine Therapie mit dem Anticholinergikum Biperiden eingeleitet. Hierunter zeigte sich eine deutliche Besserung der subjektiven und objektivierbaren Beschwerden der Patientin, so dass die Therapie mit Biperiden unter regelmäßiger neurologischer Wiedervorstellung fortgeführt wurde.

Diskussion

Oromandibuläre Dyskinesien zeichnen sich durch abnorme Bewegungen und Tonusstörungen (Dystonien) aus, die häufig mit dem Gebrauch von psychoaktiven Medikamenten (oder auch Drogen) assoziiert sind. Dyskinesien sind ununterbrochene, sich wiederholende, kurze, unwillkürliche Muskelkontraktionen. Dystonien hingegen beschreiben eine persistierende Körperhaltung, die durch ein gestörtes Zusammenspiel der muskulären Agonisten und Antagonisten ausgelöst wird [Lee, 2007].

Die typischen oromandibulären Dystonien gehören zum Komplex der fokalen Dystonien und können abhängig von ihrer Hauptlokalisation noch in Untergruppen, wie zum Beispiel kieferschließende oder kieferöffnende Dystonien sowie Dystonien der Lippen, der Zunge oder des Pharynx unterteilt werden. Klinisch können sich, wie im vorliegenden Fall, ununterbrochene und sich wiederholende Kontraktionen der Zunge, der Lippen und der Pharynxmuskulatur sowie der Kaumuskulatur zeigen [Papapetropoulos and Singer, 2006]. Daraus resultiert das Bild einer unkontrollierten Kieferöffnung beziehungsweise -schlussbewegung sowie der Kieferdeviation, des Grimassierens und der abnormen Zungenbewegungen. Diese Symptome können, wie im vorliegenden Fall, phasenweise durch aktive Bewegungs-Impulse unterdrückt werden, sie können aber auch das Kauen, Schlucken und Sprechen stören [Sankhla et al., 1998]. Eine in der Zahnheilkunde bedeutsame Variante dieser Bewegungsstörungen betrifft ältere Patienten, die unter neuroleptischer Medikation nicht selten hartnäckig rezidivierende Kiefergelenkluxationen erleiden (Abbildung 3).

Neben primär idiopathischen Dyskinesien/Dystonien und durch hirnorganische Schäden (beispielsweise durch Tumoren oder vaskuläre Erkrankungen) verursachten Formen sind Medikamente wie Neuroleptika oder seltener Antiemetika relevante Ursachen, die in der Regel anamnestisch erfasst werden können. Ursächlich ist hierbei eine verminderte Aktivität der inhibitorischen kortikalen motorischen Efferenzen, die zu einer insuffizienten Unterdrückung motorischer Bewegungsabläufe führt [Schmidt et al., 2008].

Generell sollte bei neu aufgetretenen oralen Dyskinesien umgehend eine neurologisch-fachärztliche Untersuchung veranlasst werden, da zum einen potenzielle ursächliche Erkrankungen (siehe oben) erkannt beziehungsweise ausgeschlossen werden müssen und da zum anderen eventuell eine Änderung oder Adaptierung der ursächlichen Medikation vorgenommen werden muss. Auch die symptomatische Therapie mit einem Anticholinergikum wie Biperiden bedarf einer fortlaufenden neurologischen Betreuung.

Für die zahnärztliche Praxis soll der Fall auf die Bedeutung medikamentöser Begleiteffekte und Nebenwirkungen in einer zunehmend älteren und multimorbiden Bevölkerung hinweisen, zumal diese Patienten tatsächlich sehr regelmäßig im zahnärztlichen Notdienst vorgestellt werden.

Daria PakoschProf. Dr. Dr. Martin KunkelKlinik für Mund-, Kiefer- und plastische Gesichtschirurgie Ruhr-Universität BochumKnappschaftskrankenhaus Bochum-LangendreerIn der Schornau 23-2544892 Bochumdaria.pakosch@ruhr-uni-bochum.demartin.kunkel@ruhr-uni-bochum.de

Fazit für die Praxis

• Oromandibuläre Dyskinesien treten insgesamt sehr selten auf und äußern sich als unwillkürlich wiederholende Bewegungsabläufe (Mund öffnen, Laterotrusion des Unterkiefers, Zungenbewegungen).

• Oromandibuläre Dyskinesien können durch den Gebrauch von Neuroleptika oder des Antiemetikums Metoclopramid hervorgerufen werden.

• Rezidivierende Kiefergelenkluxationen des älteren Patienten sind häufig durch Neuroleptika-induzierte Dyskinesien verursacht.

• Diagnostik und Therapie erfordern eine spezielle neurologische Expertise und gehören in die Hand eines Facharztes für Neurologie.

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