Personalisierte Medizin

Zielgenaue Therapie für wenige Patienten

In den Augen der Befürworter gehört der personalisierten Medizin die Zukunft. In der jüngeren Vergangenheit gab es kaum einen Kongress, bei dem die genbasierte Arzneitherapie nicht das herausragende Thema gewesen wäre. Doch neben all den Verheißungen einer individualisierten Medizin mehren sich nun auch die kritischen Stimmen.

Menschen mit scheinbar derselben Krankheit können völlig unterschiedlich auf dasselbe Medikament reagieren – und zwar unabhängig davon, wie gut das Arzneimittel in Studien seine Wirksamkeit belegen konnte. Während einige Patienten schon bei geringer Wirkstoffdosierung deutlich profitieren, erleben andere auch bei einer höheren Dosis keine Besserung und leiden stattdessen an schweren Nebenwirkungen. Seit einigen Jahren versucht die sogenannte personalisierte Medizin, diese individuellen Unterschiede anhand der genetischen Merkmale eines Patienten zu erklären und bei der Behandlung und Prognose von Krankheiten zu berücksichtigen. Das Versprechen dahinter: Die Arzneimitteltherapie soll zielgenauer werden. Patienten können also für bestimmte Medikamente genetisch getestet werden, ob sie von diesem Mittel höchstwahrscheinlich profitieren werden – ist dies nicht der Fall, können sie stattdessen auf ein alternatives Präparat wechseln.

„Das in der Arzneimitteltherapie bisher praktizierte „One-fits-all-Prinzip“ führt dazu, dass je nach Indikationsgebiet 20 bis 80 Prozent der behandelten Patienten einen ungenügenden Nutzen aus ihren Medikamenten ziehen oder Nebenwirkungen ausgesetzt sind, die unter Umständen vermeidbar wären. Die personalisierte Medizin ist eine Weiterentwicklung auf dem Weg zur effektiveren Therapie“, sagt Hagen Pfundner, Chef des Schweizer Pharmariesen Roche. Sein Konzern entwickelt bereits heute nach eigenen Angaben für jedes in der Entwicklung stehende Medikament auch einen entsprechenden Gentest mit.

Unterschiedliche Mutationen

Ein gutes Beispiel für die Vorteile der personalisierten (oder auch individualisierten) Medizin ist der Darmkrebs. Generell zeichnen sich die Krebszellen – wie bei allen Tumoren – gegenüber gesunden Körperzellen durch eine Reihe von Genmutationen aus; doch finden sich im Tumorgewebe verschiedener Patienten mit dieser Krebsart nicht unbedingt die gleichen Mutationen. Von den Mutationen hängt jedoch ab, ob bestimmte Therapien wirksam sind. So können Medikamente mit den Wirkstoffen Cetuximab oder Panitumumab bei fortgeschrittenem Darmkrebs nur dann wirken, wenn ein bestimmtes Gen (KRas) noch nicht mutiert ist. Dies ist bei etwa 60 Prozent der Patienten der Fall. Mit einem Gentest, der bei dieser Erkrankung mittlerweile verpflichtend ist, lässt sich bei einer Gewebeprobe aus dem Tumor feststellen, ob die Medikamente für einen bestimmten Patienten in Betracht kommen oder nicht. Falls nicht, plant der Arzt eine andere Therapie.

Allerdings scheinen neben den beschriebenen Genmutationen noch weitere Faktoren für den Erfolg der Behandlung bedeutsam zu sein. Das heißt, mit den Mitteln der personalisierten Medizin kann nur abgeschätzt werden, ob ein Medikament für einen Patienten höchstwahrscheinlich geeignet ist – eine absolut sichere Aussage ist nicht möglich.

Erhebliche Fördermittel

Das Genom des  Menschen ist gerade mal seit etwas mehr als zehn Jahren vollständig entschlüsselt. Die vielfältigen Zusammenhänge von einzelnen Genmutationen und deren Wechselwirkungen sind bislang nur bei einem Bruchteil der Gene bekannt und erklärbar. Die personalisierte Medizin steckt also noch in den Kinderschuhen – aber aufgrund der rasanten Fortschritte ist das Thema der aktuelle Hype im Medizinbetrieb. Ärzte, Krankenkassen und die Politik verbinden große Hoffnungen damit. Die Erwartungen, dass die indivi-dualisierte Medizin die Gesundheitsversorgung zukünftig prägen könnte, führen weltweit zur Bereitstellung von erheblichen Fördermitteln. Auch in Deutschland wird in die Forschung der individualisierten Medizin stark investiert. So stellt etwa das Bundesministerium für Bildung und Forschung Forschungsgelder von 360 Millionen Euro bereit, weil die personalisierte Medizin „eine neue Dimension in der Behandlung und Diagnose von Krankheiten“ eröffne. Des Weiteren hat die Bundesregierung angekündigt, mit der Hightech-Strategie 2020 und einem Gesundheitsforschungsprogramm langfristig eine umfassende Forschungsstrategie zur individualisierten Medizin zu entwickeln.

Angekratztes Image aufpolieren

Für die Pharmabranche eignet sich die personalisierte Medizin dazu, endlich wieder das angekratzte Image der Arzneimittel- hersteller aufzupolieren. Seit Jahren schon tun diese sich schwer, echte Innovationen

für die großen Volkskrankheiten, sogenannte

Blockbuster, zu entwickeln. Statt dessen weichen sie auf Scheininnovationen aus, sogenannte Me-too-Präparate, die nur geringfügige Variationen von bereits auf dem Markt befindlichen Medikamenten sind. Die sichern der Pillenindustrie zwar den Umsatz, aber beschädigen das Image.

Die personalisierte Medizin hingegen wird als bedeutsamer Fortschritt wahrgenommen und garantiert der Branche Prestige und einen neuen – und sehr lukrativen – Absatzmarkt. Die Erwartungen sind auf allen Seiten hoch: Die Patienten erhoffen sich gesundheitliche Vorteile von einer maßgeschneiderten Medizin. Ärzte und Krankenkassen erwarten, durch diagnostische Tests die Vergabe unpassender Medikamente vermeiden sowie Nebenwirkungen und Kosten reduzieren zu können und die Pharma- branche erwartet satte Gewinne.

Marketing-Gag

Doch trotz aller Verheißungen ist die personalisierte Medizin nicht unumstritten. Kritiker monieren, das schon der Begriff ein reiner Marketing-Gag sei. Tatsächlich fokussiere sich die individualisierte Medizin einseitig auf die biologischen/molekularen Eigenschaften des Menschen – und verliere dabei die ganzheitliche Sicht auf den individuellen Patienten aus den Augen. So bemängelt etwa der Vorsitzende der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer, Urban Wiesing, der Terminus vereinfache die tatsächliche Komplexität der Materie, da sich personale Eigenschaften eben nicht auf molekularer, sondern auf personaler Ebene manifestierten. Auch der Freiburger Medizinethiker Prof. Giovanni Maio kritisiert die irreführende Terminologie einer personalisierten Medizin, da dies eine Individualisierung und somit eine Konzentration auf den individuellen Patienten impliziere, die in einem krassen Missverhältnis zu den tatsächlichen Gegebenheiten der individualisierten Medizin stehe (siehe Kasten). Zudem bestehe die Gefahr, dass ein Patient künftig nach einem Gentest aufgrund statistischer Analysen von einer Therapie ausgeschlossen werde, die mit nur sehr geringer Wahrscheinlichkeit für nützlich gehalten wird, die aber genau bei ihm persönlich zu vielleicht mehreren Jahren Lebensverlängerung geführt hätte.

Zusätzlich angreifbar macht sich personalisierte Medizin, indem sie suggeriert, die bisherige Medizin sei nicht personalisiert gewesen und bedürfe daher dieser innovativen Ergänzung. Dabei haben Ärzte immer schon ihre Entscheidung über die bestmögliche Therapie für einen konkreten Patienten auch auf diverse individuelle Charakteristika des Patienten –etwa sein Alter, seine physische Konstitution oder seine Familienanamnese – gestützt. Die personalisierte Medizin fügt den bisherigen Parametern für eine Therapieentscheidung nun auch individuelle genetische Merkmale hinzu. Nicht mehr und nicht weniger. Der Terminus „personalisierte Medizin“ bedeutet also keineswegs, dass jede einzelne Person ihr individuelles Arzneimittel bekommt. Die genetischen Merkmale eines Patienten erlauben es lediglich, den Patienten aufgrund eines bestimmten Biomarkers zu stratifizieren, also einer Patienten-Subgruppe innerhalb seiner Diagnose zuzuordnen. Dementsprechend hat sich in Fachkreisen mittlerweile der Alternativbegriff „stratifizierte Medizin“ etabliert.

Viel heiße Luft

Ein weiterer Kritikpunkt lautet:

Die personalisierte Medizin hat bislang vor allem heiße Luft und wenig konkrete Ergebnisse für die Patienten     produziert. Es stellt sich also die Frage, wer eigentlich wirklich am meisten von der personalisierten Medizin profitiert. „Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten Medizin in das Paradies des medizinischen Fortschritts gefahren oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen Forschung und der Pharmaindustrie gespannt?“, fragte beispielsweise Christiane Woopen, die Vorsitzende des Ethikrates, auf der letztjährigen Jahressitzung des Ethikrates.

Kritiker der genbasierten Medizin befürchten, dass vor allem die Pharmaindustrie der Hauptnutznießer wäre. Denn der Markt für Medikamente mit einem genetischen Vortest beschränkt sich bislang trotz gigantischer Forschungsausgaben auf eine übersichtliche Anzahl von Medikamenten – und zwar überwiegend in der Onkologie. Insgesamt stehen gerade einmal 34 Medikamente zur Verfügung, die entweder mit einem verpflichtenden oder einem von den Fachgesellschaften empfohlenen Gentest zusammen zur Anwendung kommen. Auch wenn sich die Zahl dieser „Tandems“ in den vergangenen zwei Jahren mehr als verdoppelt hat, kann also bislang keine Rede davon sein, dass die breite Masse der Patienten von der personalisierten Medizin profitiert. So bilanziert etwa Jürgen Windeler, Chef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), im Magazin „Spiegel“: „Noch handelt es sich um reine Versprechungen. Die hochfliegenden Ansprüche, dass jetzt eine neue Ära etwa in der Krebstherapie eingeleitet werde, sind nicht eingelöst.“

Klar ist, dass die personalisierte Medizin bislang nur eine Nische bedient. Ob die hohen Erwartungen an eine stratifizierte Medizin erfüllt werden können, lässt sich noch nicht seriös prognostizieren. Nach wie vor weiß die Forschung noch viel zu wenig über das komplexe Zusammenspiel von genetischer Disposition, individuellem Verhalten und Umwelteinflüssen. Experten schätzen, dass es noch zehn bis 15 Jahre dauern könnte, bis sich diese Frage beantworten lässt.

Solidargemeinschaft belastet

Angesichts der hohen Forschungs- und Entwicklungskosten sollte zumindest das Risiko offen diskutiert werden, dass die jetzt investierten Gelder künftig trotzdem nur einer kleinen Patientengruppe nutzen werden und dem Solidarsystem für sinnvollere – weil in der Breite wirksame – Alternativen wie Präventionsmaßnahmen entzogen werden. Ebenfalls ungeklärt ist bis heute, ob sich die Kosten für die Entwicklung der Medikamente und die damit verbundenen hohen Preise durch Einsparungen wirklich amortisieren lassen. Und falls das nicht der Fall ist – wird die Solidargemeinschaft in der Lage oder auch nur willens sein, die exorbitanten Kosten einer Medizin-sparte zu tragen, die nur einer sehr kleinen Patientengruppe dient?

Otmar MüllerFreier gesundheitspolitischer Fachjournalist, Kölnmail@otmar-mueller.de

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