Der besondere Fall

Ewing-Sarkom im Unterkiefer mit multiplen Fernmetastasen

Coordt Alexander Büddicker, Berthold Heinrich Hell

Ein 31-jähriger Patient wurde mit Verdacht auf eine Osteomyelitis im Bereich des Unterkiefers beidseits in die Siegener Klinik überwiesen. Bei der Erstvorstellung berichtete der Patient über eine Hyposensibilität im Ausbreitungsgebiet des linken Nervus mentalis, die bereits seit etwa einem Jahr bestehe. Intraoral war eine massive, indurierte Schwellung der Gingiva im Unterkiefer von Regio 35 bis 46 auszumachen. Die Zähne 32, 31, 41 waren III-gradig gelockert. Der Zahn 27 wies eine tiefe Karies auf. Die Sensibilitätsproben an den Zähnen 48, 47, 46, 45, 42, 41, 31, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38 waren positiv, am Zahn 44 negativ.

Extraoral war eine deutliche Auftreibung im Bereich des Unterkieferkörpers beidseits palpabel. Im Ausbreitungsgebiet des linken Nervus mentalis bestand eine Hyposensibilität (Vincent-Symptom). Die allgemeine Anamnese war unauffällig.

Das mitgebrachte OPG (Abbildung 1) zeigte apikale Aufhellungen an den Zähnen 35, 44, eine tiefe Karies am Zahn 27 sowie einen retinierten Zahn 18. Der Unterkiefer erschien im OPG von Kieferwinkel zu Kieferwinkel wolkig aufgelockert.

Unter dem Verdacht auf eine chronische Osteomyelitis dentogener Genese erfolgte zunächst die stationäre Aufnahme zur intravenösen Antibiotikatherapie mit 3 x 600 mg Clindamycin.

Das Blutbild und die Blutsenkungsgeschwindigkeit waren unauffällig.

Eine Computertomografie des Unterkiefers (Abbildung 2) zeigte einen osteolytischen Unterkiefer, verbreiterte Parodontalspalten und apikale Aufhellungen sowie Spiculae an der Kompacta-Oberfläche.

In Intubationsnarkose erfolgte die Probeentnahme aus dem Weichgewebe des unteren Vestibulums in regio 32 bis 42, die Probeentnahme aus dem Knochen und die Schienung der gelockerten Zähne.

Die Histologie erbrachte zunächst das Ergebnis eines neuroendokrinen Karzinoms beziehungsweise eines Merkelzellkarzinoms, bis im weiteren Verlauf durch Referenzhistologien und immunhisto-chemische und molekular-genetische Untersuchungen die Diagnose eines Ewing-Sarkoms des Unterkiefers gestellt wurde.

Histologisch (Abbildungen 3a und 3b) waren hier kleine blaue und rundzellige Tumorformationen mit mäßig unrundem Kern darstellbar. In der molekular-genetischen Untersuchung war eine für das Ewing-Sarkom charakteristische Translokation t(11,22) [Downing et al., 1993; Park et al, 1998] nachweisbar.

Eine Positronenemissionstomografie (PET) erbrachte hypermetabole Regionen im Bereich des Unterkiefers beidseits sowie im Bereich beider Iliosakralgelenke und im Bereich des fünften Brustwirbelkörpers.

Eine Mehrphasen-Knochenszintigrafie ergab den Befund wie bei einer Osteomyelitis im Unterkiefer beidseits, außerdem noch degenerative Veränderungen im Bereich des achten Brustwirbelkörpers.

In der Computertomografie des Thorax, des Oberbauches und des Beckens mit Kontrastmittel waren unter Berücksichtigung des Skelettszintigramms multiple sklerosierte ossäre Läsionen im Sinne osteoblastischer Metastasen darstellbar. Eine in Ergänzung angefertigte Magnetresonanztomografie der kompletten Wirbelsäule inklusive der Iliosakralgelenke (Abbildung 4) zeigte multiple, bis zu 1,9 cm große Metastasen im Skelettsystem.

Nach Aufklärung des Patienten über seine Erkrankung erfolgte die Weiterbehandlung alio loco im Rahmen der Euro Ewing 99-Studie [Ladenstein et al., 2010].

Unter wiederholten Chemotherapiezyklen, autologen Stammzellseparationen und Stammzellretransfusionen kam es zu einem deutlichem Progress des Tumorwachstums mit Spontanperforation nach extraoral. Die Zähne mussten aufgrund der Lockerung entfernt werden. Eine orale Nahrungsaufnahme war nicht mehr möglich, so dass eine Sondenernährung über eine Perkutane Gastrostomie-Sonde (PEG) im häuslichen Umfeld bis zum Exitus letalis erfolgte.

Diskussion

Eine Hypästhesie und eine Auftreibung des Unterkiefers lassen in erster Linie den Verdacht auf eine chronische Osteomyelitis mit Vincent-Symptom [Pöllmann, Neukam et al., 1977] oder bei entsprechender Anamnese an eine Bisphosphonat-assoziierte Kiefernekrose [Sierra-Hidalgo et al., 2009], begünstigt durch dentogene Foci wie beherdete oder tief kariöse Zähne oder einen Zustand nach Zahnextraktionen, denken.

Auch kommen hier Osteome, Zysten oder eine fibröse Dysplasie differenzialdiagnostisch in Betracht. Nach OPG und 3-D-Bildgebung sollte mittels Digitaler Volumentomografie/Computertomografie immer obligat eine Probeentnahme des Knochens und gegebenenfalls des Weichgewebes erfolgen, um die Osteomyelitis zu sichern und ein malignes Geschehen auszuschließen.

Auch bei Wurzelspitzenresektionen sollte immer die histologische Untersuchung des entnommenen Gewebes durchgeführt werden. Hier muss man auch an Riesenzellgranulome denken, die dentogene Zysten vortäuschen können.

Knochentumore sind mit 0,2 Prozent aller Tumore selten, haben aber einen Häufigkeitsgipfel in der Adoleszenz im Alter von 15 bis 24 Jahren mit 5,7 Prozent.

Das Ewing-Sarkom ist mit 19,3 Prozent der dritthäufigste Knochentumor nach dem Osteosarkom (34,2 Prozent) und dem Chondrosarkom (27,2 Prozent), es metastasiert schnell hämatogen, vorzugsweise, wie im vorliegenden Fall in das Skelett-System und/oder in die Lunge.

Die Gesamt-Inzidenz des Ewing-Sarkoms beträgt 2,9/1000000. Das männliche Geschlecht ist häufiger betroffen. Der Häufigkeitsgipfel liegt beim weiblichen Geschlecht bei zehn bis 14 Jahren und beim männ- lichen Geschlecht bei 15 bis 19 Jahren [Arora et al., 2012].

Bei Vorliegen einer Fernmetastasierung besteht eine Fünf-Jahres-Überlebensrate von rund 39 Prozent [Esiashvili et al., 2008].

Coordt Alexander BüddickerProf. Dr. Dr. Dr. h.c. Berthold Heinrich HellAbteilung für MKG-ChirurgieZentrum für plastisch-ästhetische und plastisch-rekonstruktive Chirurgie im SiegerlandZentrum für SchädelbasischirurgieDiakonie Klinikum Jung-StillingWichernstr. 4057074 SiegenCoordt-Alexander.Bueddicker@diakonie-sw.deberthold.hell@diakonie-sw.de

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