Interview mit Prof. Michael Seidel

Barrieren auch in den Köpfen abbauen

Über neun Millionen Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. Um der Vielzahl an Hürden zu begegnen, die sich diesen Menschen tagtäglich in den Weg stellen, stellen KZBV, BZÄK, Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) und Bundesärztekammer (BÄK) die barrierefreie medizinische Versorgung in denMittelpunkt einer Tagung am 9. September in Berlin. Einer der Protagonisten, Prof. Michael Seidel, spricht im Interview über mentale Barrieren, die richtige Versorgung und falsche Prävention.

Dass ihm das Thema Barriereabbau für Menschen mit Behinderungen sehr am Herzen liegt, merkt man Seidel im Gespräch an.

Freundlich, aber engagiert und bestimmt vermittelt er seine Botschaften, die da lauten: Barrieren sind nicht nur Treppenstufen oder schwere Türen, sondern vor allem die in den Köpfen. Mentale Barrieren nennt er das. Und er zeigt sich enttäuscht von der Politik, die zu wenig tut. Aber auch im zahnärztlichen Bereich kann mehr getan werden, findet Seidel.

Herr Prof. Seidel, die Spitzenorganisationen der ärztlichen und zahnärztlichen Organisationen möchten mit einer Veranstaltung am 9. September 2013 für eine barrierefreie medizinische Versorgung sensibilisieren. Was liegt Ihrer Ansicht nach noch im Argen?

Es freut mich sehr, dass es auf dieser hohen Ebene zum Bündnis der vier Organisationen KZBV, KBV, BZÄK und BÄK gekommen ist. Ich finde es sehr beachtlich, dass sich diese vier zu diesem wichtigen Thema zusammenschließen. Auf dem Weg zur Barrierefreiheit gibt es nämlich viele Baustellen, die keine Organisation alleine bewältigen kann. Vielmehr braucht es abgestimmte, komplexe Vorgehensweisen.

Mir liegt daran, deutlich zu machen, dass der Begriff „Barriere“ nicht nur – wie es leider oft geschieht – auf die bauliche Seite bezogen werden darf. Unter Barrierefreiheit versteht man nämlich etwas sehr Umfassendes. Simpel ausgedrückt beginnt die Frage nach der Barrierefreiheit bei den mentalen Barrieren, bei der wertschätzenden Einstellung und offenen Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen. Es geht weiter mit Fachwissen und Handlungskompetenzen, insbesondere kommunikativen Kompetenzen im Umgang mit Menschen mit Behinderungen. Gerade das ist für Menschen mit Behinderungen ein sehr kritisches Thema. Dazu kommen geeignete organisatorische Abläufe in Praxen, Medizinischen Krankenhäusern und Versorgungszentren und schließlich die behinderungsgerechte bauliche Ausstattung.

Worin liegt der besondere medizinische Versorgungsbedarf bei Menschen mit Behinderung?

Zu dieser Frage müssen wir das komplexe Feld der Behinderungen etwas vereinfachend systematisieren, denn unter dem Begriff der Behinderung zeigt sich sehr Verschiedenes: es gibt Sinnesbehinderungen, Behinderungen der Motorik und Behinderungen im intellektuellen und mnestischen Bereich. Wir dürfen nicht nur an die Menschen denken, die mit einer Behinderung zur Welt gekommen sind, sondern auch an die Menschen, die durch eine Krankheit oder einen Unfall behindert werden. Hinzu kommen die Menschen mit Altersbehinderungen. Es gibt übrigens eine große Schnittmenge der Menschen mit Behinderung und der Menschen, die pflegebedürftig sind oder werden. Wer pflegebedürftig ist, ist immer behindert, aber nicht jeder der behindert ist, ist pflegebedürftig.

Wo liegt der spezielle zahnmedizinische Versorgungsbedarf von Menschen mit Behinderungen?

Hier müssen wir wieder die einzelnen Gruppen differenziert betrachten. Ich nehme als Beispiel die Menschen mit intellektuellen und Beeinträchtigungen des Gedächtnisses. Stellen Sie sich vor, jemand erinnert sich nicht daran, was er gerade gemacht hat. Er glaubt vielleicht irrtümlich, dass er sich gerade die Zähne geputzt hat. Oder er kann sich nicht erinnern, wie man sich die Zähne putzt oder er versteht die Instruktionen nicht.

Wir wissen, dass die regelmäßige Zahnpflege eine wichtige präventive Funktion hat. In dem Maße, wie jemand diese Pflege nicht mehr selbst bewerkstelligen kann, wird es zur Vernachlässigung der Zahngesundheit kommen. Deshalb ist bei intellektuell und mnestisch eingeschränkten Menschen eine auf sie zugehende Prävention notwendig. Von ihnen kann man eben nicht an Eigenverantwortung und -leistung verlangen, was man vom Durchschnittsbürger verlangt.

Unser Gesundheitssystem ist zunehmend mehr auf die Eigeninitiative von Patienten zugeschnitten. Letztlich müssen sie ihre Leistungen selbst beschaffen, kombinieren, abstimmen. Der Bürger muss, wenn er krank ist, sein eigener Case Manager sein. Oft fehlt es den Menschen mit Behinderungen an diesen Fähigkeiten. Und auch die Menschen, die sich um sie kümmern, sind oft damit überfordert.

Wo sehen Sie in der zahnmedizinischen Versorgung allgemein noch Verbesserungsbedarf?

Menschen mit geistiger Behinderung haben oft einen sehr problematischen Zahnstatus. Das will ich nicht pauschal den Zahnärzten anlasten, aber es ist auf jeden Fall eine Herausforderung.

Es geht darum, im umfassenden Sinn barrierefreie Zahnarztpraxen zu etablieren, behinderte und pflegebedürftige Patienten als ernst zu nehmende Zielgruppe zahnärztlichen Handelns wahrzunehmen und ein angemessenes Behandlungssetting zu schaffen. Ich halte es für sehr wichtig, alle diese Themen schon in die Ausbildung, und vor allem auch in Fortbildung und Weiterbildung einzuschließen. Das beginnt bei Aspekten der Prävention und endet bei Aspekten der prothetischen Versorgung.

Was müsste speziell im präventiven Bereich noch getan werden?

Es braucht auf jeden Fall eine auskömmliche Vergütung von präventiven zahnärztlichen Leistungen im Hinblick auf die Patientengruppen, von denen man aufgrund ihrer Beeinträchtigungen nicht die Kompetenz der eigenverantwortlichen Zahnpflege erwarten darf. Anders wird man nicht vorankommen.

KZBV und BZÄK plädieren für eine Ausweitung des Paragrafen 22a Sozialgesetzbuch V (SGB V), speziell im Hinblick auf die Versorgung von Menschen mit Behinderung über 18 Jahren, weil diese im GKV-Leistungskatalog noch nicht ausreichend abgebildet ist.

Genau darum geht es. Bei Kindern ist heute durch den Paragrafen 22 SGB V erfreulicherweise eine ganze Menge möglich. Aber wir brauchen eine Öffnung dieser Versorgungsmöglichkeiten auch für behinderte und für pflegebedürftige Erwachsene. Der besondere präventive Bedarf betrifft die gesamte Lebensspanne, wenn Menschen zu diesen Leistungen aus eigener Kraft beim besten Willen nicht in der Lage sind.

Letztendlich geht es darum, dass wir uns grundsätzlich bei der Entwicklung des Präventionsgedankens um die besonders vulnerablen Gruppen kümmern müssen. Es ist aus meiner Sicht wenig sinnvoll, Präventionsleistungen nach dem Gießkannenprinzip über die Bevölkerung zu verteilen. Menschen mit hohem Bildungsgrad nehmen Präventionsangebote oft intensiv in Anspruch. Aber gerade die Menschen, die aufgrund ihrer sozialen Lage oder sonstiger Umstände den größten Bedarf haben, werden von diesen Leistungen nicht erreicht. Das ist das Paradoxe.

Ich wünschte mir, dass Präventionspolitik gezielt und energisch auf die benachteiligten und vulnerablen Gruppen zugeschnitten wird. Das ist meines Erachtens die Herausforderung.

Was sind dann Ihre Forderungen an die Politik?

Als Fachverbände für Menschen mit Behinderungen haben wir einen kleinen Erfolg erreicht. In den 1990er und frühen 2000er Jahren haben wir auf gesetzliche Regelungen gedrängt, so dass schließlich der Paragraf 2a im SGB V verankert wurde. Er besagt, dass bei der Gesundheitsversorgung die Belange von behinderten Menschen besonders zu berücksichtigen sind. Allein: wir haben jetzt zwar diesen Paragrafen im Gesetz, aber leider entfaltet er leistungsrechtlich, also im praktischen Handeln, nicht die Wirkung, die wir uns versprochen haben.

An die Politik habe ich zwei Hauptforderungen. Die erste ist, dass alle Gesetze im Gesundheits- und Sozialbereich geprüft werden, ob sie Menschen mit Behinderung im Weg stehen oder ob sie sie unterstützen. Das kann man unter dem Begriff Disability Mainstreaming zusammenfassen. Disability Mainstreaming meint so viel wie: Menschen mit Behinderung weg vom Rand der Gesellschaft, rein in die Mitte der Gesellschaft.

Die zweite Forderung ist, dass endlich die gesetzlichen Grundlagen dafür geschaffen werden, dass in Analogie zu den Sozialpädiatrischen Zentren für behinderte Kinder und Jugendliche endlich spezialisierte ambulant tätige und interdisziplinär besetzte medizinische Zentren für Erwachsene mit geistiger und mehrfacher Behinderung etabliert werden können. Auf diese Notwendigkeit hatten wir unter anderem schon 2009 auf dem Deutschen Ärztetag hingewiesen, es bewegt sich aber politisch leider nichts.

Aber wie realistisch ist denn die Einrichtung solcher Zentren für Erwachsene unter den heutigen Bedingungen? Der Leistungskatalog wird schmaler, Krankenhäuser schließen, der Fachkräftemangel ist teilweise akut.

Leistungsrechtlich müssen solche Zentren meines Erachtens mit einer Pauschale vergütet werden, weil es um ein interdisziplinäres Leistungsgeschehen geht. Dafür müsste man das Rad nicht neu erfinden, dafür gibt es Beispiele.

Sie haben völlig Recht, dass es eine ziemlich kritische Situation des Gesundheitswesens ist, in der wie diese Forderung vertreten. Aber wir haben diese Forderung nicht gerade eben erst erfunden, sondern sie geht nachweislich bis Mitte der 1990er Jahre zurück, als die Situation noch nicht so prekär war wie sie jetzt ist.

Müsste das medizinische Personal besser geschult werden?

An diesem Anliegen setzt eine grundsätzliche Forderung an, nämlich schon in den Aus- und Weiterbildungsgängen von Ärzten und anderen Gesundheitsberufen eine Grundsensibilisierung für Menschen mit den verschiedenen Arten von Behinderung zu schaffen. Daran fehlt es bis jetzt. Letztendlich ist das eine immer größere Gruppe von Patienten, gerade weil die Menschen immer älter werden. Das alles gilt natürlich auch für den zahnmedizinischen Bereich.

Im Hinblick auf die Zahnärzte und Ärzte rate ich, wir sollten zuerst und unverzüglich in der Fortbildung anfangen, weil wir als Zahnärzte und Ärzte das am leichtesten selbst in die Hand nehmen können – ob im Krankenhaus, dem Kammer- oder KZV-Bezirk. Zweitens sollten wir das Thema systematisch in die Weiterbildungsgänge der Fachärzte zu bringen. Und Drittens – das ist eine Aufgabe für den Gesetzgeber – muss die Approbationsordnung geändert werden, damit im Medizinstudium das Thema Behinderung verankert werden kann.

Wie stellen Sie sich die optimale barrierefreie Praxis vor?

Die optimale barrierefreie Praxis beginnt damit, dass Patienten mit ganz verschiedenen Behinderungen als Personen willkommen sind und das auch erleben, dass die Praxis die notwendige Flexibilität aufbringt, Menschen mit den verschiedensten Behinderungen sozusagen den Weg durch diese Praxis zu bahnen – sowohl den physischen als auch den organisatorischen Weg.

Ich würde mir wünschen, dass alle Mitarbeiter der Praxis dem behinderten Patienten wertschätzend entgegenkommen.

Gibt es etwas, auf das der Praxisinhaber und sein Team achten müssen, wenn die Praxis barrierefrei gestaltet werden soll?

Zunächst könnten sie eine Checkliste systematisch abarbeiten. Es gibt von den Berufsorganisationen Dokumente, in denen einschlägige Hinweise enthalten sind. Das sind aber vor allem bauliche Maßnahmen. Ich glaube, man könnte, so wie im Qualitätsmanagement, verschiedene Punkte schrittweise durchgehen. Es beginnt mit der ersten Ansprache, mit der Begegnung am Schalter. Dann kommen natürlich eher technische Fragen in den Blick: Ist die Praxis ausdrücklich hell genug? Ist sie barrierefrei gestaltet? Dabei muss man dann sehr ins Detail gehen.

Ich gebe ein Beispiel: Manche Praxen haben Muster auf dem Fußboden. Diese können von Menschen mit Sehbehinderungen unter Umständen als Stufen oder Schwellen gesehen werden. Oder zum Beispiel der Eingang einer Praxis: Wenn die Türklinke oder der Klingelknopf zu hoch angebracht ist, kann das dazu führen, dass ein Mensch aus dem Rollstuhl diese nicht ohne Weiteres erreichen kann. Und leider gibt es sogar noch Kollegen, die antworten auf den kritischen Einwand, in ihre Praxis komme man gar nicht rein: „Ich will doch gar keine Behinderten in meiner Praxis.“ Das heißt, da gibt es leider immer noch auch ganz bewusste Ausgrenzung.

Wir werden sicher immer offene Baustellen haben, das ist völlig klar. Aber wenn wir uns wenigstens entschlossen auf den Weg machen, dann werden alle Patienten einen Vorteil davon haben. Auch diejenigen, die keinen Behindertenausweis in der Tasche haben.

Was für Defizite sehen Sie noch im Bereich der Forschung?

Bei der Forschung sehe ich den Schwerpunkt vor allem im Bereich der Versorgungsforschung. Das bezieht auch die zahnärztliche Versorgung mit ein, und zwar über alle Altersgruppen und über alle Aspekte von der zahnerhaltenden bis zur prothetischen Versorgung. Welche Bedarfe sind da? Welche Bedarfe werden wo und wie abgedeckt? Wo sind Lücken in der Bedarfsdeckung? Diese Probleme sollten in Qualität und in Quantität identifiziert werden. Hier kommt es auf die Zusammenarbeit mit den Betroffenen an.

Als Fachverbände für Menschen mit Behinderungen haben wir uns wiederholt bemüht, die Versorgungsforschung anzuregen. Das Thema ist aber nur zwischen Sozial- und Gesundheitsministerium hin und her geschoben worden.

Info

Zur Person

Prof. Dr. Michael Seidel studierte Medizin in Berlin und war zwischen 1977 und 1991 Assistenz- und Oberarzt in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Charité. Er ist Facharzt für Neurologie und Psychiatrie und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie.

Seit 1991 arbeitet er für die von Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel. Dort ist er Geschäftsführer und leitender Arzt der Behindertenhilfe.

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