Zahnmedizinische Versorgung in einer Gesellschaft langen Lebens

Aufwendige Versorgungen erhalten

Der Beitrag des Versorgungsforschers Prof. Gerd Glaeske zeigt auf, dass auch die Mundgesundheit und die zahnärztliche Versorgung einen besonderen Einfluss auf im Alter häufiger auftretende Erkrankungen haben und insbesondere die Pflegebedürftigkeit vieler älterer Menschen diesen Einfluss noch weiter verstärkt.

Die absehbare demografische Entwicklung führt zu einer spürbaren Alterung der Gesellschaft und in diesem Kontext insbesondere zu einem stark anwachsenden Anteil hochbetagter Menschen. Im höheren und hohen Lebensalter treten Krankheitszustände auf, die zu altersspezifischen Versorgungsanforderungen führen. Hierzu gehören das Phänomen der Multimorbidität und die Polypharmazie alter, mehrfach erkrankter Menschen sowie die Pflegebedürftigkeit. Die Zahl älterer und alter Patienten mit Mehrfacherkrankungen nimmt in allen Versorgungsbereichen zu. Dabei dominieren Herz-Kreislauf-Erkrankungen und deren   Folgen wie  Herzinfarkte, Schlaganfälle oder Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes als altersassoziierte Erkrankungen und zum Beispiel Demenz als altersbedingte Krankheit.

Zahnärztliche Versorgung ist besonders gefragt

Auch die Mundgesundheit und die zahnärztliche Versorgung haben einen beson deren Einfluss auf diese im Alter oft auftretenden Erkrankungen. Daher steht die zahnärztliche Versorgung mehr und mehr im Mittelpunkt, wenn über den wachsenden Versorgungsbedarf in Gesellschaften längeren Lebens diskutiert wird. Die Verbindung zu Public Health, also der Betrachtung des Erhalts und der Förderung von gesellschaftlicher Gesundheit und der möglichen Prävention von Krankheiten, bekommt deshalb auch für die zahnmedizinische Versorgung eine besondere Bedeutung und stellt eine besondere und auch neue Herausforderung für die Etablierung und Umsetzung neuer Versorgungskonzepte dar.

Prävention ist die Basis

Prävention ist die Grundlage einer wissenschaftlich abgesicherten Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Mit ihrer konsequenten Umsetzung wurden große Fortschritte in der Mundgesundheit der Bevölkerung in Deutschland erzielt [Bauer et al., 2009]. Pflegebedürftige sind von diesem Fortschritt jedoch oftmals noch ausgeklammert. Aus Sicht der Zahnmedizin ergeben sich aktuell für die zahnmedizinische Versorgung pflegebedürftiger älterer Menschen drei Problembereiche.

Der erste Problembereich ist der hohe Bedarf an Prävention und Versorgung. Ein wichtiger zahnmedizinischer Trend besteht darin, dass ältere Menschen immer mehr natürliche Zähne besitzen. Die vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie [Micheelis/Schiffner,2006] zeigt, dass unter den Senioren die Parodontitis am weitesten verbreitet ist. 48 Prozent dieser Altersgruppe sind von einer mittelschweren und 39,8 Prozent von einer schweren Ausprägung der Krankheit betroffen. Das entspricht einer Zunahme von 23,7 Prozentpunkten im Vergleich zur letzten Erhebung im Jahr 1997 (Abbildung 1). Allerdings relativiert sich dieser Anstieg, je nach Erkrankungsdefinition [Hoffmann, 2006]. Aktuelle Arbeiten zur Mundgesundheit und zahnmedizinischen Versorgung in Deutschland zeigen im Hinblick auf Parodontalerkrankungen bei Senioren eine geringere Dynamik und Behandlungs- bedürftigkeit [Bauer et al., 2009].

In der Gruppe der 65- bis 74-Jährigen zeigt sich am deutlichsten der Zusammenhang zwischen dem Rückgang der Zahnverluste und der Zunahme von Parodontalerkrankungen. Welche Bedeutung diesem Zusammenhang zukommt, ist aufgrund der beschriebenen Diskussion zur Prävalenz der Parodontitis im Alter noch offen. Eine aktuelle Studie weist anhand internationaler Vergleiche nach, dass es keineswegs zwingend ist, bei steigender „Eigenbezahnung“ im Alter schlechtere Parodontalverhältnisse aufzuweisen [Bauer et al. 2009].

Gleichzeitig wächst die Zahl hochwertiger Versorgungen: Senioren haben die höchste Implantatquote in Deutschland und die Zahl festsitzender Versorgungen (Brücken) ist gegenüber 1997 um 12,5 Prozent gestiegen [Micheelis/Schiffner, 2006]. Besonders problematisch ist die Zunahme der Parodontitis, weil diese orale Erkrankung in der wissenschaftlichen Literatur deutliche Interaktionen zu bedeutsamen medizinischen Erkrankungen aufweist und über beträchtliche Wundflächen Infektionsrisiken aufzeigt.

Zahnärztliche Versorgung von Pflegebedürftigen

Ein besonderes Problem entsteht, wenn ältere Menschen pflegebedürftig werden. Eigene Zähne und hochwertige Zahnversorgungen verstärken präventive Versorgungsprobleme [Nordenram/Ljunhhren, 2002; Rademakers/Gorter, 2008; Samson et al., 2008]. Unterbleibt die Mundpflege oder ist diese deutlich eingeschränkt, wird sehr schnell zerstört, was aufwendig versorgt wurde. Schmerzen entstehen, die Kau- funktion und damit einhergehende Lebensqualität gehen unwiederbringlich verloren.

Zahnersatz (Prothesen, Implantate, Brücken) ist aufgrund der geringen Adaptionsfähigkeit pflegebedürftiger Menschen meist nicht mehr möglich.

Ergebnisse einer Studie zur Zahn- und Mundhygiene pflegebedürftiger Bewohner Berliner Behinderteneinrichtungen belegen, dass die häusliche Mundhygiene bei Menschen mit Behinderungen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung nur unzureichend durchgeführt wird. So hatten im Gegensatz zur Bevölkerung der gleichen Altersgruppe mit fast 60 Prozent nur 21 Prozent der Menschen mit Behinderungen keine sichtbaren Beläge. Die registrierten Befunde belegen die bisher ineffektive Durchführung der Mundhygiene in der Gruppe der Heimbewohner [Kaschke et al., 2004].

Die Ergebnisse einer Erhebung in 173 Altenpflegeheimen in der Rhein-Neckar-Region [Bock-Hensley et al., 2006] und eine Untersuchung in 41 Altenpflegeheimen in Sachsen [Gmyrek, 2004] mahnen verstärkte Fortbildungsmaßnahmen für Pflegekräfte und regelmäßige zahnärztliche Betreuung und Versorgung in Altenpflegeeinrichtungen an.

Zahngesundheit und Public Health

Der zweite Problembereich zahnmedizi- nischer Versorgung alter pflegebedürftiger Menschen ist der Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und allgemeiner Gesundheit. Einen ganz wichtigen Einfluss hat die Mundgesundheit auf internistische Erkrankungen. Die Mundhöhle ist Haupteintrittspforte für Bakterien. Orale Biofilme (Plaque) – der bakterielle Belag auf unzureichend gepflegten eigenen Zähnen, aber auch auf Zahnersatz – können ebenso via Aspiration in den Respirationstrakt gelangen, wie über entzündete Bereiche des Zahnfleischs und

der Mundschleimhaut in die Blutbahn [Kreissl

et al., 2008]. In Pflegeheimen gehören Pneumonien mit einer Prävalenz von 13 bis 48 Prozent zu den häufigsten Infektionskrankheiten und weisen zudem eine hohe Mortalitätsrate auf. In Querschnittsstudien wurde bei Patienten mit schlechter Mundhygiene ein signifikant erhöhtes Risiko für Pneumonien gefunden [Abe et al., 2005].

Untersuchungen in Pflegeinstitutionen weisen darauf hin, dass durch regelmäßige Zahn- und Prothesenreinigung sowie Des-infektion der Mundhöhle die Pneumonie- inzidenz bei den Bewohnern signifikant gesenkt werden kann, wobei die Zahl der Fiebertage und Todesfälle abnimmt [Abe et al., 2005; Kreissl et al., 2008; Scannapieco et al., 2003]. Wirksamer als die reine pharmakologische Desinfektion ist dabei die professionelle mechanische Reinigung [Abe et al., 2005; Adachi et al., 2002; Ishikawa et al., 2008]. In verschiedenen Studien konnte zudem gezeigt werden, dass Mundhöhlenerkrankungen, insbesondere Parodontitis, mit einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall sowie für Diabetes mellitus einhergehen [Desvarieux et al., 2003; 2004; 2005].

Vom Pilotprojekt zur Regelversorgung

Ein dritter Problembereich der zahnmedizinischen Versorgung alter pflegebedürftiger Menschen umfasst die dezentrale Therapie und finanzielle Situation Pflegebedürftiger. Die Zahnmedizin als hoch spezialisierte medizinische Disziplin ist in der Diagnostik und Therapie auf eine aufwendige Ausstattung angewiesen, die dem Zahnarzt bislang nur am Ort seiner Praxis zur Verfügung steht. Pflegebedürftige Menschen können zahnärztliche Praxen oftmals nicht selbstständig aufsuchen, sondern benötigen dafür Transporte. Es ist heute möglich, dass Zahnärzte mobil arbeiten, dies erfordert jedoch einen zusätzlichen organisatorischen, apparativen und zeitlichen Aufwand, der mit den vorhandenen Vergütungspositionen und gesundheitspolitischen Rahmenbedingungen nicht ausreichend abgedeckt wird.

Darüber hinaus gehören die zahnmedizinisch-präventiven Maßnahmen bei erwachsenen Menschen nicht zu den Leistungen der gesetzlichen Krankenkasse. Präventive Leistungen werden derzeit nur im Kindes- und Jugendalter übernommen. Präventive Leistungen im Erwachsenen- und Seniorenbereich sind, bis auf die jährliche Zahn-steinentfernung, durch den Patienten selbst zu finanzieren. Pflegebedürftigen steht dieses Geld jedoch oftmals nicht mehr zur Verfügung.

Inzwischen gibt es eine Reihe von Praxisprojekten, die zeigen, dass die Qualität der zahnärztlichen Versorgung für Pflege-bedürftige verbessert werden kann. Dabei definiert sich die zahnmedizinische Prophylaxe als untrennbarer Dualismus der individuellen, häuslichen Mundpflege des Patienten und regelmäßigen professionellen Maßnahmen. Einerseits sollte den Pflegebedürftigen die Möglichkeit gegeben werden, professionelle Hilfe leicht in Anspruch zu nehmen. Andererseits steht Pflegebedürftigen oftmals nur die individuelle Seite dieses Konzepts zur Verfügung [Petersen/Nortov, 1994; 1995]. Fehlen ihnen die manuellen, mentalen und unterstützenden Möglichkeiten, bedarf es einer deutlich verbesserten Unterstützung durch die Pflegenden, die dafür häufig nicht ausgebildet wurden [Benz/Haffner, 2005; Pietrokovski, 1990]. Inzwischen sind verschiedene Initiativen der Landeszahnärztekammern entstanden (etwa in Bayern [Michel, 2005], in Berlin [Kaschke et al., 2004], Hessen, Mecklenburg-Vorpommern und Westfalen-Lippe),

die regelmäßig wiederholte Schulungen von Pflegepersonal während und nach der Ausbildung, aber auch im Rahmen der Fortbildung durch Zahnärzte beziehungsweise Prophylaxeassistenten durchführen, wobei sich häufig zahnärztlich-patenschaftliche Betreuungen von Pflegeeinrichtungen durch die schulenden Zahnärzte entwickeln. Die Schulungen erfolgen momentan rein ehrenamtlich ohne Vergütung und ohne Einbindung in ein systematisches Ausbildungs- und Fortbildungskonzept des Pflegepersonals. Das Personal von Pflegeeinrichtungen kann beispielsweise im Rahmen von Fort- bildungs- und Kompetenzangeboten über das „Handbuch der Mundhygiene für das Pflegepersonal“ [BZÄK, 2002] und das individuell anwendbare, computergestützte Trainingsprogramm „Gesund im Alter – auch im Mund“  geschult werden  [Nitschke, Reiber  2004].

Der zahnärzt-liche Berufsstand und die Wissenschaft haben zudem verschiedene Projekte zur Verbesserung der Mundgesundheit der Senioren initiiert: Mit dem Leitfaden „Präventionsorientierte Zahnmedizin unter den besonderen Aspekten des Alterns“ liefert die Bundeszahnärztekammer den Zahnärzten eine wissenschaftlich begründete und praxisnahe Orientierungshilfe [BZÄK, 2002]. Das Projekt „Teamwerk − Zahnmedizin für Menschen mit Behinderungen“ beschreibt ein umfangreiches zahnmedizinisches Prophylaxeprojekt für Pflegebedürftige in Zusammenarbeit mit der Bayrischen Landeszahnärztekammer und der AOK Bayern unter wissenschaftlicher Begleitung durch die Universität München, das bereits mit verschiedenen Preisen wie Starsocial, Deutscher Präventionspreis, Wrigley-Prophylaxepreis ausgezeichnet wurde. Seit 2002 werden dabei durch ein „duales Konzept“ immobile pflegebedürftige Patienten in neun Einrichtungen in München zahnärztlich versorgt. Das Modul „Prävention“ verbindet die Schulung von Pflegekräften mit einer regelmäßigen Prophylaxebetreuung durch mobile Prophylaxeteams. Das Modul „Therapie“ sichert zahnmedizinische und allgemeinmedizinische Versorgung durch dezentral tätige „Patenzahnärzte“ und zahnmedizinische Kompetenzzentren. Mit aktuell 1 450 Pflegebedürftigen über nunmehr zwei Jahre lässt sich der medizinische, aber auch der wirtschaftliche Nutzen klar belegen: Bei 40 Prozent der Probanden konnte eine signifikant bessere Mundhygiene nach sechs Monaten [Benz et al., 2005], bei 52 Prozent nach einem Jahr [Benz/Haffner, 2007] nachge- wiesen werden, 56 Prozent weniger Notfallbehandlungen nach einem Jahr, 65 Prozent nach zwei Jahren, 70 Prozent weniger Zahnextraktionen nach zwei Jahren (Teamwerk-AOK-Projekt), durchschnittlich 40 Prozent weniger Lungenerkrankungen in der Metaanalyse [vgl. Scannapieco, 2003] und 22 Prozent weniger Kosten im Umfeld der zahnärztlichen Versorgung (Transporte, Narkose) [Benz/Haffner, 2008].

Implementierung adäquater Strukturen

Ein wesentlicher Schritt für die Implementierung adäquater Strukturen für die zahnärztliche Versorgung in Gesellschaften längeren Lebens und speziell von pflegebedürftigen Senioren bietet die Neuregelung des § 87 Absatz 2 i und j im 5. Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach können Zahnärzte mit den gesetzlichen Krankenversicherungen vertragliche Regelungen über die zahnärztliche Versorgung von Versicherten abschließen, die einer Pflegestufe nach §15 des 11. Buches zugeordnet sind, Eingliederungs- hilfe nach §53 des 12. Buches erhalten oder dauerhaft erheblich in ihrer Alltagskompetenz nach § 45 a des 11. Buches eingeschränkt sind. In diesem Zusammenhang wird das Aufsuchen dieser Versicherten immer dann besonders honoriert, wenn die Zahnarztpraxis aufgrund der Pflegebedürftigkeit, der Behinderung oder der Mobilitätseinschränkung von Patienten nicht oder nur mit hohem Aufwand aufgesucht werden kann (die zm berichtete). Es wird daher in Zukunft auf die Initiativen der Zahnärzte einerseits und der Krankenkassen andererseits ankommen, ob und, wenn ja, in welchem Umfang von diesen Regelungen Gebrauch gemacht wird, um die immer wieder beschriebenen Defizite in der zahnärztlichen Versorgung von Bewohnern und Patienten in Pflege- und Altenheimen verbessern zu können. Es ist zu hoffen, dass in diesem Zusammenhang neue Konzepte erstellt und zur Vermeidung von zum Beispiel Parodontitis genutzt werden.

Dr. Antje Köster-Schmidt [2013] fasst diesen Aspekt folgendermaßen zusammen: „Angesichts der prognostizierten Zahlen und Szenarien zum demografischen Wandel in unserer Gesellschaft ist es gemeinsame Aufgabe der Zahnmediziner, des Pflege- personals, der Heimleitungen, der Angehörigen, aber auch der Krankenkassen und des Gesetzgebers, möglich zu machen, dass effektive Maßnahmen zur Gesunderhaltung einer stetig wachsenden Personengruppe nicht mehr nur Engagement und guter Wille Einzelner im Rahmen des Pilotprojekts sind.“ Völlig richtig – dem ist nichts mehr hinzuzufügen.

Prof. Dr. Gerd GlaeskeCo-Leiter der Abteilung Gesundheitsökonomie,Gesundheitspolitik und Versorgungsforschung Universität Bremen (Zentrum für Sozialpolitik) Mary-Somerville-Str. 528359 Bremen

Anmerkung:Basis dieses Beitrags ist das Sachverständigenratsgutachten Gesundheit 2009, das der Autor als Mitautor publiziert hat.

Info

Vortrag

Prof. Gerd Glaeske hat zum Themenbereich „Zahnmedizinische Versorgung in Gesellschaften längeren Lebens“ auch auf der diesjährigen Gemeinschaftsjahrestagung des Deutschen Arbeitskreis für Zahnheilkunde (DAZ) e.V. und der Initiative Unabhängige Zahnärzte Berlin (IUZB) e.V referiert.

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