Die Uroskopie in der Frühen Neuzeit

Die Show um den Harn

Heftarchiv Gesellschaft
pr
Der moderne Patient profitiert von einer Vielzahl von Diagnosemethoden. Von MRT über Sonografie bis hin zu DNA-Tests ist heute vieles möglich, um aussagekräftige Diagnosen zu stellen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein hatten die Mediziner nur wenige Möglichkeiten. Die wohl wichtigste Methode war die Harnschau, auf die Ärzte jahrhundertelang setzten. Aber bereits ab dem 16. Jahrhundert kamen bei den akademischen Ärzten Zweifel auf, ob das Vertrauen in die Uroskopie als die bevorzugte Diagnosemethode noch korrekt sei.

Die übermächtige Bedeutung der Harnschau im Mittelalter symbolisiert allein schon die Tatsache, dass das Harnglas als Symbol für den Beruf des Arztes stand. Dem modernen Schulmediziner mag dieses Vertrauen, durch reines Schauen, Riechen oder auch Schmecken des Urins spezifische Krankheiten zu erkennen, als Aberglaube, oder bestenfalls als „primitive Vorläuferin der modernen Urinanalyse“ [Stolberg, Michael: Die Harnschau im 16. und frühen 17. Jahrhundert, in: Pirckheimer-Jahrbuch für Renaissance- und Humanismusforschung 24, 2009/2010, S. 129] mit chemischen und mikroskopischen Verfahren vorkommen. Darin mag auch der Grund liegen, dass sich selbst Medizinhistoriker früherer Generationen kaum mit dem Thema Harnschau befassten.

Der starke Glaube an die Aussagekraft des Harns hat seinen Ursprung in der Lehre von den Säften, der Humoralpathologie, wie sie bereits der antike Arzt Claudius Galenus von Pergamon (129 bis circa 199 n. Chr.) beschrieb. Krank war der Mensch dann, wenn die natürlichen Säfte wie Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle im Ungleichgewicht standen oder sich unnatürliche Krankheitserreger angesammelt hatten. Die unreinen Stoffe wurden aus dem Körper ausgeschieden und gaben dem Arzt Aufschluss über die Krankheiten.

Unter allen Ausscheidungen, neben Schweiß, Blut, Stuhl oder anderen Aussonderungen, war der Harn am aussagekräftigsten, weil er nach Meinung frühneuzeitlicher Ärzte, durch „Umwandlung oder ’Verkochung’ des Nahrungsbreis zu Blut in der Leber“ entstand. „Er floß von der Leber über die Blutgefäße zu den Nieren und konnte sich den Weg dorthin mit dem Geblüt vermischen, ehe er in den Nieren […] ’abgeseiht’ wurde“ [Stolberg, S. 132]. Erst mit großem Abstand folgte die Hämatoskopie der Uroskopie als Diagnosemethode.

Lange Tradition

Die Harnschau hat eine lange Tradition vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein. Der Arzt wurde sehr oft mit der sogenannten matula, dem Harnglas, dargestellt. Bei der Harnschau wurden Farbe, Konsistenz und Beimischungen des Urins untersucht. Die Farben des Urins reichten von weiß, zitronengelb, safran, über kupferrot bis hin zu schwarz und konnten bis zu 20 Farbvarianten aufweisen. Die Beschaffenheit konnte von dick- über mittel- bis dünnflüssig reichen. Der Harn konnte auch mit unterschiedlichen Substanzen durchsetzt sein. So war in einem Werk des 18. Jahr- hunderts unter anderen von „Schaum, Blättlein, Körnlein, Stäublein, Wolken, Eiter, Blut, Kleyen, Würmlein, Asche, Sand“ und weiterem die Rede. Berücksichtigung fanden auch der Geschmack und der Geruch sowie die Menge des Harns. Anhand der Kombination, die im Urin zum Ausdruck kam, zog der Arzt die Konklusion. Dabei konnte er auf sogenannte Harnfarbkreise zurückgreifen, mit deren Hilfe die unterschiedlichen Krankheitsbilder zugeordnet wurden.

„Gegründet auf teilweise recht komplizierte und differenzierte Vorstellungen von der Physiologie der Harnentstehung und von der Art und Weise, wie unterschiedliche Krankheiten oder äußere Faktoren den Harn beeinflussten, konnten sie jeweils mit physiologischen und pathologischen Veränderungen im Körper korreliert werden“ [Stolberg, S.133].

Zweifel kommen auf

Seit dem 16. Jahrhundert machte sich bei vielen Medizinern Unbehagen breit, ob die Harnschau allein ausreichend sei, um eine gute Diagnose zu stellen. Vor allem gegen die Harnschau ohne jede Kenntnis vom Patienten – wie sein Geschlecht, sein Alter und seine Art zu leben und ohne diesen je zu Gesicht bekommen zu haben – wandten sich viele Ärzte in ihren Werken. Anschaulich wird diese Ansicht in der Aussage des Arztes und Botanikers Euricius Cordus (1486–1535): „Wann man bey dem Krancken selbst ist, mercket, man an seinen Augen und Gesicht, aus seinen Reden, aus seiner Bewegung wie das Gehirn, aus seinem Husten und Außharcken, wie die Lung, aus dem Puls, wie das Herz, auß dem Speyen und Stulgang, wie der Mage und die Derme, aus dem Harn, wie die Lebber, das Geblüt und andere Feuchtigkeit, geschickt seindt. Summa summarum, ein Artzt muß den Krancken selbst sehen, fülen und fragen, sol er ihm helffen, artzet er aber ihm unbesehen, so thut er als einer der die Vögel in der Lufft fliegende wil schiessen, und ist ungewiß, ya ein gefarlich Dinck“ [Zitiert nach: Stolberg, Michael: Die Harnschau, Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln, Weimar, Wien 2009, S. 21f.].

Eine Methode unter vielen

Frühneuzeitliche Ärzte verurteilten die Uroskopie nicht in Gänze, wenn die oben genannten Bedingungen erfüllt waren, aber die Meinungen gingen dahin, dass die Harnschau lediglich eine unter anderen, nicht aber die bevorzugte und alleinige Diagnosemethode sein sollte. Mit dem Aufstieg der Anatomie im 16. Jahrhundert standen der Medizin zudem neue Wege der wissenschaftlichen Erkenntnis offen. Die Sektion eines menschlichen Körpers war weit spektakulärer als der Blick in ein übel riechendes Harnglas und versprach den Ärzten höheres Ansehen und eine Abgrenzung gegenüber dem einfachen Bader [Vergleiche: Das Wirken des Nicolaes Tulp, Ein Vorreiter der Anatomie, zm 9/2010, S. 110-113].

Großes Vertrauen

Interessanterweise war es gerade das unerschütterliche Vertrauen der Patienten in die althergebrachte Harnschau, die die Mediziner weiter an ihr festhalten ließen. Ohne nähere Angaben wurden den Ärzten Urinproben zugesandt, mit der Bitte, eine Diagnose zu stellen. Der feste Glaube an die Uroskopie fand sich nicht nur bei einfachen Schichten, sondern reichte bis in Adelskreise und hielt sich die gesamte Frühe Neuzeit über. Aus Gründen des guten Rufes und der finanziellen Existenz waren viele akademische Ärzte gegen ihre wissenschaftliche Überzeugung gezwungen, dem Willen des Volkes nachzukommen und die „Show um den Harn“ aufrechtzuerhalten und so die Abwanderung vieler Patienten zum Bader oder zum Harnschauer an der nächsten Ecke zu verhindern.

Im Lauf der Zeit nahm die Bedeutung der Harnschau als Diagnosemethode ab. Kritische Ärztestimmen warnten, nicht zu sehr auf die Uroskopie zu vertrauen. Denn viele Ärzte beachteten nun, dass nicht alle pathologischen Veränderungen von Organen oder Körperteilen erkennbare Spuren im Urin hinterließen. Doch der Glaube an die Fähigkeiten der Harnschau blieb in weiten Bevölkerungsschichten bis ins 19. Jahrhundert hinein groß.

Urinspiegel erschienen

So wurde noch im Jahr 1777 in Augsburg, in deutscher Übersetzung von Johann Gottfried Essich, der „Urinspiegel“ des französischen Arztes Jean Davach de la Riviére heraus- gegeben, in einer Zeit also, als Harntraktate bei Medizinern schon lange nicht mehr hoch im Kurs standen. Das Originalwerk war unter dem Namen „Le Miroir des Urines“ 1696 erschienen und wurde mehrfach aufgelegt. Es gibt weitgehend die überkommenen Grundlagen der Harnschau wieder. Davach de la Riviére schildert eingangs, wie der Harn entsteht:

„Endlich ist der Urin in einem gesunden Körper der Auswurf oder Unflat, und das Zeichen einer vollkommenen Verdauung in den Gefäßen und Gedärmen, und zeigt sich sowohl seine Menge als auch seine Bestandtheile, nach Maaß der zu sich genommenen nassen Speisen; seine Citronenfarbe aber kommt von Salz und Schwefel her, welche sich in dem Wassersafte nach und nach aufgelöst und verkochet haben“ [Davach de la Riviére, Jean: Wohlbegründeter Urinspiegel, Augsburg 1777, 1. Kapitel, Von der Art und Weise, den Urin gehörig zu beurtheilen, S.6].

Das Werk gibt auch die Kritik wieder, allein durch den Urin, ohne Patienten bezug, eine Krankheit zu erkennen. Denn der Urin verfärbt sich anders durch den Einfluss der Ernährungsgewohnheiten, durch die Bewegung des Körpers und durch das Trinken, „welches man gar wohl merken kann, wenn man zu viel Wasser getrunken, oder wenn man Sachen zu sich genommen, welche den Urin zu färben im Stande sind, als z. E. Rhabarbara, Hülsenfrüchte, indianische Feigen, Wein, und andere dergleichen Sachen, die gar oft ihre Farbe dem Urin mittheilen“ [Davach, 1. Kap., S.9].

Zudem spielten auch die Jahreszeit und die Tageszeit der Urinabgabe eine Rolle, und es wurde geraten, den Urin nicht zu lange stehen zu lassen, bevor die Untersuchung stattfindet. Die Auswertung einer Harn- untersuchung konnten laut Davach de la Riviére wie folgt aussehen: „Der citronenfarbige, in seiner Substanz mittelmäßig subtile, und in dem obern Theile schwarzgelbe Wolken formirende Urin, wenn er lang also bleibt, und der Patient einen harten Bauch hat, so dass ,wenn man ihn stark berührte, er einen trommelähnlichen Laut von sich giebt, der Hals, Aerme und Schenkel sehr fett, die Füße aber unten geschwollen, auch ein großer Durst damit verbunden, zeiget die Windwassersucht an“ [Davach, S. 80].

Kommt es zu Blut im Urin, so ergeben sich nach Auffassung des französischen Arztes unter anderen folgende Diagnosen: „Wenn mit dem Urin Blut fortgehet, so darf man ganz sicher davon halten, dass dieses entweder aus den Nieren, oder aus der Leber, oder aus der Blase, oder endlich aus einer zerrissenen Ader herkomme; kommt es von den Nieren, so hat man starke Kreuz- und Lendenschmerzen; kommt es aus der Leber, so empfindet man an der rechten Seite Schmerzen, und das Blut ist ganz subtil; kommt es aber endlich von einer zerrissenen Ader her, so geht das Blut auf einmal in großer Menge fort“ [Davach, S. 99f.].

Kay Lutzekaylutze@ish.de

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