Beim Gesundheitsschutz zählt Deutschland zu den Schlusslichtern Europas
Wo steht Deutschland im internationalen Ranking bei der Förderung gesunder Verhaltensweisen, der Eindämmung chronischer Erkrankungen und der Umsetzung effektiver Präventionspolitik? Antworten auf diese Fragen liefert der neue Public Health Index (PHI), ein Kooperationsprojekt des AOK-Bundesverbandes und des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ), das heute bei einer Pressekonferenz in Berlin vorgestellt wurde.
Der PHI vergleicht den Umsetzungsstand wissenschaftlicher Empfehlungen zur Unterstützung gesunder Lebensweisen in 18 europäischen Ländern in den Handlungsfeldern Tabak, Alkohol, Ernährung und Bewegung. Diese gelten als wesentliche Risikofaktoren für die Entstehung vermeidbarer nicht-übertragbarer Krankheiten wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Diabetes oder Adipositas.
Für die Handlungsfelder Tabak und Alkohol greift der PHI auf bereits etablierte Indizes zurück: die Tabakkontrollskala und die BtG-M-Skala. Für die Handlungsfelder Ernährung und Bewegung haben die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler neue Indizes entwickelt.
Wir sind auf Platz 17 von 18 untersuchten Staaten
Was Deutschland betrifft, ist das Ergebnis des neuen Reports alarmierend. Bei der Umsetzung wissenschaftlich empfohlener Präventionsmaßnahmen belegt die Bundesrepublik demnach Rang 17 von 18 untersuchten Staaten in Nord- und Zentraleuropa. In der Einzelbetrachtung der vier untersuchten Handlungsfelder landet die Bundesrepublik bei Tabak, Alkohol und Ernährung jeweils auf den hinteren Rängen, bei Bewegung im unteren Mittelfeld. Auch die übrigen deutschsprachigen Länder – der sogenannte DACH-Raum – schneiden schlecht ab.
Deutschland setzt wirksame Maßnahmen nur zögerlich um
„Deutschland ist in der Präventionspolitik weit von europäischen Good Practices entfernt“, bemängelte Oliver Huizinga, Abteilungsleiter Prävention im AOK-Bundesverband. Ein Grund dafür sei, dass Deutschland und die anderen Länder des sogenannten DACH-Raums ausgerechnet besonders wirksame Maßnahmen der Verhältnisprävention zu wenig umsetzen.
Ungenutzte Präventionspotenziale liegen demnach vor allem in Maßnahmen zur Förderung gesunder Ernährung sowie zur Eindämmung des Konsums von Tabak und Alkohol. In Großbritannien, Irland und im skandinavischen Raum ist die Präventionspolitik dagegen stärker an den Empfehlungen der WHO zur Eindämmung übertragbarer Krankheiten ausgerichtet.
Vorne liegen Großbritannien, Finnland und Irland
Am besten schneiden dem PHI zufolge Großbritannien, Finnland und Irland ab. Diese Länder erreichen die höchsten Punktzahlen, dicht gefolgt von Norwegen und Frankreich. Die Spitzenreiter setzen besonders viele der wissenschaftlich empfohlenen Maßnahmen zur Förderung gesunder Lebensweisen um, zum Beispiel Mindeststandards für Schulessen, eine gesundheitsorientierte Besteuerung sowie umfassenden Kinderschutz etwa durch Einschränkungen von Werbung und Verfügbarkeit gesundheitsschädliche Konsumgüter.
Spitzenreiter haben eine Zuckersteuer und Regeln zum Kaloriengehalt
Im Bereich Ernährung setzen die Spitzenreiter auf Maßnahmen, die insbesondere Kinder und Jugendlichen eine gesunde Wahl von Speisen und Getränken erleichtern. So gibt es in Großbritannien beim Schulessen und für Snack-Automaten an Schulen verbindliche Regeln zum Kaloriengehalt und den zulässigen Lebensmittelgruppen. 2018 wurde im Vereinigten Königreich eine nach dem Zuckergehalt gestaffelte Hersteller-Abgabe für Softdrinks eingeführt.
Ab Januar 2026 soll Werbung für ungesunde Lebensmittel nur noch nach 21 Uhr im Fernsehen ausgestrahlt und online gar nicht mehr gezeigt werden. Hingegen gilt in Deutschland lediglich eine freiwillige Selbstverpflichtung der Hersteller, den Zuckeranteil in Softdrinks zu reduzieren. Auch bei der Schulverpflegung gelten nur in fünf Bundesländern verbindliche Qualitätsstandards für die Schulverpflegung; in den übrigen Bundesländern sind sie freiwillig.
Rauchen und Alkohol trinken wird möglichst unattraktiv gemacht
Die Länder zeichnet zudem aus, dass sie Rauchen und Alkoholkonsum möglichst unattraktiv machen, unter anderem durch Ausweitung rauchfreier Umgebungen zum Schutz von Kindern und Jugendlichen, höhere Preise, Beschränkungen der zeitlichen und örtlichen Verfügbarkeit und weitreichende Werbeeinschränkungen.
Während zum Beispiel in Irland in Kneipen und Bars nicht geraucht werden darf, haben in Deutschland viele Bundesländer Ausnahmen für die Gastronomie geschaffen. Hierzulande ist auch Alkohol rund um die Uhr nahezu flächendeckend verfügbar, wird wenig besteuert und darf beworben werden. Ab 14 Jahren ist „begleitetes Trinken“ erlaubt. In Norwegen sind alkoholische Getränke erst ab 20 Jahren verfügbar und dürfen nicht beworben werden.
Auf dem Feld Bewegung ist es dem Report zufolge schwieriger, Maßnahmen abzuleiten, hier geht es vor allem darum, eine bewegungsförderliche und auch für Kinder sichere Infrastruktur und das Vorhandensein von Programmen zur Bewegungsförderung in Schulen oder am Arbeitsplatz zu schaffen.
AOK-Chefin Reimann sieht Politik in der Pflicht
Deutschland lasse viel Präventionspotenzial ungenutzt, kritisierte Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbands. „Die politischen Rahmenbedingungen machen es in Deutschland besonders attraktiv, viel zu trinken, falsch zu essen und mit dem Rauchen anzufangen.“
Prävention sei nicht nur Privatsache oder eine Frage der Eigenverantwortung. Reimann sieht die Politik gefordert, die gesunde Wahl zur einfacheren und leichteren Wahl im Alltag zu machen und systematisch gesunde Umgebungen zu schaffen. „Wir brauchen endlich eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik, die nicht innerhalb der Grenzen des Sozialgesetzbuchs V verharrt, sondern ressortübergreifend vorangetrieben wird. Das ist der wirksamste Hebel zur langfristigen Stabilisierung des Solidarsystems“, betonte Reimann.
Allein 40 Prozent aller Krebserkrankungen gelten als Folge ungesunden Lebensstils, informierte Prof. Michael Baumann, Vorstandsvorsitzender des DKFZ. Deutlich über die Hälfte dieser vermeidbaren Fälle gehe auf das Konto von Tabak, Alkohol, ungesunder Ernährung und Bewegungsmangel – die darüber hinaus auch das Risiko für andere große Volkskrankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und für neurodegenerative Erkrankungen deutlich erhöhten.
Wirksame Gesundheitsprävention könne daher viel menschliches Leid verhindern und gleichzeitig enorme volkswirtschaftliche Kosten einsparen. „Deswegen engagieren wir uns für eine Gesetzgebung, die es allen erleichtert, gesund zu leben“, sagte Baumann. Dazu brauche es umfassenden politischen Willen, die Prävention und Gesundheitsförderung in den Mittelpunkt zu stellen, um damit die Weichen von einer rein kurativen zu einer präventiven Medizin zu stellen.
BÄK-Präsident fordert höhere Steuern auf Nikotin, Alkohol und Zucker
Laut Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), zeigt der Public Health Index deutlich, dass Deutschland bei Prävention und Gesundheitsförderung im internationalen Vergleich erheblichen Nachholbedarf hat. Die Krankheitslast durch chronische, nichtübertragbare Erkrankungen steige, begünstigt durch ungesunde Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten sowie einen weiterhin hohen Alkohol- und Tabakkonsum.
„Wir müssen endlich konsequent auf Prävention setzen“, forderte Reinhardt. Dazu gehöre erstens, die Steuern auf Nikotin, Alkohol und Zucker zu erhöhen, um Konsum zu reduzieren und Präventionsprogramme zu finanzieren. Zweitens müsse die Bundesregierung Prävention und Gesundheitsförderung ressortübergreifend verankern und alle Gesetzesvorhaben auf ihre gesundheitlichen Auswirkungen prüfen. Drittens brauche Deutschland konkrete Präventionsziele, die gemeinsam mit allen relevanten Akteuren entwickelt und umgesetzt werden müssten.




