Rezension

Das Orale als Fundus für Kultur und Wissenschaft

Heftarchiv Gesellschaft

Zahnmedizin und Kultur – zwei Bereiche, die sich zueinander verhalten wie Fisch und Fahrrad? Definitiv nicht. Mitdenkende Kenner der Materie wissen das. Zu offensichtlich sind die Hinweise, dass hier keine Antipoden am Werk sind. Was zu beweisen wäre?

Eine beeindruckende, nahezu systemische Demonstration für diese These haben jetzt die Zahnärztin Beate Slominski und der Kulturforscher Hartmut Böhme angetreten. Als Herausgeber eines 350seitigen, hochwertig mit vielen Abbildungen gestal-teten Werks über „Das Orale“ haben sie fundierte Statements eingeholt – zu fast allen Facetten, die dazu beitragen können, die Mundhöhle medizinisch wie kulturwissenschaftlich zu durchleuchten.

Ob Literatur, bildende Kunst, Musik, Psychologie, ob Kultur-geschichte, Linguistik oder das Spektrum der Naturwissen-schaften: Die hier zusammen- gestellten Beiträge einer quasi als Avantgarde fungierenden Expertengruppe machen „Das Orale“ zu einem Schmelztiegel von Kultur und Wissenschaft.

Das eigentlich Naheliegende, nämlich die Relevanz der Zahnmedizin für die systemische Gesundheit von Mensch, Gesellschaft und Kulturwerdung, ist selbstverständlich Teil des Buches.

Aber es ist mehr: Der Mundraum wird hier im Rahmen einer Tour d’Horizon durch die intellektuellen Disziplinen zum symbolischen Dreh- und Angelpunkt für Unterbewusstes, für Trieb und Ängste, zum Resonanzraum musikalischer Improvisation, zur symbolischen Kraft für ein Gemisch aus Macht, Liebe, Tod und Teufel. Das alles wirkt in dieser Textsammlung gedanklich genauso zentral wie die Zahnmedizinern so geläufigen medizinischen Aspekte.

So wird dieses Buch zu einer intellektuell besonderen Erfahrung. Das nicht nur wegen der vielen bekannten Vertreter klinischer und praktischer Zahnmedizin wie Dominik Groß, Bernd Kordass, Michael J. Noack, Ralf Vollmuth oder Jürgen Weitkamp – um nur einige zu nennen –, sondern auch wegen ausgesuchten Protagonisten schöner Künste wie Durs Grünbein oder Wladimir Kaminer und vielen anderen, die ihre Beiträge für diesen Band geleistet haben.

Auf der Leipziger Buchmesse hat der Einband – auch jenseits der zahnmedizinischen Fachwelt – besondere Beachtung gefunden. Zurzeit angekündigte Lesungen deuten an, dass das Werk in der Lage ist, kulturelle Brücken zu anderen Fächern zu bauen. Das allein wäre besondere Leistung.

Dabei ist es nicht diese Parade der Kapazitäten aus natur- und geisteswissenschaftlicher Hochschule, Kunst und Kultur, die den Diskurs so lesenswert macht. Es ist für viele, die sich mit diesem Gebiet befassen, vor allem eine Mannigfaltigkeit von Antworten auf offene Fragen, die sich selbst Kennern der Materie stellen.

Auf diese Weise gerät das Buch zu einer eigenständigen, ganz persönlich erfahrbaren Pionierleistung – und untermauert eine wichtige Erkenntnis: Zahnmedizin und Kultur haben viele Berührungspunkte. Sie bilden – ganz anders als das sprich- wörtliche Non-Verhältnis zwischen Fisch und Fahrrad – ein bemerkenswertes Netzwerk ganz unterschiedlicher Beziehungen.

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