Reale und fiktive Bedrohungen

Potenzial von Risiken

Heftarchiv Gesellschaft
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Gesundheitsrisiken sind scheinbar omnipräsent: Epidemien, atomare Strahlung und Gifte in der Nahrung. Vermeintliche und reale Bedrohungen gilt es zu unterscheiden. Wenngleich beide Phänomene von der Öffentlichkeit als ähnlich brisant empfunden werden. Eine Tagung in Berlin hat sich mit der Problematik befasst.

Wer Risiken im zwischenmenschlichen Bereich aus dem Bauch heraus erkennen kann, hat wohl eine intuitive Gabe. Geht es um Bedrohungen im größeren Stil, helfen auf wissenschaftlicher Basis entwickelte Instrumente weiter. Das diesjährige Symposium der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Statistik (DAGStat) wurde mit dem Bundesinstitut für Risikoforschung (BfR) gemeinsam durchgeführt und stand unter dem Titel „Was bedroht unser Leben wirklich? Statistische Bewertung von Gesundheitsrisiken“. Im Zentrum standen Fragen der subjektiven Wahrnehmung von Gesundheitsrisiken und der Möglichkeiten, solche Risiken sinnvoll zu kommunizieren.

Gefühlte versus reale Risiken. Über die Unterschiede zwischen naturwissenschaftlicher Risikobewertung und subjektiver Risikowahrnehmung sprach Dr. Gaby Fleur-Böl vom BfR. Die Wahrnehmung von Risiken erfolge nach Kriterien, die bei wissenschaftlichen Experten und Verbrauchern teilweise kontrastieren. Während das objektive Risiko messbar sei und maßgeblich vom Gefährdungspotenzial und der Exposition abhänge, orientiere sich die Bewertung für subjektive Risiken eher an Parametern wie Kontrollierbarkeit, Katastrophenpotenzial oder Schrecklichkeit.

Risikokommunikation – Viel Arbeit für Profis

Gefühlte Risiken entstünden auch aufgrund von möglichen Defiziten in der Risikokommunikation. Sie seien zwar nicht wissenschaftlich begründet, prägten aber das Verhalten der Menschen im Alltag. Positiv sei eine offene und verständliche Risikokommunikation, die Positionen verschiedener Seiten in die Diskussion einbeziehe. Formate wie Verbraucherkonferenzen oder Stakeholder-Foren trügen dazu bei, gefühlte Risiken auf ihren rationalen Kern zurückzuführen, erklärte Fleur-Böl vom BfR.

Zur Risikobewertung vorgeburtlicher Schädigungen referierte Prof. Dr. Reinhard Meister von der Beuth Hochschule für Technik, Berlin. Sein Fokus lag auf der Arzneimittelsicherheit in der Schwangerschaft. Seit Contergan wisse man, dass Arzneimittel schwere Schädigungen des Ungeborenen verursachen könnten. Allerdings sei das Wissen über das tatsächliche Risiko für viele, wenn nicht für die meisten Medikamente noch sehr begrenzt. Eine Konsequenz dieses mangelnden Wissens: Warnhinweise auf der Mehrzahl der Beipackzettel, dass die Einnahme in der Schwangerschaft wegen möglicher Gefahren kontraindiziert sei. Laut Meister bestehe auch für Schwangere der Bedarf an sachgerechter medikamentöser Therapie. Fachgerechte Informationen seien hier übereilten Warnungen vorzuziehen. Da es keine randomisierten klinischen Studien mit Schwangeren gebe, sei man auf die freiwillige Teilnahme von Schwangeren an Beobachtungsstudien angewiesen. Die biometrische Analyse stelle eine zusätzliche Herausforderung dar. Das Berliner Beratungszentrum für Embryotoxikologie leiste hier wichtige Arbeit. Neben der Beratung von Schwangeren gehöre die Dokumentation und Analyse von Schwangerschaftsverläufen zu den Aktivitäten des Zentrums. Die erfassten Daten bilden die Grundlage für vergleichende prospektive Kohortenstudien zur Arzneimittelsicherheit. Im Internetportal www.embryotox.de könnten sich medizinisches Fachpersonal und Schwangere realistisch und anschaulich über den Kenntnisstand zu Arzneimittelrisiken informieren. Bis Mai dieses Jahres werde der zweimillionste Besucher des Portals erwartet. Angesichts der essenziellen Bedeutung des Schwangerschaftsausgangs für die Gesundheit des Kindes sollten aus Sicht von Meister Aktivitäten zur Erfassung und Bewertung von vorgeburtlichen Risiken gefördert werden. Eine verbesserte Kooperation innerhalb der Ärzteschaft sei ebenso wünschenswert.

Keine Gefahrenerkennung ohne richtiges Verständnis

Immanent wichtig ist die Kommunikation von „echten“ Risiken auch in der Medizin. Prof. Gerd Gigerenzer vom Max-Planck- Institut für Bildungsforschung, Berlin konstatierte: „Eine effiziente Gesundheitsversorgung braucht gut informierte Ärzte und Patienten. Das Gesundheitssystem, das uns das 20. Jahrhundert hinterlassen hat, erfüllt beide Bedürfnisse nicht. Viele Ärzte und noch mehr Patienten verstehen die verfügbaren medizinischen Daten und Forschungsergebnisse nicht.“ Sieben „Sünden“ seien dafür mitverantwortlich: eine profitorientierte Finanzierung, eine irreführende Berichterstattung in medizinischen Zeitschriften, einseitige Patientenbroschüren, irreführende Darstellungen in den Medien, Interessenkonflikte, eine defensive Medizin und Ärzte, die statistische Evidenz mangelhaft verstehen. Ergebnis dieser Fehler sei dann ein in Teilen ineffizientes Gesundheitssystem, das Steuergelder für unnötige oder sogar schädliche Tests und Behandlungen verschwende und medizinische Forschungen finanziere, die für Patienten begrenzt relevant seien. Steuererhöhungen oder Rationierung der Gesundheitsversorgung würden oft als die einzig praktikablen Alternativen zur Kostenexplosion im Gesundheitswesen angesehen. Es gebe jedoch noch eine dritte Option: gute Aufklärung. Das 21. Jahrhundert soll das Jahrhundert des Patienten werden. Regierungen und Institutionen müssten dafür einen anderen Kurs einschlagen, forderte Gigerenzer. Ehrliche und transparente Informationen seien die geeigneten Mittel, um den Weg zu besseren Ärzten, besseren Patienten und letztendlich auch einer besseren Gesundheitsversorgung bahnen.

Antworten auf die Frage „Was leisten statistische Modelle?“ lieferte Prof. Matthias Greiner vom BfR. Die Vorgehensweise in der quantitativen Risikobewertung (QRB) sei dadurch geprägt, dass zu einem fraglichen Sachverhalt – der Risikofrage – Kenntnisse und Informationen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengetragen und hinsichtlich eines definierten, gesundheitsbezogenen Endpunkts quantitativ bewertet würden. Diese Bewertungen erfolgten in einem strukturierten Ansatz, der eine Charakterisierung der möglichen Gefährdung, eine Expositionsabschätzung und eine zusammenfassende Charakterisierung des Risikos beinhaltet, erklärte Greiner. Den höchsten Erkenntnisgewinn lieferten die „probabilistischen Modelle“, in denen die im Realsystem vorhandene Variabilität sowie statistische und andere Unsicherheiten durch Verteilungen abgebildet werden und durch eine „Monte Carlo (MC) Simulation“ numerisch integriert würden. Die teilweise komplexen numerisch-statistischen Methoden für den Umgang mit Unsicherheiten seien für Risikobewerter und Gutachter von Risikobewertungen von Interesse. In der Kommunikation von QRB gelte es in erster Linie, Grenzen aufzuzeigen, in denen eine gesundheitliche Bewertung unter Unsicherheiten zu gültigen Schlussfolgerungen führe.

Das BfR erstellt Bewertungen für Lebensmittel, Verbraucherprodukte und Chemikalien. Die Stellungnahmen werden auf der BfR-Webseite veröffentlicht und neuerdings auch grafisch im „BfR-Risikoprofil“  zusammengefasst. „So können die Leser die betroffenen Verbrauchergruppen, die Schwere möglicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die Datengrundlage und die Kontrollierbarkeit schnell und leicht erfassen“, sagte BfR- Präsident Prof. Andreas Hensel bei der Vorstellung des Risikoprofils in Berlin. Die grafische Darstellung der Risikomerkmale soll die Transparenz der Risikobewertungen durch standardisierte Begrifflichkeiten erhöhen und das Verständnis erleichtern. Die betroffenen Verbrauchergruppen, die Schwere möglicher gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die Datengrundlage und die Kontrollierbarkeit des Risikos könnten so schnell und leicht erfasst werden. Das Profil wird fortlaufend evaluiert. Dies geschehe zunächst in einer dreimonatigen Pilotphase.

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