Richard Wagner und Zahnarzt Jenkins

Sein guter Freund

Heftarchiv Gesellschaft
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Die Literatur zu Werk und Leben Richard Wagners (1813–1883) ist kaum zu überschauen. Zu nur ganz wenigen Personen der Welt- und Kulturgeschichte ist so viel geforscht und geschrieben worden wie über den Komponisten aus Leipzig, der sich in Bayreuth sein eigenes Festspielhaus bauen ließ und dessen Geburtstag sich dieses Jahr am 22. Mai zum 200. Mal jährt. Dennoch gibt es in der Wagner-Forschung noch weiße Flecken – zum Beispiel über seine Zahnleiden und über die Freundschaft zu seinem Zahnarzt.

Richard Wagners Erfahrung auf zahnärztlichem Gebiet und vor allem seine Begegnungen und sein Austausch mit Zahnärzten wie Neville Sils Jenkins sind von der Wagnerliteratur noch nicht in dem ihnen gebührenden Maß systematisch aufgearbeitet worden. Es sind aber gerade solche, zunächst trivial erscheinende Randerscheinungen im Leben einer so bedeutenden Künstlerpersönlichkeit, die auf deren Charakter und Verfassung Rückschlüsse zu geben vermögen.

Hier bewahrheitet sich wieder der Spruch, dass der Teufel im Detail steckt, wie der Kulturwissenschaftler Aby Warburg nie müde wurde zu betonen. Solche, dem Privatbereich zuzurechnenden Äußerungen, bringen uns weniger das Musikgenie als vielmehr die menschliche und private Seite Wagners näher. Seinem geradezu manischen Aufzeichnungs- und Mitteilungsdrang in Form unzähliger Briefe und Tagebuchaufzeichnungen ist es zu verdanken, dass wir auch über diesen Teil seines Lebens erfahren.

Aufzeichnungen im „Braunen Buch“

Als erste Quelle dient eine Stelle in Wagners von ihm persönlich niedergeschriebenen Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1865 bis 1882, die aufgrund des braunen Ledereinbands der Wagnerforschung als „Das braune Buch“ bekannt sind [Bergfeld, 1975]. Das Tagebuch wurde ihm 1865 in München von seiner Geliebten und späteren Ehefrau Cosima von Bülow (1837–1930) geschenkt, die ihn nach seinem Tod 1882 um fast 50 Jahre überleben sollte. Cosima war übrigens eine Tochter des Komponisten Franz Liszt (1811–1886) und zum damaligen Zeitpunkt mit dem bedeutenden Dirigenten Hans von Bülow (1830–1894), einem engen Freund und Förderer Wagners, verheiratet.

Da diese delikaten Umstände es nicht erlaubten, dass sich das Liebespaar ungestört austauschen konnte, sollte Wagner auf Cosimas Geheiß im Tagebuch all das aufschreiben, was er fühlte und was ihn im Hinblick auf ihre Person bewegte. Bemerkenswert ist nun, dass sich Wagner in diesem „dossier d’amour“ an einer Stelle auch über eine Zahnbehandlung auslässt.

So reiste er am 23. Oktober 1865 wegen eines Zahnarztbesuchs von München nach Wien [BB. 88]. Sein Tagebucheintrag lautet: „Heute geht’s […] zum Zahnarzt – dieser Unmensch wird nun über mein Dasein – nämlich: in- Wien- sein, bestimmen“ [BB. 89]. Näheres erfährt man über die Person des als „Unmensch“ bezeichneten Zahnarztes leider nicht. Der nächste diesbezügliche Eintrag datiert vom 26. Oktober 1865: „und welcher Teufel mich auf einmal in Wien hat! Heut’ wird mein Zahnarzt fertig, aber ich soll nicht am gleichen Tag reisen, weil die mindeste Erkältung mir große Übel hervorrufen könnte. […] Gestern war ich in Folge einer sehr, sehr schlechten Nacht übel daran: doch wurde eine Zahnoperation vorgenommen“ [BB. 93 ff.].

Interessant ist Wagners letzter Eintrag zur Sache vom 28. Oktober: „Der Zahnarzt spricht mir aus dem Bau meiner Zähne Langlebigkeit zu: das werden wir sehen, was ich damit anfange. Was ich aushalten kann ist unglaublich: und dieser Zahnarzt hat es mich wieder gelehrt. Es ist schließlich an allen diesen Schmerzen etwas, was nur an mir herumgeht und nicht in mein inneres Leben dringt […] Eigentlich sollte mich nur eines am Lebensnerv treffen, nur die Geliebte könnte diess. Ich glaube aber, nur Dein Verlust, dein Tod könnte dies sein…“ [BB. 95].

Blumige Beschreibungen an die Geliebte

Dieser Eintrag ist zunächst ein vortreffliches Beispiel für Wagners blumige und manchmal exaltierte Ausdrucksweise, wenn er die während der Zahnbehandlung erlittenen Schmerzen, die sicher nicht unerheblich waren, als gering erachtet, im Vergleich zum Verlust der innig Geliebten. Des Weiteren ist es erstaunlich, dass der Zahnarzt ihm aus dem „Bau“ der Zähne ein langes Leben prophezeit. Wahrscheinlich handelte es sich bei der Zahnbehandlung um eine Extraktion und der Kollege schloss aus der Länge und Beschaffenheit der Wurzel auf Wagners Lebenserwartung.

Wagner arbeitete zur Zeit des Tagebucheintrags bereits am Prosaentwurf zu „Parsifal“, seinem letzten und im Festspielhaus von Bayreuth erst 1882 uraufgeführten Werk, bei dem die Schmerzthematik ein ganz zentrales Thema darstellt.

Interessanterweise suchte Wagner keinen Zahnarzt in München auf, wo er zur damaligen Zeit wohnte, sondern begab sich auf die beschwerliche Reise nach Wien. Aus dieser Tatsache könnte man den Schluss ziehen, dass er zu den in München praktizierenden Kollegen kein rechtes Vertrauen hatte und ihm keine Mühe zu groß war, eine Kapazität außerhalb zu konsultieren. Vielleicht kannte der viel gereiste Wagner den Kollegen auch von früheren Aufenthalten in Wien. Diese Mutmaßungen müssen einstweilen Spekulation bleiben, da keine sonstigen Quellen zur Verfügung stehen.

Auf alle Fälle ist es bemerkenswert, dass der Komponist sehr um den Erhalt und Behandlung seiner Zähne bemüht war, was zu seiner Zeit selbst in höchsten aristokratischen Kreisen nicht unbedingt die Regel war. So litt Kaiserin Elisabeth von Österreich, die als Sissi bekannt wurde, zeitlebens unter ihren schlechten Zähnen [Hamann, 159]. Das gleiche Los war auch Wagners wichtigstem Gönner, dem „Märchenkönig“ Ludwig II. von Bayern, beschieden [Rumschöttel, 96].

Amerikanischer Zahnarzt aus Dresden

Auch in späterer Zeit, als Wagner schon in Bayreuth heimisch geworden war, suchten er und seine Familienangehörigen bei Zahnleiden keineswegs ortsansässige Kollegen auf, sondern man begab sich nach Dresden zu dem damals hoch angesehenen amerikanischen Zahnarzt Neville Sill Jenkins. Mitunter ließ man ihn auch persönlich nach Bayreuth kommen, wo man ihn in Wagners dortiger Wohnstätte, im Hause Wahnfried, freundlich empfing, wie man aus Cosimas Tagebüchern entnehmen kann.

Trotz seiner damaligen Berühmtheit ist nur wenig über Jenkins bekannt. Er praktizierte seit den 1870er-Jahren in Dresden und war maßgeblich an der Entwicklung von keramischen Massen für den prothetischen Einsatz beteiligt. So stellte er 1899 eine bei niedriger Temperatur schmelzende Keramikmasse für Kronen und Brücken vor. Er verließ Dresden im Jahr 1909 und starb 1919 in seiner alten Heimat.

Erfährt man im „Braunen Buch“ nur an einer Stelle etwas über Wagners Zahnleiden, so sind Cosimas Tagebücher, die sie ab dem 1. Januar 1869 sehr sorgfältig mit täglichen Eintragungen versah, für Forschungsbelange bedeutender. Interessant ist zunächst der Eintrag vom 16. September 1877. „Am Sonntag 16ten liest R. [also Wagner] allen den Parsifal vor […] – Für mich ist bei all diesem Planen das traurige Gefühl, dass R. vom eigentlichen Schaffen abgelenkt wird. […] Am Montag 17ten begibt sich R. wieder an die Arbeit“ [CW. TB. Bd.1, 1071].

Über die von Cosima angesprochene Ablenkung und eventuelle Unpässlichkeit erhält man im Eintrag zum 21. September eine mögliche Erklärung: „Mr. Jenkins, der amerikanische Zahnarzt, kommt auf mein Ersuchen zu R. aus Dresden, der sehr artige Mann beginnt seine Operation gleich am Nachmittag“. Am folgenden Tag schreibt Cosima: „Weitere Operation, R. erträgt es mit Geduld, sagt selbst, er habe während dem komponiert! Abschied von Dr. Jenkins, welcher durchaus von R. kein Geld annehmen will“ [CW. TB. 1976, Bd.1, 1071].

Dass Jenkins für seine zahnärztliche Behandlung kein Honorar verlangte, machte ihn für die in finanziellen Dingen immer recht klammen Wagners sehr sympathisch. Jenkins, ein glühender Wagnerverehrer, besuchte den Komponisten in der Folge immer wieder zu diversen Zahnbehandlungen in dessen Bayreuther Domizil. Jenkins wurde von der Familie Wagner nicht nur als Zahnarzt, sondern auch als Gesprächspartner sehr geschätzt.

Intensiver Meinungsaustausch

Man nutzte diese Besuche jenseits der zahnärztlichen Behandlungen auch zum Meinungsaustausch über politische und gesellschaftliche Dinge. So berichtet Cosima über einen weiteren Besuch Jenkins in Bayreuth am 24. Januar 1879: „R.’s Nacht war gut, und er arbeitet! Um zwei Uhr empfangen wir Dr. Jenkins, welcher kommt, um R.’s Zähne zu untersuchen […]“ [CW. TB. Bd. 2, 296]. Jenkins wird von der Wagnerfamilie am gleichen Abend zum Essen eingeladen. Man diskutiert mit dem „trefflichen Amerikaner“ über die politischen Zustände in Deutschland und in Amerika. „Recht Interessantes teilt uns Dr. Jenkins über die Neger mit, von denen R. sich die Teilnahme an dem öffentlichen Leben kaum vorstellen kann; er meint, das, was sie bedeutend gemacht habe, sei die rührende Ergebenheit in ein grausames Schicksal“ [CW. TB. Bd. 2, 296]. Aus dieser Äußerung Wagners kann man einerseits Rückschlüsse auf dessen nationalistische und rassistische Weltanschauung ableiten. Andererseits, und dies ist nicht unbedeutend, scheint er über die missliche Lage der Sklaven in Nordamerika wohl unterrichtet gewesen zu sein, was für seinen weiten Geisteshorizont Zeugnis ablegt. Im weiteren Tischgespräch kommt man auf jenes Thema zu sprechen, das die Treffen Wagners und Jenkins in der Folgezeit geradezu leitmotivisch durchziehen wird: eine mögliche Auswanderung Wagners in die Vereinigten Staaten. Der Komponist war nach den ersten Festspielen von 1876 mit der zyklischen Uraufführung des „Rings des Nibelungen“ in ernsten Finanznöten, und er war auch mit dem künstlerischen Ergebnis nicht restlos zufrieden. Pläne für eine Auswanderung nach Amerika wurden immer konkreter. „Schöne Züge von den Deutschen in Amerika erzählt Dr. Jenkins, und R. sagt: Ja, die Auswandernden, das sind die Guten […] die Sesshaften sind die Philister“ [CW. TB. Bd. 2, 296].

Die besondere Wertschätzung, die Wagner für seinen Zahnarzt empfand, bekundete er auf sehr persönliche Art. Cosima notiert am 26. Januar: „R. nimmt Abschied von Dr. Jenkins, nachdem er ihm gestern die humoristische Widmung des Ring des Nibelungen gemacht hat“ [CW. Tb. Bd. 2, 297; Westernhagen, 567]. Wagners Auswanderungspläne nahmen immer konkretere Gestalt an. Cosima schreibt am 1. Februar 1880 während eines Aufenthalts der Familie in Neapel: „ Er will nach Amerika ziehen. […] Er hielt es in der Lage in Deutschland nicht mehr aus. […] Immer wieder kommt er auf Amerika zurück, sagt, dass sei der einzige Erd-Teil auf der Weltkarte, welcher ihm zu sehen Vergnügen mache, was die Hellenen unter den Völkern, das ist dieser Weltteil unter den Ländern“ [CW. TB. Bd. 2, 486-487].

Am 8. Februar schließlich bittet Wagner seinen Zahnarzt in einem aufschlussreichen Brief in dieser Angelegenheit um Rat mit detaillierten Wünschen und finanziellen Vorstellungen: „My noble friend Jenkins […] Ich halte es nicht für unmöglich, dass ich mich noch entschließe, mit meiner ganzen Familie und meinem letzten Werk [Parsifal] für immer nach Amerika auszuwandern. Da ich nicht mehr jung bin, bedürfte ich hierfür ein sehr bedeutendes Entgegenkommen von jenseits des Ozeans. Es müsste sich dort eine Assoziation bilden, welche mir zu meiner Niederlassung und als einmalige Bezahlung aller meiner Bemühungen ein Vermögen von einer Million Dollar zur Verfügung stellte […] Hiermit hätte Amerika mich für alle Zeiten abgekauft. […] Die Assoziation hätte ferner den Fonds für die alljährlich zu veranstaltenden Festspiele zusammenzubringen […]. Alle künftigen Leistungen meiner Seits, sei es als Leiter von Aufführungen oder als schöpferischer Künstler würden […] für alle Zeiten unentgeltlich der amerikanischen Nation gehören“ [Westernhagen, 520].

Von der Auswanderung abgeraten

Jenkins gelingt es nach reiflicher Überlegung und in Absprache mit anderen amerikanischen Verehrern des Künstlers, Wagner klar zu machen, dass es für ihn und seine Kunst besser sei, in Deutschland zu bleiben. So verzichtet der Bayreuther Meister schließlich nicht zuletzt auch wegen seines Alters auf eine Auswanderung, wie Cosima am 22. März 1880 festhält [CW. TB. Bd. 2, 509].

In den folgenden Jahren bleiben Wagner und seine Familie weiterhin mit Jenkins sowohl in schriftlichem Kontakt [8. und 13. Juli 1880, CW. TB. Bd. 2, 565 und 568] als auch in zahnmedizinischer Behandlung. Anlässlich eines längeren Aufenthalts der Wagnerfamilie in Dresden heißt es im Tagebucheintrag Cosimas vom 6. September 1881: „Gute Nacht im Hotel Bellevue; erster Gang für die Kinder: der Zahnarzt, ich lasse sie dort […], um dann mit R. zu Dr. Jenkins zu gehen [CW. TB. Bd. 2, 791]. Interessant für das entspannte Verhältnis Wagners zu seinem Zahnarzt ist der Eintrag vom 8. September: „Mit R. fahre ich zu Jenkins, wo R. allerhand Scherze zum besten gibt“ [CW. Tb. Bd.2, 792].

Einem Bekannten gegenüber äußert Wagner am selben Tag nach dem Besuch bei Jenkins: „Mein Zahnarzt hat mir geraten, viel vom Hause Schott [Musikverleger in Mainz, d. Verf.] für den Parsifal zu fordern“ [CW. TB. Bd. 2, 792]. Vier weitere Zahnarztbesuche der Wagnerfamilie bei Jenkins folgen zwischen dem 9. und dem 13. September 1882. Als Lohn für seine Mühe durfte Jenkins auf persönliche Einladung der Ur-aufführung des Parsifal am 26. Juli 1882 im Bayreuther Festspielhaus beiwohnen [Westernhagen, 522].

Auch wenn man die Rolle, die Neville Sils Jenkins in Wagners Leben einnahm, nicht allzu sehr überschätzen darf, so ist es doch wohl in nicht unbedeutendem Maße dem Rat seines Zahnarztes zu verdanken, dass Richard Wagner seine Auswanderungspläne nicht in die Tat umsetzte. Sein Parsifal wurde nicht in Amerika, sondern im fränkischen Bayreuth uraufgeführt, jener kleinen barocken Residenzstadt, die dadurch im Laufe der Zeit durch die Wagnerfestspiele zur Pilgerstätte von Musikfreunden aus aller Welt wurde.

Diese Tatsache sollte uns Zahnärzte, auch wenn wir keine Wagnerverehrer sind, mit Freude und ein wenig Stolz erfüllen.

Dr. Dr. Wolfgang Schug, M.A.Cecilienstr. 466111 Saarbrückenschug.saarbruecken@online.de

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