Beschluss im Bundeskabinett

Mehr Zeit und Geld für die Pflege

Mit der angekündigten Pflegereform dreht das Bundesgesundheitsministerium gleich an mehreren Schrauben – mehr Geld, mehr Flexibilität und der Aufbau einer Finanzreserve für kommende Generationen. Kritiker bemängeln allerdings, dass immer noch unklar ist, wann die Neudefinition des Pflegebedürftigkeitsbegriffes umgesetzt wird.

Das Bundeskabinett hat Ende Mai den Entwurf des 1. Pflegestärkungsgesetzes beschlossen. Damit beginnt das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren in Bundestag und Bundesrat. Das Gesetz wird voraussichtlich zum 1. Januar 2015 in Kraft treten. Um die damit verbundenen zusätzlichen Leistungen zu finanzieren, soll der Beitragssatz zur Pflegeversicherung zunächst zum 1. Januar 2015 um 0,3 Prozentpunkte angehoben werden. Ab 2017 folgt in einer zweiten Stufe eine weitere Steigerung um 0,2 Prozentpunkte. Die gestiegenen Beiträge werden von Arbeitnehmern und Arbeitgebern paritätisch finanziert und sollen der Pflegeversicherung zu zusätzlichen Finanzmitteln in Höhe von insgesamt rund sechs Milliarden Euro verhelfen. „Die Menschlichkeit unserer Gesellschaft muss sich gerade darin zeigen, wie wir mit Pflegebedürftigen und Kranken umgehen. Gute Pflege muss uns etwas wert sein“, erklärt dazu Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe.

Für die Dynamisierung der Leistungen sowie erweiterte Ansprüche und flexibilisierte Leistungen sind rund 2,4 Milliarden Euro eingeplant. Der Gesetzentwurf des Bundesgesundheitsministeriums sieht vor, dass alle Leistungsbeträge der Pflegeversicherung um vier Prozent erhöht werden. Ausnahme sind erst 2012 mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz neu eingeführte Leistungen, für die eine Anhebung von 2,67 Prozent vorgesehen sind. Durch diese Dynamisierung der Geld- und Sachleistungen soll der Kaufkraftverlust der Pflegeversicherung durch die Inflation verringert werden. Eine automatische, regelmäßige Anhebung der Leistungen für die Zukunft sieht das Gesetz allerdings nicht vor.

Hilfe für Pflege zu Hause

Vor allem Familien, die Angehörige zu Hause pflegen möchten, sollen künftig mehr Hilfen bekommen. „Zwei Drittel aller Pflegebedürftigen in Deutschland werden zu Hause gepflegt, vor allem von den Angehörigen. Das entspricht dem Wunsch der allermeisten Pflegebedürftigen und zeigt eindrucksvoll, wie stark der Zusammenhalt innerhalb der Familien ist“, so Gröhe. Deshalb würden Unterstützungsleistungen wie die Kurzzeit-, Verhinderungs- sowie Tages- und Nachtpflege künftig ausgebaut. Zudem sollen diese Leistungen besser miteinander kombiniert werden können. Menschen in der Pflegestufe 0, also vor allem Demenzkranke, erhalten erstmals Anspruch auf Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege. Aber auch die Arbeit der Pflegeeinrichtungen soll leichter werden. Dazu soll die Zahl der zusätzlichen Betreuungskräfte deutlich aufgestockt werden.

Zusätzliche Mittel

Bislang arbeiten rund 950 000 Menschen in Deutschland bei Pflegediensten oder in Pflegeheimen. Sie werden häufig unterstützt durch zusätzliche Betreuungskräfte, die die Pflegekräfte entlasten, indem sie mit den Pflegebedürftigen spazieren gehen, ihnen vorlesen oder mit ihnen erzählen. Das Pflegestärkungsgesetz stellt nun Mittel von über 500 Millionen Euro für Pflegeheime zur Verfügung, um die Zahl der zusätzlichen Betreuungskräfte von bisher 25 000 auf bis zu 45 000 Betreuungskräfte aufzustocken. Zudem sollen laut Bundesgesundheitsministerium die Pflegekräfte auch von unnötiger Bürokratie befreit werden. So könnten sich die Pflegekräfte wieder stärker auf ihre eigentliche pflegerische Arbeit konzentrieren, so Gröhe. „Mehr Zeit für die Pflege – das ist die zentrale Vorstellung hinter unserer Pflegereform.“

Gestärkt werden auch die sogenannten niedrigschwelligen Angebote. Es werden neue zusätzliche Betreuungs- und Entlastungsleistungen eingeführt, etwa für Hilfe im Haushalt oder Alltagsbegleiter und ehrenamtliche Helfer. Dafür erhalten künftig alle Pflegebedürftigen 104 Euro, Demenzkranke bis zu 208 Euro pro Monat. Niedrigschwellige Betreuungs- und Entlastungsangebote können künftig auch anstelle eines Teils der Pflegesachleistung in Anspruch genommen werden.

Der Zuschuss zu Umbaumaßnahmen, beispielsweise der Einbau eines barrierefreien Badezimmers, steigt von bisher 2 557 auf bis zu 4 000 Euro pro Maßnahme. In einer Pflege-WG kann sogar ein Betrag von bis zu 16 000 Euro eingesetzt werden. Für Pflegehilfsmittel des täglichen Verbrauchs steigen die Zuschüsse von 31 auf 40 Euro pro Monat.

Auch die Vereinbarkeit von Pflege und Beruf soll durch das neue Gesetz erleichtert werden. Wer kurzfristig die Pflege eines Angehörigen organisieren muss, etwa nach einem Schlaganfall, erhält künftig eine Lohnersatzleistung für eine zehntägige bezahlte Auszeit vom Beruf, vergleichbar dem Kinderkrankengeld. Durch den Gesetzentwurf werden dafür bis zu 100 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Die Lohnersatzleistung soll laut Bundesgesundheitsministerium in einem separaten Gesetz geregelt werden, das ebenfalls zum 1. Januar 2015 in Kraft treten soll.

Zukunftsfest aufstellen

Zurzeit sind in Deutschland nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums rund 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig. Es wird erwartet, dass diese Zahl bis 2030 um eine Million Pflegebedürftiger steigt. Mit rund 1,2 Milliarden Euro jährlich soll deshalb aus der Beitragssatzerhöhung ein Pflegevorsorgefonds bei der Bundesbank aufgebaut werden, der ab 2035, wenn die geburtenstarken Jahrgänge (1959 bis 1967) ins Pflegealter kommen, zur Stabilisierung des Beitragssatzes genutzt werden soll.

Das jetzt beschlossene Pflegestärkungsgesetz ist das erste von zwei Gesetzen, durch die die Pflege in Deutschland verbessert werden soll. Gröhe kündigte an, dass ein zweites Pflegestärkungsgesetz noch in dieser Wahlperiode beschlossen werden soll und damit ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff eingeführt wird. Damit würde sich die pflegerische Versorgung vor allem von Demenzpatienten verbessern, die bislang vielfach aufgrund ihrer oft noch vorhandenen körperlichen Rüstigkeit nur Anspruch auf die Pflegestufe 0 haben. Mit dem geplanten 2. Pflegestärkungsgesetz sollen statt der bisherigen 3 Pflegestufen fünf Pflegegrade eingeführt werden. Für die Einstufung sollen nicht mehr der Zeitaufwand der Pflegenden und die körperlichen Fähigkeiten des Betroffenen bei der Bewältigung der täglichen Verrichtungen entscheidend sein. Vielmehr soll der Grad der Selbstständigkeit der Patienten in acht verschiedenen Lebensbereichen bewertet werden. So finden dann auch die kognitiven und die kommunikativen Fähigkeiten, die Mobilität, die Gestaltung der sozialen Kontakte und die Selbstversorgungsfähigkeiten der Betroffenen bei der Beurteilung des Pflegegrades Berücksichtigung. Zur Vorbereitung auf das 2. Pflegestärkungsgesetz laufen zurzeit zwei Modellprojekte. Im ersten wird die Praktikabilität des neuen Begutachtungsverfahrens getestet. Ziel ist es, ein repräsentatives Abbild des Begutachtungsgeschehens zu gewinnen, Fragen zur Gestaltung des Umsetzungsprozesses und zur Akzeptanz bei den Versicherten zu beantworten und aktuelle Erkenntnisse über die Verteilung der Pflegebedürftigen in den neuen Pflegegraden zu erhalten. Im Rahmen einer zweiten Studie soll ermittelt werden, welchen tatsächlichen Versorgungsaufwand die neuen Pflegegrade in stationären Pflegeeinrichtungen auslösen und welche Mehrkosten damit verbunden sein werden.

Ambitionierte Reform

Der Vorstandsvorsitzende des AOK- Bundesverbandes Jürgen Graalmann sieht im Kabinettsbeschluss zur ersten Stufe der Pflegereform einen gelungenen Auftakt: „Pünktlich zum zwanzigjährigen Jubiläum der Pflegeversicherung hat die Große Koalition eine ambitionierte Reform auf den Weg gebracht, von der tausende Pflegebedürftige und ihre Familien profitieren könnten.“ Für den Erfolg des gesamten Reformvorhabens sei aber der zweite Schritt entscheidend. „Wir messen die Regierung daran, ob ihr diesmal die Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs gelingt.“ Adolf Bauer, Präsident des Sozialverbands Deutschland (SoVD), bewertet das Gesetz hingegen vor allem kritisch: „Die Bundesregierung lässt die Gretchenfrage der geplanten Reform offen. Denn ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff soll erst 2017 kommen. Es ist aber ein Fehler, zunächst Leistungsverbesserungen zu schaffen und erst danach zu regeln, wer anspruchsberechtigt ist. Zudem bleiben die geplanten Verbesserungen unzureichend, weil keine automatisierten Leistungsanpassungen vorgesehen sind. Diese sind jedoch dringend geboten, um den Pflegenden zu helfen, die psychisch und finanziell an der Belastungsgrenze stehen.“

Otmar Müller,freier Fachjournalist mit Schwerpunkt Gesundheit/Gesundheitspolitikmail@otmar-mueller.de

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