Kurioser Fall

Problem Blutalkohol nach der Paro-Behandlung

Dieser Beitrag beschreibt einen außergewöhnlichen Fall eines Gerichtsgutachtens. Ein Patient, der in der Praxis mit einer Mundspüllösung behandelt wurde, geriet später am Abend in eine Verkehrskontrolle. Der Vorwurf: Alkohol am Steuer. Daraufhin folgte eine komplizierte Untersuchung.

Die Autoren wurden gebeten, ein gerichtliches Sachverständigenurteil in einem Rechtsstreit abzugeben.

Der Sachverhalt

Anhand der Aktenlage ergab sich folgender Sachverhalt:

Ein Mann wurde morgens gegen 00.45 Uhr als Führer eines PKW bei einer polizeilichen Verkehrskontrolle angehalten. Die Messung der Atem- und Blutalkoholkonzentration ergab einen Wert von 0,31 mg/l im Körper des Fahrzeugführers. Laut Angaben des Fahrers wurde am Vortag eine zahnärztliche Behandlung durchgeführt.

Die Staatsanwaltschaft erließ im weiteren Verlauf einen Bußgeldbescheid in Höhe von 550 Euro und ein Fahrverbot gegenüber dem Fahrzeugführer. Der Rechtsanwalt des Fahrers legte schriftlich Einspruch gegen den Bußgeldbescheid und das Fahrverbot seines Mandanten ein, mit der Begründung, dass sein Mandant lediglich ein Bier (0,5 Liter) getrunken habe, das bei einem Körpergewicht von unter 75 kg nicht zu einer Blutalkoholkonzentration von 0,31 mg/l im Körper seines Mandanten hätte führen können. Die Blutalkoholkonzentration von 0,31 mg/l wurde mit dem Sachverhalt erklärt, dass am Vortag eine etwa zweistündige zahnärztliche Behandlung stattgefunden habe, bei der eine desinfizierende alkoholhaltige Mundspüllösung und Ethanol 70 Prozent verwendet worden seien. Weiterhin sei die zahnärztliche Operation mit „erheblicher Lokalanästhesie“ durchgeführt worden.

Nach telefonischer Rücksprache mit dem behandelnden Zahnarzt konnte eruiert werden, dass am Vortag – etwa neun bis zwölf Stunden vor der Blutalkoholmessung – eine zahnärztliche Behandlung in Lokalanästhesie durchgeführt wurde.

Diese umfasste eine Kariesbehandlung der Oberkiefermolaren mit Aufbaufüllungen, die Präparation der Oberkiefermolaren für eine Versorgung mit Teilkronen, die Präparation der Prämolaren im Oberkiefer auf beiden Seiten für Keramik-Inlays, die Anfertigung von Provisorien und deren Eingliederung, die Abformung des Ober- und des Unterkiefers sowie eine Bissnahme mit Registratanfertigung. Die Behandlung erfolgte unter Lokalanästhesie im Oberkiefer beidseitig. Als Lokalanästhetikum wurde der Wirkstoff Articain mit Adrenalinzusatz im Verhältnis 1:200 000 mit einer Gesamtmenge von etwa 8 ml verwendet.

Die Behandlung begann nach Angaben des behandelnden Zahnarztes gegen 12.30 Uhr und war gegen circa 16 Uhr abgeschlossen.

Vor der Behandlung erfolgte routinemäßig eine Spülung des Mundraums mit Chlorhexamed®forte 0,2 Prozent zur Reduktion der intraoralen Keimflora und im Anschluss an die Präparation der Zähne wurden diese mit 70 Prozent Ethanol desinfiziert. Eine Auffälligkeit hinsichtlich eines Verschluckens oder sogar einer Aspiration der bei der Behandlung verwendeten alkoholhaltigen Agenzien wurde vom behandelnden Zahnarzt nicht beobachtet.

Das Gutachten

Auf Erlass der zuständigen Richterin sollte ein Sachverständigengutachten zur Klärung der Frage, ob die während der zahnärztlichen Behandlung verwendeten alkoholhaltigen Agenzien Chlorhexidin 0,2 Prozent und Ethanol 70 Prozent die Blutalkoholkonzentration des Patienten beeinflussen konnten, eingeholt werden.

Messungen:

Um die Frage zu klären, ob die während der zahnärztlichen Behandlung verwendeten alkoholhaltigen Agenzien Chlorhexidin 0,2 Prozent und Ethanol 70 Prozent die Blutalkoholkonzentration eines Patienten beeinflussen können, wurde folgender Versuchsaufbau verwendet:

Im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung des Patienten wurde nach der Präparation der Zähne eine standardmäßige Desinfektion der Zähne mit 70 Prozent Ethanol durchgeführt. Hierzu wurde ein Wattekügelchen in 70 Prozent Ethanol getunkt und der Zahn anschließend von Präparationsrückständen gereinigt.

Um zu bestimmen, wie viel Alkohol durch ein Wattekügelchen aufgenommen werden kann, wurde folgender Versuchsaufbau bei Raumtemperatur in einem medizinischen Labor gewählt: Elektrowaage der Firma Sartorius, Wattekügelchen roeko der Firma Coltene (Abbildung), Ethanol 70 Prozent, Stoppuhr.

Zunächst wurde das reine Gewicht eines einzelnen Wattekügelchens bestimmt. Das reine Gewicht eines Wattekügelchens beträgt 0,017 g. Anschließend wurde das Wattekügelchen in 70 Prozent Ethanol getunkt und das Gewicht sofort bestimmt (Zeit 0), sowie im Anschluss minütlich im Zeitverlauf.

Rechnerisch konnte anhand dieser Messdaten das Nettoalkoholgewicht eines Wattekügelchens in Gramm [Bruttoalkoholgewicht – Leergewicht] und der sich daraus ergebende Alkoholgehalt mittels Dreisatz [x = c . b / a] ermittelt werden (Tabelle), wobei a das Nettoalkoholgewicht eines Wattekügelchens von 0,143 g, b das jeweilige Nettoalkoholgewicht eines Wattekügelchens, dessen Ethanolgehalt bestimmt werden soll, und c den Ethanolgehalt von 70 Prozent darstellt.

Diskussion

Mundspüllösungen sind frei verkäuflich und werden zur Ergänzung der täglichen Mundhygiene sowie zur Reduzierung der intraoralen Keimflora im Rahmen zahnärzt-licher Behandlungen eingesetzt. Sie ergänzen die mechanische Mundpflege, beugen Plaque und Gingivitis vor und wirken antibakteriell. Mundspüllösungen sind über-wiegend alkoholhaltig (Ethanol) [Axelsson P, 1993; Cummins D, Creeth JE, 1992; jnjgermany.de].

Nach Angaben eines Herstellers von Mund

spüllösungen (Johnson Johnson, Listerine)

wird Alkohol in Mundspüllösungen als Lösungsvermittler und Stabilisator für aktive Inhaltsstoffe, wie zum Beispiel ätherische Öle eingesetzt. Ohne Ethanol wäre keine Verbindung der ätherischen Öle mit Wasser möglich; dies würde die Leistungsfähigkeit von Mundspüllösungen einschränken [Cummins D, Creeth JE, 1992].

Ferner werden vom Hersteller folgende Aussagen zur Resorption des in Mundspül-lösungen vorhandenen Ethanols über die Mundschleimhaut gemacht: „Listerine®- Mundspülungen enthalten keine toxischen oder bedenklichen Inhaltstoffe. Bei der Mundspülverwendung von 30 Sekunden wird der in Listerine® enthaltene Alkohol nicht über die Mundschleimhaut aufgenommen. Daher kann Listerine® auch während der Schwangerschaft und Stillzeit zur Unterstützung der täglichen Mundhygiene eingesetzt werden“ [http://jnjgermany.de].

Literaturübersicht

Am forensischen Institut der Universität von Kalifornien untersuchte C. C. Fessler mit Kollegen im März 2008 den Einfluss von alkoholhaltigen Substanzen auf die Atemalkoholkonzentration. Verwendet wurde das System Dräger Evidential Portable Alcohol System (EPAS), verwendet wurden alkoholhaltige Hustensäfte, Mundspüllösungen und Atemsprays. Bereits 15 Minuten nach der Aufnahme von alkoholhaltigen Substanzen konnte kein verbliebener Alkoholgehalt nachgewiesen werden, der das Ergebnis der Messung der Blut- und Atemalkoholkonzentration beeinflussen kann [Fessler CC, Tulleners FA, Howitt DG, Richards JR, 2008].

Eine weitere Studie aus dem Jahr 1993 konnte zeigen, dass desinfizierende Mundspüllösungen keinen realistischen Einfluss auf die Genauigkeit von Blut- und Atemalkoholtests haben. Die einzige Einschränkung, die von den Autoren gesehen wird, ist, dass die Spülung des Mundraums mit alkoholhaltigen Mundspüllösungen unmittelbar vor Abnahme des Atemalkoholtests den gemessenen Wert beeinflussen können [Axelsson P, 1993].

Situation bei diesem Fall

Diese unmittelbare Einnahme von desinfizierenden Mundspüllösungen ist bei der Person im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits anhand des „Protokollblattes zur Atemalkoholmessung“ nicht zu sehen. Der Einspruch des Rechtsanwalts bezieht sich auch nur auf die Verwendung von alkoholischen Mundspüllösungen vor und zum Abschluss der zahnärztlichen Behandlung. Diese war um spätestens 16 Uhr beendet.

Die Aufnahme von Ethanol in den menschlichen Organismus beginnt unmittelbar mit dessen Kontakt mit der Mundschleimhaut. Hier werden etwa zwei Prozent der Ethanolmenge aufgenommen. Dies ist unabhängig von der Applikationsart (Trinken, Desinfektion der Mundhöhle mit alkoholischen Desinfektionsmitteln und mehr).

Die nächste Aufnahme von Ethanol erfolgt über die Magenschleimhaut. Hier werden maximal 20 Prozent des applizierten Ethanols resorbiert. Die Resorptionsphase ist spätestens rund zwei Stunden nach Kontakt mit den Schleimhäuten des Verdauungstrakts abgeschlossen. Bei geringeren Ethanolmengen kann von etwa 30 bis 90 Minuten ausgegangen werden [www.bads.de].

Dies bedeutet, dass über ein in 70 Prozent Ethanol getränktes Wattekügelchen während einer zahnärztlichen Behandlung maximal 0,03146 g (= 22 Prozent von 0,143 g) in den Körper aufgenommen werden können.

Die Berechnung des Promillegehalts im Körper wird anhand der folgenden Formel berechnet: Blutalkohol in Promille = Alkohol in g / Körperwasser in kg.

Der Körperwasseranteil beträgt bei einem männlichen Individuum zwischen 60 bis 70 Prozent des Gesamtkörpergewichts [www.bads.de]. Zur Berechnung des Promillewertes wird in unserem Fall der Mittelwert von 65 Prozent zugrunde gelegt. Somit beträgt der Körperwasseranteil eines rund 70 kg schweren Mannes etwa 45,5 Kilogramm. Insgesamt ergibt sich somit durch die Verwendung eines in 70 Prozent Ethanol getunkten Wattekügelchens ein Blutalkoholgehalt in Promille von 0,0006914.

Untersuchungsergebnis

Es kann davon ausgegangen werden, dass die Verwendung von alkoholhaltigen Agenzien während einer zahnärztlichen Behandlung die Blut- und Atemalkoholmessung etwa acht Stunden später nicht beeinflussen kann. Die Behandlung des Patienten war nach Angaben des behandelnden Zahnarztes gegen rund 16 Uhr abgeschlossen. Die Messung der Blutalkoholkonzentration erfolgte jedoch erst am Folgetag gegen 00.45 Uhr.

Zweitens reichen Zahnfleischtaschen oder Zahnkavitäten von ihrem Volumen her nicht aus, eine solche Menge des Desinfektionsmittels aufzunehmen und zu speichern, dass es zu einer Beeinflussung der Blut- und Atemalkoholkonzentration noch nach mehreren Stunden kommen kann.

Drittens wurde von dem Patienten keine alkoholhaltige Mundspüllösung unmittelbar vor der Messung der Atemalkoholkonzentration verwendet.

Viertens kann auch die Verwendung eines Wattekügelchens, das in 70 Prozent Ethanol getunkt wurde und zur Desinfektion der präparierten Zahnstümpfe angewendet wurde, die Alkoholmessung aufgrund des minimalen Promillewerts nicht beeinflussen.

Fazit für die Praxis

Die sachgemäße Anwendung von alkoholhaltigen Agenzien im Rahmen zahnärztlicher Behandlungen – speziell Chlorhexidin 0,2 Prozent und Ethanol 70 Prozent – beeinflusst die Blut- und Atemalkoholkonzentration eines Patienten nicht.

Nach Einreichung des Gutachtens beim zuständigen Amtsgericht und Einsicht des vertretenden Rechtsanwalts wurde der Einspruch offiziell zurückgenommen und es erfolgte kein offizielles Urteil des Gerichts.

Zusammenfassung

Die aufgeführte Kasuistik ist Teil eines gerichtlichen Sachverständigenurteils. Beurteilt werden sollte der Einfluss von zahnärztlichen alkoholhaltigen Agenzien – hier Chlorhexidin 0,2 Prozent und Ethanol 70 Prozent – auf den Blutalkoholspiegel eines Patienten. Chlorhexidin wurde zur Desinfektion des Mundraums vor zahnärztlicher Therapie angewendet. Ethanol 70 Prozent wurde zur Desinfektion der Zahnstümpfe nach zahnärztlicher Präparation auf ein Wattekügelchen aufgebracht und lokal appliziert. Beide Agenzien wurden nicht verschluckt.

Es konnte exemplarisch gezeigt werden, dass die gebrauchskonforme Anwendung von Chlorhexidin 0,2 Prozent Mundspüllösung und Ethanol 70 Prozent während einer zahnärztlichen Behandlung keinen Einfluss auf den Blutalkoholspiegel eines Patienten hat. Diese Erkenntnis kann im Rahmen juristischer Fragestellung als allgemein gültig verwendet werden.

Die Revision des Angeklagten wurde vom Oberlandesgericht nicht zugelassen.

Dr. Dr. Frank-Hendric KretschmerUniv.-Prof. Dr. Dr. Andreas NeffDr. Paul HeymannKlinik für Mund-, Kiefer- und GesichtschirurgieUniversitätsklinikum MarburgBaldingerstraße35043 Marburg

Dr. Jobst Walter EggerathMDS, Spezialist für ParodontologiePraxis für ZahngesundheitFranz-Busbach-Str. 850374 Erftstadt

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