Pilotprojekt aus Hamburg

Lebendiges Schweigen

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Im Hamburger Stadtteil Rotherbaum bietet eine Zahnarztpraxis ein Versorgungskonzept an, das beispielhaft zur Inklusion von gehörlosen Menschen beiträgt. Das gesamte Praxisteam beherrscht die Gebärdensprache. Behandlungen erfolgen meist nonverbal. Die Idee sucht noch 999 Nachahmer.

Hamburg ist eine Stadt der Gegensätze. Hier ist sie laut und wild, dort lebt es sich ruhig und beschaulich. Eine moderne Metropole mit einer guten Infrastruktur, einem breiten Spektrum an Kulturangeboten, Naherholungsgebieten und einer starken Gesundheitsversorgung. Letzteres gilt aber nicht für den Hamburger Bürger mit einer stark eingeschränkten Hörfähigkeit. Erleidet er im schlimmsten Fall einen medizinischen Notfall, nützt ihm die 110 genauso wenig wie die 112. Niemand würde ihn verstehen.

Aber auch schon der regelmäßige Arztbesuch gestaltet sich für diese Gruppe besonders schwierig. Ein Problem, das allerdings nicht hamburgspezifisch ist, sondern vielmehr repräsentativ für den Status quo in vielen anderen Städten bundesweit.

Aufbau von Spezialpraxen

In Deaf Med e. V. versucht hier gegenzusteuern. Der Verein sitzt in der Böttgerstraße in Hamburg-Rotherbaum. Morten Lange ist Vorstand und Projektleiter und gehört damit zum Kernteam des Vereins, der ein Ziel verfolgt: Es geht um den Aufbau von Arztpraxen, in denen hörende und gehörlose Patienten ihren Bedürfnissen entsprechend behandelt werden. Zudem sollen hörende und gehörlose Mitarbeiter im Team zusammenarbeiten können. So erhoffen sich die Initiatoren, dass der viel gebrauchte, etwas abstrakte Begriff der „Inklusion“ Praxis für Praxis mit Leben gefüllt wird. Der Weg führt von der Separation über die Integration zur Inklusion, so die Idee.

Momentan verlängert sich nach Aussage des Vereins die Behandlungsdauer bei einem gehörlosen Patienten um 20 Prozent. Zudem ist ein gehörloser Patient aufgrund seines schlechteren Mundgesundheitszustands unter Umständen mehrere Male im Quartal in der Praxis. Herkömmliche Praxen federn den Aufwand über eine Mischkalkulation ab. Bei spezialisierten Praxen geht die Rechnung aber kaum auf, so die Kritik von Lange. Lösungsansätze sehen er und die Vereinsmitglieder darin, Dolmetscherkosten umzuwidmen, eigene Tarife für spezialisierte Praxen zu entwickeln, einen entsprechenden Patientenmix aufzubauen und Zuschüsse für gehörlose Mitarbeiter einzutreiben, etwa von Arbeitsämtern. Folgt man der Argumentation des Vereins, dann führt der Ansatz bei steigendem Nutzen (bessere Inklusion von gehörlosen Menschen sowie deren verbesserter Gesundheitszustand) gleichzeitig zu sinkenden Kosten für das Gesundheitssystem. Dies geschehe dann durch die Vermeidung von Krankheiten, durch die Reduzierung der Ausbreitung von Folgeerkrankungen sowie über erhöhte Heilungschancen.

Die Pilotpraxis

Wie das konkret aussehen kann, zeigt die Pilotpraxis des Vereins, sozusagen das Experimentierlabor. Diese liegt nur einige Etagen tiefer im gleichen Haus in Rotherbaum und wurde unter anderem vom Bund der Arbeitgeber als beispielhaftes Unternehmen ausgezeichnet. Kommt man in den schönen Albaukorridor mit den knarrenden Dielen, fällt gleich ein Tablet-PC auf dem Tresenrücken auf. Seine Funktion: Kommt ein hörender Patient in die Praxis, kann er über ein Chatsystem mit der gehörlosen Zahnarzthelferin kommunizieren.

Gebärdensprache statt Wartezimmer-TV

Im Wartezimmer hängt eine LED-Anzeige. Damit werden die gehörlosen Patienten „aufgerufen“. Hier steht auch ein Fernseher. Es läuft „Gebärdensprache für hörende Patienten“ anstelle von Wartezimmer-TV.

Die gesamte Belegschaft, das sind sieben Angestellte, sprechen die Gebärdensprache. Drei von ihnen sind gehörlos sowie gut die Hälfte der Patienten. Es kommen aber auch gezielt spanisch sprechende Patienten in die Praxis. Denn die beiden Zahnärztinnen sind spanische Muttersprachlerinnen. Das Telefon klingelt grundsätzlich seltener als in anderen Praxen, denn Termine werden per E-Mail, SMS oder Fax vergeben. Zahnärztin Marianela von Schuler Alarcón hat sich vor acht Jahren erstmals für das inklusive Konzept interessiert. Damals ist sie nach Deutschland gekommen und hat sich fremd gefühlt. Deshalb könne sie auch nachempfinden, wie sich Gehörlose in einer Welt von Hörenden fühlen müssen. Ihre Empathie war groß genug, um die Praxis als Spezialpraxis zu gründen. Sie habe bemerkt, dass die Bedürfnisse und die Resonanz der gehörlosen Menschen noch größer sind als gedacht. Es gehe nicht nur darum, ein bisschen zu helfen, sondern darum, es richtig und professionell zu machen. Von Schuler Alarcón möchte Beispielpraxis sein. Zudem spüre sie jeden Tag, wie dankbar die hörgeschädigten Patienten sind. Die Zahnärztin gehört zum Kernteam von In Deaf Med e.V.

Spezialisierung als Wettbewerbsvorteil

Der Praxisinhaber, der das Konzept auf seine Praxis überträgt, profitiert aus Sicht des Vereins zweifach. Zum einen kann eine solche Spezialpraxis ein Alleinstellungsmerkmal entwickeln, das ihm einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Er erreicht so ein neues Patientensegment. Das Praxissiegel könne auch für hörende Patienten interessant sein. Zudem sei es über diesen Weg möglich, eine angenehme Praxis-Atmosphäre aufzubauen.

Denn diese Art der Spezialisierung könne auch eine „Ablenkung“ von der Behandlung für die hörenden Patienten sein, so die Vorstellung.

Außerdem stellt der Verein die Qualität von gehörlosen Mitarbeitern besonders heraus. Sie seien besonders loyal und motiviert, an allererster Stelle aber außergewöhnlich konzentriert. Durch die Kompensation des fehlenden Hörorgans könnten sie mit den Augen „hören“ und dem Zahnarzt so wertvolle Hinweise geben. Zudem würden sie wenig Fehler machen. Das bestätigt auch die Zahnärztin der Pilotpraxis aus eigener Erfahrung. Aus Sicht von von Schuler Alarcón arbeiten Gehörlose besonders fokussiert und konzentriert und lassen sich weniger stark ablenken als Hörende. Sie könnten vollständig in den Praxisbetrieb inkludiert werden – einmal abgesehen vom Telefondienst und den Gesprächen am Empfang. Wichtig sei, dass man sich gut über die Kultur und die Sprache der Gehörlosen informiere. Damit die Mitarbeiter sich maximal einbezogen fühlen, sollte man einen Grundwortschatz an Gebärden und Fachgebärden erlernen, empfiehlt sie. Durch das Erlernen der Gebärdensprache habe sich für sie viel geändert. So wurde über die Arbeit ihre Sehfähigkeit geschult. Und sie sei nun stärker sensibilisiert, mittels Körpersprache und Mimik einfühlsam mit dem Patienten zu kommunizieren. Das habe zur Folge, dass sie die Leiden und Sorgen der hörgeschädigten, aber auch der hörenden Patienten schneller verstehen und sich ihren Bedürfnissen schneller anpassen könne.

Eine bereichernde Erfahrung

Somit könne die Umstellung auf das Konzept für den Praxisinhaber also auch mit einer ganz persönlichen Bereicherung einhergehen. Als Stichworte nennt der Verein hier den „Medizinischen Anspruch“ und die „Attraktivität für den Arzt“. Dieser übernimmt mit der besseren zahnmedizinischen Versorgung für gehörlose Menschen auch eine wichtige gesellschaftliche Verantwortung und erfüllt damit ein Kriterium der Freiberuflichkeit. Zudem erhält er über die sinnstiftende Arbeit öffentliche Anerkennung und gegebenenfalls sogar Auszeichnungen.

Der Verein steht in Kontakt mit anderen Praxen, Krankenkassen und Verbänden. In Deaf Med e. V. sucht idealerweise 999 weitere Praxen, die sich für diesen Weg der Inklusion begeistern können und bietet auch die nötige Begleitung an.

Kontaktadresse:

In Deaf Med e. V.Böttgerstr. 1220148 Hamburgwww.indeafmed.com

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