Frühkindliche Karies

Das Konzept zur Prävention

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Besonders bei der Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen nimmt Deutschland im internationalen Vergleich einen Spitzenplatz ein. Jedoch zeichnet sich ein Versorgungsproblem ab: Bei Kleinkindern bis zum dritten Lebensjahr tritt verstärkt Milchzahnkaries auf. Zur Prävention dieser frühkindlichen Karies, auch der Early Childhood Caries (ECC) oder Nuckelflaschenkaries genannt, haben BZÄK und KZBV zusammen mit Kinderzahnärzten und Hebammen jetzt ein neues Konzept vorgelegt. Hier die Kernpunkte:

Frühkindliche Karies (Early Childhood Caries ECC) wird in dem neuen Versorgungskonzept definiert als ein kariöser Defekt an einer Milchzahnfläche, der innerhalb der ersten drei Lebensjahre im Mund des kleinen Kindes auftritt. Ursache ist meist der Missbrauch der Baby-Saugerflasche, deswegen ist in der Fachliteratur auch die Rede von „Nursing Bottle Syndrom“, „Bottle Tooth Decay“ oder „Nursing Caries“. Die Klassifikation der ECC erfolgt nach drei Schweregraden:

• ECC Typ I: Eine milde bis moderate Form. Sie tritt isoliert an Milchmolaren und/oder Schneidezähnen auf (häufig zwischen dem zweiten und fünften Lebensjahr).

• ECC Typ II: Die moderate bis schwere Form. Kariesläsionen treten an den Schneidezähnen des Oberkiefers bei kariesfreien Schneidezähnen des Unterkiefers auf. Altersabhängig können auch Milchmolaren betroffen sein, erste Läsionen zeigen sich oft schon kurz nach Durchbruch der Milchzähne.

• ECC Typ III: Die schwere Form. Alle Milchzähne sind betroffen, auch die unteren Schneidezähne. Diese Form tritt in der Regel zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr auf.

Wie das Konzept herausarbeitet, hat die frühkindliche Karies in den letzten Jahren zugenommen (siehe Grafik). Aktuelle oral-epidemiologische Studien aus Deutschland zeigen demnach eine durchschnittliche Prävalenz von zehn bis 15 Prozent. Festzustellen ist laut der im Konzept aufgearbeiteten Fachliteratur zudem eine Polarisierung des Erkrankungsrisikos in Bevölkerungsschichten mit niedrigem sozialem Status: Zwei Prozent der Kinder vereinen 52 Prozent des Kariesbefalls auf sich. Die betroffenen Kinder bekamen länger die Nuckelflasche, die Eltern waren oft jünger als 20 Jahre und hatten einen signifikant niedrigeren Sozialstatus. Aber auch Kinder der sogenannten Mittelschicht sind betroffen, und zwar aufgrund fehlender Informationen der Eltern über die Krankheitsursachen.

Defizite in der Betreuung

Die Durchführung flächendeckender gruppenprophylaktischer Maßnahmen zur Verhütung von Zahnerkrankungen ist in §21 SGB V geregelt. Mit der Durchführung betraut sind die im Gesetz bestimmten Akteure: unter anderem der GKV-Spitzenverband, die BZÄK und KZBV, die Zahnärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes und die kommunalen Spitzenverbände. Sie sind in der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) zusammengeschlossen und entwickeln inhaltliche Empfehlungen, die für die Umsetzung der Prophylaxemaßnahmen maßgeblich sind.

Schaut man sich die derzeitige zahnärztliche Betreuungssituation der unter Dreijährigen an, so ergeben sich Defizite. Neuere Studien haben dem ECC-Konzept zufolge ergeben, dass über die Jahre eine Stagnation des Betreuungsgrads in Kindergärten, Kindertagesstätten und Grundschulen festzustellen ist. Zwar stellt in Sachen Zahnmedizin die Gruppenprophylaxe das deutschlandweit reichweitenstärkste Angebot der Prävention dar. Dennoch werden gerade die unter Dreijährigen gruppenprophylaktisch derzeit nur ungenügend erreicht, da noch nicht einmal 25 Prozent dieser Kinder eine betreute Einrichtung besuchen. Bisher konzentrierten sich die Aktivitäten der Landesarbeitsgemeinschaften zur Förderung der Jugendzahnpflege im Wesentlichen auf die Altersgruppe von drei bis zwölf Jahren – bedingt dadurch, dass diese Kinder in Kindergärten und Schulen erreicht werden können. Im Rahmen des gesetzlichen Ausbaus der Betreuung von Kleinkindern in Tageseinrichtungen oder der Kindertagespflege ist aus zahnmedizinischer Sicht wünschenswert, dass nun auch die zahnmedizinische Gruppenprophylaxe auf diese Einrichtungen ausgedehnt wird. Deshalb hatte die DAJ 2012 entsprechende Empfehlungen mit Handlungsanleitungen zur Förderung der Mundgesundheit in diesen Einrichtungen herausgegeben.

G-BA setzt Richtlinien

In den Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) über die Früherkennungsuntersuchungen von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten (gemäß § 26 Abs. 1 Satz 2 SGB V) sind zahnmedizinische Präventionsansätze verankert. Die Untersuchungen beginnen mit dem 30. Lebensmonat und werden in Abständen von zwölf Monaten im Rahmen der individuellen Betreuung in den Zahnarztpraxen durchgeführt.

Für die Altersstufe vom sechsten bis zum 30. Lebensmonat liegen zahnmedizinische Präventionsansätze bisher in der alleinigen Verantwortung der Kinderärzte, und zwar im Rahmen der Früherkennungsuntersuchungen U1 bis U7. Zwar ist in den Richtlinien vorgesehen, dass bei den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen Hinweise zur Zahngesundheit und Zahnpflege erfolgen sollten, jedoch haben Untersuchungen ergeben, dass die Aufklärung im Praxisalltag nur unzureichend erfolgt. Zwischen Anspruch und Versorgungsalltag besteht also eine deutliche Diskrepanz, wie das ECC-Konzept unterstreicht.

Hingegen hat eine neuere Studie des Instituts der Deutschen Zahnärzte (IDZ) von 2013 ergeben, dass Zahnärzte präventive Betreuungsansätze umsetzen, die sich an Kinder vor dem 30. Monat und deren Eltern richten. So dokumentieren 85,5 Prozent aller Zahnärzte in Deutschland, ob eine Initialkaries vorhanden ist. Ernährungsgewohnheiten werden von 85,1 Prozent der Zahnärzte abgefragt.

Dennoch stellt frühkindliche Karies weiterhin ein großes Versorgungsproblem dar. Aus Abrechnungsdaten verschiedener KZVen (siehe Tabelle) hat sich ergeben, dass kleinere Kinder unter 2,5 Jahren noch relativ selten zum Zahnarzt gehen, bis zum sechsten Lebensjahr steigt die Zahl an. Schon bei Kindern unter 2,5 Jahren sind in nennenswertem Umfang Füllungstherapien erforderlich. Hinzu kommt, dass in dieser Altersgruppe eine starke Polarisierung der Karies erkennbar ist.

Kinderpässe

In den Länderkammern sind auf freiwilliger Basis und eigener Initiative zahnärztliche Kinderpässe entwickelt worden. 2012 hatte die BZÄK einheitliche Rahmenempfehlungen dazu veröffentlicht. Die Pässe gelten als wichtige Maßnahme des Berufsstandes, um die bisher fehlende Einbindung des Zahnarztes in dieser Lebensphase der kleinen Patienten aufzufangen. Dazu wurden Kooperationen mit ärztlichen Berufsverbänden, Geburtseinrichtungen oder KZVen umgesetzt, bei denen zahnärztliche Kinderpässe in das ärztliche Kinder- Untersuchungsheft eingelegt, beziehungsweise den Eltern mit dem Mutterpass zur Verfügung gestellt wurden.

Defizite auf einen Blick

Das Konzept fasst folgende Defizite bei der Versorgung zusammen:

• In Deutschland gibt es noch zu viel Milchzahnkaries, die teilweise extrem früh auftritt.

• Gruppenprophylaktische Ansätze für Null- bis Dreijährige in Kindertagesstätten sind derzeit noch im Aufbau.

• Die frühzeitige Vorstellung der Kleinkinder zur Vorsorgeuntersuchung beim Zahnarzt erfolgt nur unzureichend.

• Die präventiven Ansätze für die Altersgruppe, die derzeit ausschließlich beim Kinderarzt liegen, müssen um zahnärztliche Maßnahmen ergänzt werden.

• Vorsorgeprogramme für die Altersgruppe sind in der Zahnmedizin nicht entwickelt.

• Informationen über mundgesundes Ernährungsverhalten und über Mundhygienemaßnahmen beim Kleinkind sind in der Bevölkerung nicht ausreichend verankert.

• Fluoridierungsempfehlungen werden zwischen Kinderärzten und der Zahnärzteschaft nicht konsentiert zur Verfügung gestellt.

• Schwere Karieserkrankungen bei Kleinkindern müssen oft in Vollnarkose durch- geführt werden, und zwar in spezialisierten Praxen oder Klinken.

Handlungsempfehlungen

Ziel des zahnärztlichen ECC-Konzeptes ist es, möglichst alle Kinder mit einer frühkindlichen zahnärztlichen Untersuchung zu erreichen. Das Konzept schlägt deshalb eine Erweiterung des bisherigen Leistungskataloges vor. In das Kinder-Untersuchungsheft des G-BA soll ein verbindlicher Hinweis auf zahnärztliche Früherkennungsuntersuchungen (FU) aufgenommen werden. Insgesamt drei FU sollten eingeführt und mit den kinderärztlichen Untersuchungen (U) vernetzt werden. Es ergibt sich folgendes Modell:

• FU 1: 6. bis 9. Lebensmonat (Durchbruch des ersten Zahns). Im Rahmen der U 5-Untersuchung beim Kinderarzt (6. bis 7. Lebensmonat) erfolgt ein Verweis auf die FU 1 beim Zahnarzt. Die FU 1 wird bei der U 5 dokumentiert.

• FU 2: 10. bis 20. Lebensmonat. Bei der U 6-Untersuchung kontrolliert der Kinderarzt, ob die FU 1 erfolgt ist und weist auf die FU 2 hin. Der Verweis wird vom Kinderarzt bei der U 6 dokumentiert. Die FU 2 wird vom Zahnarzt im Kinder-Untersuchungsheft dokumentiert.

• FU 3: ab dem 21. Lebensmonat. Bei der U 7 wird der Zahnarztbesuch zur FU 3 verbindlich empfohlen und dokumentiert. Parallel zur U 7 (ab dem 21. Lebensmonat) ist die FU 3 vorgesehen, die vom Zahnarzt im ärztlichen Kinder-Untersuchungsheft dokumentiert wird.

Bündel an Maßnahmen

Wichtig ist bei dem Konzept, dass das Kleinkind mit dem Durchbruch des ersten Zahns dem Zahnarzt vorgestellt wird. Dabei sind gesundheitserzieherische, gesundheitsfördernde, präventive und – falls notwendig – in geringem Umfang auch kurative Maßnahmen vorgesehen. Dazu gehören:

• Ein Mundgesundheitscheck, insbeson- dere unter Beachtung der Entstehung von frühkindlicher Karies, eine Aufklärung über Hygienemaßnahmen und die Einübung der Zahnputztechnik durch die Eltern.

• Eine Ernährungsberatung der Eltern

• Eine Fluoridanamnese, allgemeine Fluoridempfehlungen und gegebenenfalls eine lokale Fluoridierung

• Bei Bedarf eine Sanierung und Therapie der Initialkaries

Das Konzept gibt darüber hinaus weitere Handlungsempfehlungen ab. So sollen die DAJ-Empfehlungen zur Vermeidung frühkindlicher Karies auch in Tageseinrichtungen oder in der Kindertagespflege umgesetzt werden. Mit den beteiligten Berufsgruppen der Gynäkologen, Hebammen, und Kinderärzten sollen Netzwerke entwickelt werden. Aktivitäten zur Betreuung von Hochrisikogruppen sollen ausgeweitet, die zahnärztlichen Kinderpässe weiterentwickelt und in der Kollegenschaft weiter bekannt gemacht werden. Die Zahnmedizin sollte in sämt- lichen politischen Maßnahmen im Sinne eines interdisziplinären Ansatzes auch beim Thema Ernährung und der gesunden Entwicklung in der Familie integriert werden.

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