Behindertenzahnheilkunde

Ein Sonnenschein, der nicht spricht

Die Behinderung eines Familienangehörigen betrifft die gesamte Familie. Zum Alltag gehören Therapiestunden, Arztbesuche und Klinikaufenthalte. Jutta Pagel-Steidl vom Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg beschreibt die Lebenswelt der behinderten Patientin Marie.

 „Marie kann lachen, weinen, hören. Sie schreit, wenn ihr etwas nicht gefällt. Sie spricht nicht, kann weder alleine essen noch ihren Körper ruhig halten“, berichtet ihre Mutter „Sie spürt, wenn es uns nicht gut geht. Wenn es ihr gut geht, strahlt sie eine innere Ruhe und Fröhlichkeit aus, die sich auf uns über trägt. Sie ist unser Sonnenschein.“ Marie ist 19 Jahre alt und besucht noch die Schule für Körperbehinderte. Morgens wird sie mit dem Sonderfahrdienst zu Hause abgeholt und am späten Nachmittag kommt sie wieder nach Hause. Maries Mutter ist stundenweise berufstätig. Später wird Marie eine Förder- und Betreuungsgruppe in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) besuchen. Das bedeutet, dass Marie nie eigenes Geld verdienen und immer auf Sozialhilfe angewiesen sein wird. Da sie nicht „wenigstens ein Mindestmaß wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen“ kann – so steht es im Gesetz – wird sie auch keinen WfbM-Lohn verdienen, nicht rentenversichert und als erwachsene Frau in der gesetzlichen Krankenversicherung familienversichert sein. Wer Sozialhilfe erhält, darf nicht mehr als 2 600 Euro Vermögen haben. Dieser Gedanke an später macht der Familie manchmal Angst. Wer kümmert sich um Marie, wenn die Eltern nicht mehr können? Der regelmäßige Vorsorgetermin beim Zahnarzt wird vielfach verschoben, denn die Arzt- und Therapietermine aufgrund der Behinderung kosten schon viel Zeit und Kraft. Das „richtige“ Zähneputzen ist aufwendig und muss geübt werden. Maries Mutter legt großen Wert auf die Mund- und Zahngesundheit ihrer Tochter, denn „der erste Blick ins Gesicht fällt auf die Zähne“. Angst vor dem Zahnarzt kennen Mutter und Tochter nicht. „Der Zahnarztbesuch muss Marie gefallen, dann ist alles gut.“ Ganz wichtig sind die barrierefreie Erreichbarkeit und die Zugänglichkeit der Praxis. Ebenso wichtig ist, dass sowohl der Zahnarzt als auch sein Team das Gefühl vermitteln, als Patientin willkommen zu sein. Menschen mit Behinderungen sind Experten auf dem Gebiet der basalen Kommunikation undspüren genau, ob sie willkommen sind oder nicht.

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Ein gutes Vertrauensverhältnis ist unerlässlich

Der Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung Baden-Württemberg e. V. spricht sich für die direkte Kommunikation mit den Patienten aus: „Reden Sie direkt mit dem Menschen mit Behinderung – und nicht über ihn hinweg. Bemühen Sie sich um gleiche Augenhöhe, gehen Sie im Gespräch mit einem Rollstuhlfahrer ruhig auch mal in die Hocke. Sprechen Sie langsam und deutlich und schauen Sie Ihr Gegenüber direkt an.“ Ein gutes Vertrauensverhältnis zwischen Patient und Zahnarzt ist für eine erfolgreiche Behandlung unerlässlich. Dazu beitragen kann eine stressfreie Umgebung in der Praxis – äußere Unruhe oder Termindruck übertragen sich auf Menschen mit Behinderungen, die darauf mit innerer Unruhe reagieren oder verkrampfen. Unterschätzen darf man nicht den Faktor Zeit, denn „geschwind geht gar nichts“. Für Patienten im Rollstuhl ist auch die bequeme Lagerung auf dem Behandlungsstuhl oder im Rollstuhl wichtig. Lagerungskissen geben stabilen Halt und Sicherheit. Wichtig ist außerdem, dass der Zahnarzt dem Patienten Schritt für Schritt die einzelnen Behandlungsschritte erklärt – vom Anfang bis zum Schluss. Um es mit den Worten von Maries Mutter zu sagen: „Es ist nicht immer leicht, anders zu sein.“

Jutta Pagel-SteidlLandesverband für Menschen mit Körper- und MehrfachbehinderungBaden-Württemberg e.V.info@lv-koerperbehinderte-bw.de

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