Zahnärztliche Gruppenprophylaxe vor dem Aus?

Zu viel Prävention in der Kita: Gruppenprophylaxe ade?

Das Präventionsgesetz hat den Krankenkassen konkrete Aufgaben zur Kleinkindförderung erteilt. Diese Programme konkurrieren mit jenen der zahnärztlichen Gruppenprophylaxe. Deren bewährte Padagogik muss sich jetzt gegenüber den neuen „Gesundheitsangeboten“ der Kassen beweisen. Schafft sie das nicht, könnte gerade die Mundgesundheit von Risikokindern stärker leiden.

Im Juni 2015 wurde das Präventionsgesetz verabschiedet. Die Bundesrahmenempfehlungen der neuen „Nationalen Präventionskonferenz“ [Anm. d. Red.: eine Arbeitsgemeinschaft der gesetzlichen Spitzenorganisationen von Kranken-, Unfall-, Renten- und Pflegeversicherung] wurden beschlossen. Orientiert an den Lebensphasen wurden drei gemeinsame Oberziele definiert:

• gesund aufwachsen

• gesund leben und arbeiten

• gesund im Alter

In 14 von 16 Bundesländern wurden Landesrahmenvereinbarungen zwischen den Bundesländern, der gesetzlichen Kranken- und Pflege- sowie der Unfall- und Rentenversicherungen und den Vertretern der Bundesagentur für Arbeit unterzeichnet. In den meisten Bundesländern sind die kommunalen Spitzenverbände den Vereinbarungen beigetreten. Erklärtes Ziel ist es, die existierenden Gesundheitsaktivitäten im Land zu bündeln und die Gesundheitsförderung in allen Lebenswelten weiterzuentwickeln.

Allerdings ist die Zahl der Vertragspartner auf die genannten Unterzeichnenden begrenzt – weder  Landessportbünde noch Landesarbeitsgemeinschaften für Jugendzahnpflege sind beteiligt. Nur in Bayern und Berlin existieren bislang keine unterschriebenen Vereinbarungen. Aber auch das ist nur eine Frage von Wochen.

Sinn der schnellen Umsetzung der Gesetzesvorgaben und des Erhalts des breiten Rahmens als Handlungsfeld für jede einzelne Kasse ist die Erfüllung der Ausgabenvorgaben des Gesetzes: 1,55 Euro für nichtbetriebliche Lebenswelten sollen pro Versicherten verausgabt werden und 45 Cent für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für ein ebenfalls bereits definiertes Auftragsvolumen zur Unterstützung dieser Settingaktivitäten. Das Geld fließt tatsächlich: Bereits zur Halbjahresbilanz am 5. September 2016 meldete das Bundesgesundheitsministerium vollen Erfolg. Bei den Ausgaben für Präventionsleistungen verzeichneten die Krankenkassen im 1. Halbjahr 2016 gegenüber dem 1. Halbjahr 2015 einen Zuwachs von rund 157 auf rund 224 Millionen Euro (rund 42 Prozent). Die Ausgaben für Leistungen für die Prävention in nichtbetrieblichen Lebenswelten sind exponentiell um 194 Prozent gestiegen, von 19 auf 55 Millionen Euro.

Mehr Geld im System = mehr Gesundheit im Land?

Angesichts dieser Meldungen stellt sich die Frage, ob mehr Geld zu mehr Gesundheit in den Lebenswelten führt. Da die gesetzlichen Krankenkassen im Wettbewerb miteinander stehen, sind konkurrierende Parallelaktivitäten quasi systemimmanent. Junge Familien sind als die zentrale Zielgruppe des Kassenwettbewerbs identifiziert worden. In jedem Bundesland konkurrieren deshalb 50 bis 70 Kassen miteinander in den zentralen Settings, über die diese Zielgruppe am besten erreicht werden kann: Kindertagesstätten und Schulen. Schon der Präventionsbericht der GKV für das Jahr 2015, in dem nur 38 Millionen ausgegeben wurden, zeigt sehr deutlich, wohin die Reise geht. Insgesamt wurden demnach 24.420 Lebenswelten erreicht.

In den meisten Industriestaaten haben Kinder immer gesündere Zähne, in Deutschland ist das einer der zentralen Erfolge der Gruppenprophylaxe, die 1986 im Sozialgesetzbuch V verankert wurde. In den 1980er-Jahren hatten die Zwölfjährigen in Deutschland durchschnittlich sieben kariöse Zähne, heute sind es 0,7. Das entspricht einem Rückgang um 90 Prozent. Heute werden etwa 80 Prozent aller Kinder in Kitas mindestens einmal im Jahr erreicht. 2012/2013 nahmen insgesamt 1.920.244 Kinder in Deutschland an der Gruppenprophylaxe teil.

Das bis dato größte Gesundheitsförderungsprogramm einer einzelnen Kasse, die „Jolinchenkids“ des AOK Bundesverbands kommt seit der bundesweiten Einführung 2007 (damals als „Tigerkids“) bis Ende 2014 auf etwa 5.500 Kitas, das entspricht einem Erreichungsgrad von zehn Prozent in knapp zehn Jahren. Da jetzt fast alle Kassen in Kitas aktiv werden, vergrößert sich die Reichweite bei einer Verfünffachung der Ausgaben eben auch fünffach, sprich in zehn Jahren könnte die AOK, wenn sie so weitermacht wie bislang, die Hälfte aller Kitas einmal erreicht haben, wenn diese nicht ein Konkurrenzprogramm einer anderen Kasse vorziehen.

Die Programmqualität ist zwar irgendwie leitfadenkonform, aber dennoch sehr heterogen: hier mal nur Ernährung und Bewegung, da noch was für die Erzieherinnengesundheit. Einige Programme probieren auch gleich das große „one fits all“ – beispielsweise das Programm „Die Rakuns – das gesunde Klassenzimmer“ der ikk classic, ein bundesweites Programm zur Gesundheitsbildung in Grundschulen der Stiftung Kindergesundheit, geadelt durch die Schirmherrschaft von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe. Die Inhalte, die vor allem durch Comics und Internetangebote vermittelt werden, umfassen neben Selbstwahrnehmung, Bewegung und Entspannung eben auch Zahnpflege und Hygiene. Fast alle Krankenversicherer investieren zur zeit massiv in Medien, Material und Personal.

Die entwickelten Angebote konkurrieren dann um die Aufmerksamkeit und die Zeit von Erzieherinnen, Grundschullehrerinnen und Eltern. Das macht die Settings eher präventionsmüde als aufgeschlossen für Neues. Deshalb wäre ein abgestimmtes Vorgehen auf allen Ebenen dringend notwendig, auch um erfolgreiche Programme wie die Gruppenprophylaxe nicht zu gefährden. Nur wenn der Wildwuchs aufhört und Synergien angestrebt werden, ist mehr Geld im System auch eine sinnvolle Investition in die Zukunft.

Dipl.-Psych. Thomas Altgeld, Geschäftsführer Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e.V.Fenskeweg 2, 30165 Hannover E-mail:

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