Kinderschutz-Leitlinie

Verzahnung für den Kinderschutz

Eine neue medizinische Kinderschutz-Leitlinie ist auf den Weg gebracht. Sie erfüllt eine wichtige gesamtgesellschaftliche Aufgabe in einem hochsensiblen Bereich: Alle Disziplinen, die sich im Kinderschutz engagieren, erhalten eine gemeinsame Basis zur Kooperation – mit klarer Sprachregelung, Rollenzuweisungen und Handlungsempfehlungen für ihren Berufsalltag. Und da orale Verletzungen ein Zeichen von Kindeswohlgefährdung sein können, sind Zahnärzte besonders angesprochen. Für sie gibt es in der Leitlinie deshalb ein spezielles Kapitel mit Erläuterungen und Handlungsempfehlungen.

Die neue Kinderschutz-Leitlinie („AWMF-S3(+)-Leitlinie Kindesmisshandlung, -missbrauch, -vernachlässigung unter Einbindung der Jugendhilfe und Pädagogik“) soll Fachkräften aus Medizin, Zahnmedizin, Pädagogik und Jugendhilfe dabei helfen, Fälle von Kindeswohlgefährdung im Berufsalltag zu erkennen, um dann angemessen reagieren zu können. Deshalb zielt sie vor allem darauf ab, ein gemeinsames Verständnis der Berufsgruppen zur Kooperation und einen einheitlichen Sprachgebrauch bei Begrifflichkeiten und Vorgehensweisen zu finden.

Definition Kindeswohlgefährdung

Eine Kindeswohlgefährdung liegt vor, wenn eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes droht oder bereits besteht. Erhält das Jugendamt Kenntnis davon, muss es im Rahmen seines Schutzauftrags Gefährdungsrisiko und Hilfebedarf unter Beteiligung verschiedener Fachkräfte abschätzen (§ 8a SGB VIII).

Die Leitlinie ist eine medizinische. Ein eigenes Kapitel greift jedoch zahnmedizinische Aspekte auf, da dem Zahnarzt beim Erkennen von Kindeswohlgefährdung eine wichtige Rolle zukommt, weil gerade orale Verletzungen ein Anzeichen von Kindeswohlgefährdung sein können. Das ist deshalb etwas Besonderes, weil es bisher deutschlandweit keine gültige Leitlinie gab, die zahnärztliche Aspekte eingebunden hatte und Zahnärzten Unterstützung geben konnte.

Der folgende Beitrag greift die Rolle des Zahnarztes im Rahmen der Kinderschutz-Leitlinie heraus. Die dort aufgelisteten Erläuterungen und Handlungsempfehlungen besitzen eine direkte Relevanz für die tägliche Praxis. Sie geben Hinweise, wie (dentale) Vernachlässigung bei Kindern und Jugendlichen erkannt werden kann. Die Hinweise sollen zu einem besseren Verständnis der Verantwortung der Zahnärzte im Kinderschutz beitragen.

Kooperation aller Partner erforderlich

Das Besondere an der Kinderschutz-Leitlinie ist: Neben Medizinern und Zahnmedizinern waren auch nicht-medizinische Akteure (Pädagogen und die Jugendhilfe) eingebunden. Aufgrund der gesellschaftlichen und politischen Bedeutung des Themas hielten die Initiatoren eine multiprofessionelle Zusammenarbeit für wichtig. 134 Empfehlungen wurden insgesamt konsentiert und formuliert. Ziel: Die optimale Zusammenarbeit aller Partner im Kinderschutz. Dazu gehören Ärzte, Zahnärzte, Kinderärzte, Frühe Hilfen, Klinken, Jugendämter, Jugendhilfeeinrichtungen, Sozialarbeit, Polizei, Psychotherapie, Schulen, Gerichte und weitere Einrichtungen. Altersmäßig umfasst ist das Spektrum von der Schwangerschaft und Geburt bis zum 18. Lebensjahr.

Die Botschaft: Der Zahnarzt steht nicht alleine da. Er und sein Team sind nicht verantwortlich, wenn es darum geht, die Diagnose Misshandlung oder Vernachlässigung zu stellen. Der gesetzliche Auftrag zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung liegt beim Jugendamt – und letztlich entscheidet ein Gericht. Der Zahnarzt selbst sollte die von ihm eingeleiteten Schritte aber sauber und lückenlos dokumentieren.

Kindeswohlgefährdung in Deutschland

Betroffen sind über 45.000 Kinder!

Vernachlässigung, Misshandlung, sexualisierte beziehungsweise häusliche Gewalt: Das Wohl von über 45.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist bedroht. Zahnärzte sollten die Anzeichen in ihrem Bereich kennen, denn orale Verletzungen können bei fehlender oder zweifelhafter Anamnese ein Anzeichen von körperlicher Misshandlung sein. Ein Blick auf die Zahlen.

2017 wurden durch die Jugendämter in Deutschland rund 143.300 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls durchgeführt – laut Statistischem Bundesamt 4,6 Prozent mehr als im Vorjahr. Davon wurden rund 21.700 eindeutig als Kindeswohlgefährdungen („akute Kindeswohlgefährdung“) identifiziert, bei knapp 24.100 konnte dies nicht ausgeschlossen werden („latente Kindeswohlgefährdung“). In rund 48.900 weiteren Fällen kamen die Fachkräfte des Jugendamts zu dem Ergebnis, dass zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber weiterer Hilfe- oder Unterstützungsbedarf vorlag. In fast ebenso vielen Fällen (48.600) wurde weder eine Kindeswohlgefährdung noch weiterer Hilfebedarf festgestellt.

Über 60 Prozent der rund 45.800 Kinder, deren Wohl akut oder latent bedroht war, wiesen Anzeichen von Vernachlässigung auf. Knapp 30 Prozent dieser Kinder zeigten Anzeichen für psychische Misshandlungen – wie beispielsweise Demütigungen, Einschüchterung, Isolierung und emotionale Kälte. Etwas seltener (26 Prozent) gab es Anzeichen für körperliche Misshandlung. Anzeichen für sexuelle Gewalt wurden bei 4,5 Prozent festgestellt.*

Verfahren zur Gefährdungseinschätzung wurden ungefähr gleich häufig für Jungen und Mädchen durchgeführt. Kleinkinder waren jedoch besonders betroffen: Fast jedes vierte Kind hatte das dritte Lebensjahr noch nicht vollendet. Ein Fünftel der Drei- bis Fünfjährigen war betroffen, gut ein Fünftel der Fälle waren Kinder im Grundschulalter. Mit zunehmendem Alter nehmen die Gefährdungseinschätzungen wieder ab: Kinder im Alter von 10 bis 13 Jahren hatten einen Anteil von 19,3 Prozent an den Verfahren, Jugendliche von 14 bis 17 Jahren einen Anteil von 15,7 Prozent.

Am häufigsten machten Polizei, Gericht oder Staatsanwaltschaft das Jugendamt auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung aufmerksam, und zwar bei 23,4 Prozent der Verfahren. Bei 13,5 Prozent kamen die Hinweise von Schulen oder Kindertageseinrichtungen, bei 11,2 Prozent waren es Bekannte oder Nachbarn. Gut jeden zehnten Hinweis erhielten die Jugendämter anonym.

*Mehrfachnennungen waren hierbei möglich.

pr/ck

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