Hilfe leisten unter den Taliban?
Shelter Now International (SNI) ist in Afghanistan weiterhin durch lokale Mitarbeiter vertreten. Nur das Zentral-Büro in Kabul musste wegen der aktuellen Sicherheitslage geschlossen werden. Die Regionalbüros in Faizabad und Herat arbeiten dagegen eingeschränkt weiter. Wichtige Leistungen, wie die zahnmedizinische Versorgung von Frauen und Kindern, die Verpflegung von Waisen und die Verteilung von Lebensmitteln, führt SNI als Partner vom Welternährungsprogramm (WFP) weiter durch.
„Die Behandlungen reichen vom schmerzfreien Ziehen von nicht mehr erhaltungswürdigen Zähnen bis zur Versorgung von schweren traumatischen Gesichtsverletzungen – häufig durch Motorradunfälle oder Schussverletzungen – und schwersten Abszessen im Kieferbereich, die unbehandelt oft zur Sepsis und zum Tod führen“, berichtet SNI-Projektleiter Ewald Göttler.
Unter den Kindern und jungen Erwachsenen gebe es durch zu viel Zuckergenuss, mangelnde Mundhygiene und fehlende Behandlungsmöglichkeiten zudem ein großes Kariesproblem. Dieser Umstand führe oft schon in jungen Jahren zum Verlust einer großen Anzahl von Zähnen und mache vielfach Wurzelbehandlungen bereits vor dem 20. Lebensjahr nötig, führt Göttler aus. „Unter den derzeitigen Umständen finden diese notwendigen Behandlungen aber nicht statt.“
Das größte Problem: Die Konten sind eingefroren
„Die Helfer und Ärzte vor Ort stehen stark unter Druck – vor allem die Frauen“, erzählt er. „Als Teil des öffentlichen Gesundheitswesens müssen sie zur Arbeit erscheinen. Als Angestellte einer internationalen NGO wissen sie nicht, ob sich die neue Regierung feindlich gegen sie stellen wird. Diese Spannung ist schwer auszuhalten.“
Einige Hilfsprojekte würden zwar durch Kollegen weitergeführt. Die größte Herausforderung sei aber der Umstand, dass die Konten eingefroren sind und die Banken kein Geld für Auszahlungen haben. Nur Privatleute bekommen einen kleinen Betrag von etwa 150 Euro am Tag. „Wir können also nur so lange weitermachen bis unsere Barreserven vor Ort aufgebraucht sind, die Bankguthaben wieder freigegeben und die Banken wieder liquide sind“, betont Göttler.
Humanitäre Hilfen
Die Situation sei von Unsicherheit, wirtschaftlichen Problemen und einer steigenden Kriminalitätsrate gekennzeichnet. „Normalerweise sind die Taliban bekannt dafür, rigoros für öffentliche Ordnung zu sorgen. Aber es kommt vermehrt zu nächtlichen Überfällen auf Bürger in Herat. Die bewaffneten Angreifer fordern unter Waffengewalt die Herausgabe aller Wertgegenstände – Handys, Schmuck, Bargeld – und die Taliban scheinen sie gewähren zu lassen“, beschreibt der Projektleiter die Lage. Dies sei eine besorgniserregende und unerwartete Entwicklung.
Göttler zufolge zeichnet sich eine humanitäre Katastrophe ab. Die Vereinten Nationen sprechen jetzt schon von 15 Millionen Menschen, die von unmittelbarer Lebensmittelknappheit bedroht sind. Im Laufe der kommenden Wochen dürfte diese Zahl auf 20 Millionen Betroffene steigen, schätzt er. 2021 ist ein Dürrejahr gewesen. Die ländlichen Regionen haben nicht genügend Lebensmittel. Durch den Umsturz ist die Wirtschaft zum Erliegen gekommen. Die Regierungskonten sind im Ausland eingefroren und neue Hilfsgelder erst mal nicht in Aussicht.
Wie kann die Hilfe weitergehen?
„Unsere Organisation, meine Frau und ich planen unsere Arbeit vor Ort fortzusetzen. Ob unsere Kollegen weitermachen können, hängt davon ab, wie sich die neue Regierung gegenüber den westlichen Hilfsorganisationen positionieren wird“, erzählt er. Davon hänge auch die persönliche und berufliche Zukunft seiner einheimischen Kollegen ab. „Ein Kollege hat es mit einer guten Portion afghanischem Humor zusammengefasst: Die korrupten Leute des alten Systems sind jetzt erst mal weg. Vielleicht können wir unter den Taliban sogar mehr für die Armen tun – wenn sie uns am Leben lassen.“ Auch in Zukunft würde er gern das Schulzahnarztprogramm und die Zusammenarbeit mit ausländischen Universitäten fortführen.
„Die Taliban werden mich nie als Präsidentin arbeiten lassen!“
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Dr. Farzana Nawabi ist die Präsidentin der Afghanistan Dental Association (ADA). Die 41-Jährige hat von 2001 bis 2008 an der medizinischen Universität in Kabul Zahnmedizin studiert. Sie arbeitete drei Jahre lang als allgemeine Zahnärztin in einer Privatpraxis, obwohl dies für sie als Frau eine besondere Herausforderung gewesen sei, da die meisten Einwohner lieber einen männlichen Zahnarzt aufgesucht hätten. Später hat sie vier Jahre lang in einem Lehrkrankenhaus gearbeitet und sich als Fachzahnärztin für MKG-Chirurgie weitergebildet. Als Studentin war sie Mitglied der afghanischen Studentenvereinigung für Zahnmedizin und besuchte Vorlesungen des Canadian Armed Forces Dental Corps. In Zusammenarbeit mit dem zahnärztlichen Korps und der Canadian Dental Association half sie 2009 bei der Gründung der Kabul Dental Association. Im Jahr 2012 wurde die Organisation zur Afghanistan Dental Association erweitert und Nawabi wurde 2013 zur ersten Präsidentin der Organisation ernannt. | privat
Warum wollten Sie Zahnärztin werden?
Dr. Farzana Nawabi:
Sie haben auch angehende Zahnmediziner ausgebildet.
Haben in den vergangenen Jahren viele Frauen Zahnmedizin studiert? Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Was bedeutet die Machtübernahme der Taliban für die Afghanistan Dental Association und für Sie?
studentinnen in Afghanistan
Afghanistan setzt beim Studium wieder auf Geschlechtertrennung, teilte der Bildungsminister der Taliban, Abdul Baki Hakkani, am 12. September in Kabul mit. Da Studentinnen nur noch von Frauen unterrichtet werden sollen, könnten Frauen bald von der Hochschulbildung ausgeschlossen werden. Denn an den Hochschulen gibt es zu wenig Personal und finanzielle Mittel, um getrennten Unterricht zu ermöglichen.
Außerdem sollen Kleidervorschriften für Frauen gelten: Sie müssen an der Universität eine Abaya, ein islamisches Überkleid, tragen und ihr Gesicht mit einem Schleier verhüllen.
Auch die Chirurgen der Deutschen Cleft Kinderhilfe sind nach wie vor in Afghanistan, allerdings nicht im Einsatz, wie die Geschäftsführerin Andrea Weiberg berichtet. Bereits seit 2010 ist der Verein in Afghanistan aktiv, zuletzt mit drei einheimischen Chirurgen und einer einheimischen Chirurgin an drei Standorten. „Die Ärzte wurden von uns in der Cleft-Chirurgie ausgebildet und waren dazu längere Zeit in Indien, unserem größten Projektland. Im Fokus unserer Hilfe in Afghanistan stehen die Operationen von Spaltpatienten, vorwiegend Kinder“, sagt Weiberg.
Seit Projektstart bis Ende 2020 konnte der Verein trotz der immer schon schwierigen Situation 1.426 Operationen finanzieren. Bis Juni haben die Chirurgen noch operiert. „Aktuell fürchten unsere Chirurgen um ihr Leben und das ihrer Familien. Alle vier ziehen in Erwägung, ihr Heimatland zu verlassen“, schildert sie die Situation.
Der Abzug aus dem land wäre dramatisch
Aktuelll kann Weiberg nicht einschätzen, inwieweit die Teams ihre Arbeit wiederaufnehmen können. „Eine Prognose zum aktuellen Zeitpunkt finde ich schwierig“, erkärt sie. Es bleibe abzuwarten, wie die „neue Taliban“ tatsächlich agiert und wie sie sich zum Einsatz ausländischer Hilfsorganisationen positioniert. Nicht nur der Abzug der humanitären Hilfe aus dem Ausland wäre dramatisch für das Land und die Bevölkerung. Auch die Gefahr, dass einheimische Ärzte und andere gebildete und gut ausgebildete Afghanen ihr Heimatland verlassen, sei groß. Der Verein hofft, dass er seine Hilfe für Spaltkinder kurzfristig fortsetzen kann. Dafür müssten aber die Chirurgen im Land bleiben – und dann auch tatsächlich arbeiten dürfen.