Biologischer Blick auf die Endodontie
Chronische Entzündungsherde schwächen bekanntermaßen das Immunsystem. Das gilt generell und sollte daher speziell auch auf inflammatorische Erscheinungen in Wurzelkanälen zutreffen (ähnlich wie für Periimplantitis bereits nachgewiesen). Dies legt nahe, dass eine adäquate Behandlung das Risiko für den schweren Verlauf einer Covid-19-Erkrankung mindern kann. So tritt in der Corona-Pandemie die Bedeutung der Endodontie für die Allgemeingesundheit deutlich zutage.
Umgekehrt lenkt die „biologische Brille“ den Blick automatisch auf die effektive Desinfektion des Wurzelkanals. Man präpariert heute eher substanzschonend, um den Zahn nicht zu schwächen. Darum versichert man sich bei der Entfernung des Debris und des Biolfilms zusätzlicher Unterstützung. Eine Möglichkeit sind durch einen Er:YAG-Laser induzierte Schockwellen (PIPS, Photon-induced Photo-acoustic Streaming), eine andere besteht in der Schallaktivierung der Spülflüssigkeit. Der Erfolg lässt sich inzwischen im Rahmen von Studien unter Verwendung mikrobiologischer Verfahren messen (qPCR/quantitative Polymerasekettenreaktion).
Auch der Zahnarzt könnte sich in Zukunft häufiger auf die Analyse von Entzündungsmarkern im Dentinliquor oder, nach Pulpa-Eröffnung, aus Blut oder Gewebeflüssigkeit stützen. Dementsprechend öfter wird er zu vitalerhaltenden Maßnahmen greifen, zum Beispiel zu einer direkten oder indirekten Überkappung mit bioaktivem/bakteriziden Material (wie Kalziumhydroxid, Kalziumsilikatzement). So kann das Gewebe ausheilen, interessanterweise selbst dann, wenn zunächst eine irreversible Pulpitis diagnostiziert wurde.
Eine „biologische Wurzelkanalfüllung“
Wohl am deutlichsten manifestieren sich biologisch inspirierte Therapieansätze bei der Behandlung von Zähnen mit nicht abgeschlossenem Wurzelwachstum in Verbindung mit einer nekrotischen Pulpa und periapikalen Pathologie. Statt der klassischen Apexifikation kombiniert man heute multipotente Stammzellen aus der Zahnpapille mit Wachstumsfaktoren aus Dentin und thrombozytenangereichertem Plasma in Verbindung mit einer speziellen Matrix. Auf diese Weise züchtet der Endodontologe im Wurzelkanal frisches Gewebe und revitalisiert beziehungsweise revascularisiert die nekrotische Pulpa – eine „biologische Wurzel- kanalfüllung“.
Darüber hinaus kann das dreidimensionale Röntgen biologische Prozesse besser sichtbar machen und einen Blick durch eine dicke Knochencompacta oder durch das Jochbein hindurch auf Kieferknochenentzündungen ermöglichen. Die Chancen einer auf 3-D-Darstellungen digitalgestützten Endodontie reichen über ein stringentes Backward-Planning bis hin zur Bohrschablone.
Damit kann gegebenenfalls sogar der Hauszahnarzt eine komplexe, aber vom Spezialisten bereits vorausgedachte Wurzelkanalbehandlung selbst durchführen. Mit allem, was dazu gehört: mit flexiblen Feilen für ein substanzschonendes Vorgehen oder für einen angewinkelten Zugang in den Wurzelkanal; mit Lupenbrillen und OP-Mikroskope für eine gute Sicht auf das Behandlungsfeld – mit sowohl endodontologischem als auch biologischem Blick, als zahnerhaltende Maßnahme und möglicherweise auch als Prophylaxe gegen schwere Covid-19-Verläufe. Die IDS 2021 wird eine umfassenden Überblick über die aktuellsten Verfahren im Bereich der Endodontie bieten.
Christian Ehrensberger
Frankfurt am Main