Editorial

Verkehrte Welt

Politisch betrachtet liegt die wohl spannendste Woche des bisherigen Jahres hinter uns. CDU und CSU haben sich in einem beispiellosen Hauen und Stechen auf einen Kanzlerkandidaten geeinigt. Die wochenlangen vollmundigen Ankündigungen, man werde in einem geordneten, transparenten und fairen Verfahren einen der beiden natürlich bestens geeigneten Bewerber zum Kanzlerkandidaten küren, war rasch Makulatur. Dass CSU-Chef Markus Söder schnell klein beigeben würde, hat angesichts des Wesens des Franken wohl keiner ernsthaft geglaubt. Es war aber nicht unbedingt absehbar, dass sich Alphatier Söder letztlich verzocken und CDU-Chef Armin Laschet ihn nass abtropfen lassen würde. Das hatte ja einen gewissen Unterhaltungswert. Erschreckend war allerdings zu sehen, dass die Union als seit vielen Jahren stärkste Kraft im Land für ihre Kandidatenkür keinen erkennbar geregelten Prozess etabliert hatte. Merkels Rückzug kam nun ja alles andere als überraschend. Stattdessen wildes Gezerre zwischen Parteivorstand, Präsidium und Basis unter den Augen einer Kanzlerin, die sich scheinbar völlig heraushielt und deren Augenmerk in diesen Tagen vor allem auf der Änderung des Infektionsschutzgesetzes zu liegen schien.

Ganz anders bei den Grünen. Geräuschlos, effizient und nach außen erstaunlich einmütig haben sich die ehemals streitlustigen Grünen auf Annalena Baerbock als Kanzlerkandidatin verständigt. Bemerkenswert ist dabei vor allem, wie es die Parteigremien geschafft haben, die Reihen geschlossen und verschwiegen zu halten. Den früher in Grabenkämpfe zwischen Fundis und Realos heillos verfangenen Grünen ist es gelungen, einen so souveränen Auftritt hinzulegen, wie man ihn eigentlich von der Union hätte erwarten müssen. Verkehrte Welt.

Die Partei wirkt dabei erstaunlich locker und entspannt, andererseits macht sie ihren Regierungswillen mehr als deutlich. Die aktuellen Umfragewerte – die natürlich nur eine Momentaufnahme sind – geben den Grünen recht. Rein rechnerisch wäre momentan ohnehin nur Schwarz-Grün möglich. Eine erneute Auflage der Großen Koalition scheint ebenso ausgeschlossen wie Grün-Rot-Rot. Sicherlich sollte man die SPD noch nicht ganz abschreiben, aber es sieht derzeit nicht so aus, als ob die Sozialdemokraten noch zum entscheidenen Player werden könnten.

Auch wenn noch völlig offen ist, in welchem Kräfteverhältnis eine schwarz-grüne Regierung zustande kommen könnte, so ist es alles andere als unwahrscheinlich, dass das Gesundheitsressort 20 Jahre nach Andrea Fischer zum zweiten Mal an die Grünen geht. Vor diesem Hintergrund ist das jüngste Positionspapier aus der Grünen-Fraktion zur Bürgerversicherung ein deutliches Signal, wohin die Reise gehen soll. Mit der Abkehr von der reinen Lehre – also Abschaffung der PKV (die verfassungsrechtlich ohnehin schwer umsetzbar wäre) – machen sich die Grünen bereit für eine Regierungskoalition. Also eine Art Bürgerversicherung light, bei der auch die privat Versicherten künftig einen einkommensabhängigen Beitrag zahlen sollen, der dann in den Gesundheitsfonds fließt. Im Gegenzug sollen sie jedoch einen Zuschuss aus dem Fonds bekommen, den sie zur Bezahlung ihrer Versicherungsprämien verwenden können. Grundlage für die Berechnung soll nach den Plänen der Grünen dabei nicht mehr allein das Erwerbseinkommen, sondern auch andere Einkommensarten wie Mieterträge oder Aktiengewinne sein (mit Freibeträgen für Kleinsparer). Zudem soll der Wechsel von der GKV in die PKV erleichtert werden. Inwieweit die Union da mitgehen würde, wird man sehen, aber es zeigt, dass sich die Grünen zunehmend einem für das Regieren notwendigen Pragmatismus verschreiben. Laschet auf der anderen Seite muss jetzt alles dafür tun, die Parteibasis und die Wählerinnen und Wähler hinter sich bringen. Ob das gelingt, wird in nicht unerheblichem Maße vom Verlauf der Pandemie und deren Bekämpfung abhängen.

Die nächsten Monate dürften also in jeder Hinsicht spannend werden.

Sascha Rudat

Chefredakteur

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