Studie aus Basel

Neue Muskelschicht des M. masseter entdeckt

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Die Anatomie des Menschen hält noch Überraschungen parat: Forschende der Universität Basel haben einen bisher übersehenen Teil eines unserer Kaumuskeln entdeckt und erstmals detailliert beschrieben: die Pars coronoidea. Die Ergebnisse sind nicht nur aus anatomischer Perspektive, sondern insbesondere im Hinblick auf funktionelle Aspekte spannend.

Der Musculus masseter ist Teil der Kaumuskulatur und für den Kieferschluss (Adduktion) zuständig, aber auch an Protrusionsbewegungen des Unterkiefers beteiligt. In Anatomie-Lehrbüchern wird der Aufbau des M. masseter in der Regel als zweischichtig beschrieben. Er besteht bekanntermaßen aus einem oberflächlichen und einem tiefen Anteil. Die Pars superficialis hat ihren Ursprung an den vorderen zwei Dritteln des Arcus zygomaticus, die Pars zygomaticus im hinteren Drittel. Der gemeinsame Ansatz befindet sich an der Tuberositas masseterica am Angulus mandibulae.

Forschende haben nun jedoch eine dritte, noch tiefere Schicht entdeckt und schlagen dafür den Namen Musculus masseter pars coronidea vor.

„Diese tiefste Schicht des Kaumuskels [...] entspringt posterior an der inneren, temporalen Seite des Jochbeinfortsatzes des Schläfenbeins, wobei die Muskelfasern diagonal nach anterior verlaufen und der Muskel an der Basis und entlang des hinteren Randes des Koronoidfortsatzes des Unterkiefers ansetzt“, legen die Autoren dar [Mezey et al., 2021]. Die Innervation erfolge, ebenso wie die der Pars superficialis und profunda, durch den masseterischen Ast des Nervus mandibularis.

Diese Beschreibung beruht auf Präparationen von zwölf Leichen, computertomografischen Aufnahmen sowie der Untersuchung histologischer Präparate der Kiefermuskulatur. Hinzu kamen Magnetresonanzdaten einer 40-jährigen Patientin. 

Pars coronoidea ließ sich ausnahmslos nachweisen

In allen Analysen ließ sich die Pars coronoidea ausnahmslos nachweisen und auch hinsichtlich seines Verlaufs und seiner Funktion klar von den beiden anderen Schichten unterscheiden. Das Autorenteam schließt deshalb eine anatomische Variation aus.

Ein Blick in historische Anatomiestudien und -lehrbücher zeigt, dass der Aufbau des M. masseter bereits in der Vergangenheit Fragezeichen aufwarf: In einer Ausgabe des Standardwerks „Gray’s Anatomy“ aus dem Jahr 1995 beschreiben die Herausgeber den M. masseter ebenfalls als dreischichtig, wobei die zitierten Studien allerdings auf der Kiefermuskulatur anderer Spezies beruhten und einander teils widersprachen. Weitere vereinzelte Studien aus den frühen 2000er-Jahren berichteten zwar gleichfalls von drei Schichten, diese unterteilten aber den oberflächlichen Anteil des Masseters in zwei Schichten, während die Beschreibung des tieferen Anteils den Standardwerken entsprach.

Dieser Teil kann Unterkiefer-Retrusion

Die Anordnung der Muskelfasern lasse vermuten, dass diese Schicht maßgeblich an der Stabilisierung des Kiefergelenks beteiligt ist. Besonders hervorzuheben ist, dass die Pars coronoidea der einzige Teil des M. masseters zu sein scheint, der den Unterkiefer zurückziehen kann (Retrusion). Durch die gemeinsame Innervation bilden die drei Muskelschichten ein perfektes Zusammenspiel.

„Die koronoiden und die hinteren Teile des tiefen Anteils können synergetisch zusammenarbeiten, um den Unterkiefer anzuheben. Gleichzeitig verläuft die Richtung der Fasern des koronoiden Anteils fast senkrecht zu den Fasern des oberflächlichen Kaumuskels, wodurch ein Kreuzmuskel entsteht, bei dem die beiden Schichten antagonistisch arbeiten können, indem sie den Kiefer entweder zurückziehen oder vorschieben“, fassen die Forschenden zusammen [Mezey et al., 2021].

Die Erkenntnisse sind besonders im Hinblick auf craniomandibuläre Dysfunktionen und Bruxismus spannend und sicherlich Gegenstand zukünftiger Forschungen.

Originalpublikation: 

Mezey SE, Müller-Gerbl M, Toranelli M, Türp JC: The human masseter muscle revisited: First description of its coronoid part. Ann Anat. 2021 Dec 2;240:151879. doi: 10.1016/j.aanat.2021.151879. Epub ahead of print. PMID: 34863910.

Interview mit Prof. Dr. Jens Christoph Türp und Dr. Szilvia Mezey

Müssen die Lehrbücher geändert werden?

Wie kamen Sie dazu, den Aufbau des M. Masseter näher unter die Lupe zu nehmen?

Prof. Dr. Jens Christoph Türp: Ich schaue mir gern alte Fachliteratur der Zahnmedizin an. Dazu zählen nicht nur Bücher, sondern auch alte Zeitschriften, wie die Österreichisch-ungarische Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde. Das ist sehr bereichernd, weil viele der damaligen Erkenntnisse im Laufe der Zeit verloren gegangen sind.

Im Rahmen einer solchen Recherche bin ich auf die Beschreibung eines Muskels gestoßen, der damals als Musculus zygomaticomandibularis bezeichnet wurde. Da dieser Muskel in mehreren einschlägigen Werken erwähnt wurde, unter anderem bereits im Jahr 1845, wurden wir neugierig. In Toldts Anatomischem Atlas für Studierende und Ärzte heißt es beispielsweise in 3. Lieferung der 6. Auflage von 1908 auf Seite 305: „Durch teilweise Abtragung des Masseters wurde der oberflächliche Anteil des Musculus zygomaticomandibularis, welcher gewöhnlich als tiefe Portion des Masseters bezeichnet wird, freigelegt.

Dr. Szilvia Mezey: Wir waren auf der Suche nach dem tiefen Anteil des M. zygomaticomandibularis, der im Atlas weder angezeigt noch im Detail beschrieben worden war. Toldt hatte damals noch den jetzt als oberflächliche Schicht des M. masseters genannten Muskelteil in vier weitere Lappen gespalten, diese sind aber in modernen Atlanten ebenso nicht mehr dargestellt. In späteren Auflagen hatte Toldt schon die internationale Nomenklatur verwendet und den M. zygomaticomandibularis pars superficialis als den M. masseter pars profunda bezeichnet – eine genauere Zuordnung und Beschreibung des tiefen Anteils des M. zygomaticomandibularis blieb aber weiterhin aus.

Sie haben daraufhin begonnen, an gespendeten Körpern nach diesem M. zygomaticomandibularis zu suchen.

Mezey: Ja, wobei ich zunächst damit gerechnet habe, keine neue Muskelschicht, sondern eher anatomische Varianten zu entdecken. Dafür habe ich bei der Präparation zunächst den Masseter Schicht für Schicht abgelöst. Was mich überrascht hat, war, dass ich in der Tiefe immer diesen ganz anderen Verlauf der Fasern gefunden habe. Der Muskel konnte auch in den Computertomogrammen gesehen werden. Es gab auch schon andere Autoren, die diesen Verlauf beschrieben haben, allerdings hat niemand sich eingehender damit befasst. Wir haben diese Wissenslücke gefüllt und wissen jetzt, dass es eine dritte Schicht des M. masseter gibt. Wir vermuten, dass der Pars coronoidea dem tiefen Anteil des M. zygomaticomandibularis entspricht.

Gibt es durch ihre anatomische Entdeckung neue Erkenntnisse über Bruxismus oder CMD?

Mezey: Wir können momentan nur anhand des Faserverlaufs auf Funktionen des Pars coronoidea schließen. Auf dieser Grundlage des Ansatzes und Ursprungs scheint er für eine Retrusionsbewegung sowie für die Stabilisierung der Kiefergelenksstruktur verantwortlich zu sein.

Türp: Was Bruxismus und andere Krankheitsbilder angeht, können wir aktuell keine Konsequenzen ableiten. Allerdings haben wir bereits eine Zuschrift aus den USA erhalten, in der ein Patient berichtet, dass er genau in diesem von uns anatomisch beschriebenen Bereich der Pars coronoidea Schmerzen habe.

Sind diagnostische beziehungsweise therapeutische Konsequenzen absehbar?

Türp: Was die Diagnostik angeht, so ist die Pars coronoidea von außen nicht palpierbar. Aber wir wissen nun, dass es unter den zwei bereits bekannten Schichten des M. masseter noch eine weitere Struktur gibt. Schmerzen in der Tiefe dieser Region wurden bislang häufig dem Pterygoideus lateralis zugeschrieben, was sich nun ändern könnte.

Wie geht es jetzt weiter?

Mezey: Verschiedene nationale und internationale Forschungsteams befassen sich jetzt mit unserer Entdeckung, um sie zu prüfen. Es sind Studien zur Klärung der genauen Funktion des Muskels mithilfe von intramuskulärer abgeleiteter Elektromyografie geplant. Auch histologisch wird der Muskel genauer unter die Lupe genommen.

Müssen die anatomischen Lehrbücher nun geändert werden?

Mezey: Mittelfristig ja, wenn die wissenschaftliche Community die Entdeckung anerkennt. Der Prozess ist allerdings langwierig. Zunächst muss diese Muskelschicht in weiteren Studien, insbesondere von klinischer Seite, noch bestätigt werden. Wenn von internationalen Anatomiegesellschaften anerkannt wird, dass diese Muskelschicht existiert, kann sie in der Nomenklatur (Terminologia anatomica) aufgenommen werden. Hierfür muss das Federative International Programme for Anatomical Terminology (FIPAT) zusammenkommen, das allerdings – mit anatomischem Zeitmaß gemessen – vor Kurzem, im Jahr 2020,  getagt hat. Wahrscheinlich sind wir nun die Ersten in der Schlange mit einer neuen Struktur. Bis zur Aufnahme in die Lehrbücher der Anatomie kann es also noch einige Jahre dauern.

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