Aus der Wissenschaft

Beeinflusst eine reduzierte Kaufähigkeit die kognitiven Funktionen?

Heftarchiv Zahnmedizin
Peer W. Kämmerer
Im Parodontalligament natürlicher Zähne befinden sich Mechanorezeptoren, die über den Nervus Trigeminus eine Fülle von Informationen ins Hirn transportieren. Durch Rückkopplungen zwischen Hirn und diesen Propriozeptoren wird so die neuromotorische Kontrolle der Kaubewegung ermöglicht. Mit dem Verlust von Zähnen versiegt auch der Informationsstrom aus den Propriozeptoren, was zu reduzierten Stimulationen in den betroffenen Hirnarealen führt. Auf diese Weise könnte eine reduzierte Kaufähigkeit auch die kognitiven Funktionen beeinflussen.

Mit dieser Frage beschäftigten sich Kim und Koautor Han aus Südkorea im Rahmen einer groß angelegten Beobachtungsstudie. In der Vergangenheit wurde im Rahmen anderer Arbeiten bereits berichtet, dass Adipositas, Hypertension, Diabetes, Bewegungsmangel, Rauchen, ein niedriges Bildungsniveau und Depressionen Hauptrisikofaktoren für die Entstehung einer Demenz darstellen [Norton et al., 2014]. Mehrere aktuelle Analysen wiesen auch darauf hin, dass das Vorliegen oraler Erkrankungen einen weiteren diesbezüglichen Risikofaktor darstellen kann. Insbesondere eine reduzierte Kaufähigkeit wurde hier als Hauptrisikofaktor gewertet [Tada & Miura, 2017]. Dementsprechend zielte die vorliegende Studie darauf ab, die Auswirkungen einer reduzierten Kaufähigkeit auf die Inzidenz kognitiver Beeinträchtigungen unter Verwendung nationaler Daten zu koreanischen Erwachsenen mittleren Alters (ab 45 Jahren) bei einer Nachbeobachtungszeit von elf Jahren zu untersuchen.

Material und Methode

Die Studie verwendete Langzeit-Follow-up-Daten aus der Korean Longitudinal Study of Aging (KLoSA). Aus 10.254 rekrutierten Probanden wurden 7.568 mit einer normalen Kaufähigkeit ausgewählt und in Zweijahresabständen nachuntersucht. Bei jeder Nachuntersuchung wurde jeweils sowohl die Kaufähigkeit via Fragebogen dokumentiert als auch ein Screening-Test für die Erfassung kognitiver Defizite (Mini-Mental-Status-Test) durchgeführt. Als Kovariablen für die statistische Analyse wurden sozioökonomische Faktoren wie das Geschlecht, das Alter und das Bildungsniveau genauso wie Gesundheitsfaktoren (Bluthochdruck, Diabetes, Adipositas, Depression) und Faktoren des Gesundheitsverhaltens (Aktivität, Zigarettenrauchen) inkludiert.

Im Ergebnis wurden 7.568, 6.301, 5.712, 5.505, 5.246 und 5.020 Personen in den Jahren 2006, 2008, 2010, 2012, 2014 und 2016 nachuntersucht. Das Durchschnittsalter der Teilnehmer zum ersten Untersuchungszeitpunkt betrug 58,6 Jahre und stieg entsprechend mit jeder weiteren Untersuchung an. Die Anzahl der Personen mit kognitiver Beeinträchtigung stellte sich im Untersuchungszeitraum so dar: 2006: 0 (0 Prozent), 2008: 806 (12,8 Prozent), 2010: 1.322 (23,1 Prozent), 2012: 993 (18,0 Prozent), 2014: 973 (18,3 Prozent) und 2016: 986 (19,6 Prozent). Während in der ersten Untersuchung nur Personen eingeschlossen wurden, die eine normale Kaufähigkeit aufwiesen, kam es in den darauffolgenden Befragungen zu einer Veränderung im Sinne einer reduzierten Kau-funktion über die Jahre: 2008: 1.076 (16,5 Prozent), 2010: 868 (14,5 Prozent), 2012: 697 (12,1 Prozent), 2014: 712 (13 Prozent) und 2016: 638 (12,2 Prozent).

Ergebnisse

Die Autoren konnten nach Adjustierung für alle Kovariablen berechnen, dass die Teilnehmer mit einer reduzierten Kaufähigkeit elf Jahre nach Einschluss in die Studie ein Odds Ratio von 1,28 und damit ein gesteigertes Risiko für die Entwicklung eingeschränkter kognitiver Funktionen im Vergleich zu Personen mit einer normalen Kaufähigkeit aufwiesen. Das Odds Ratio zur Entwicklung kognitiver Störungen von Probanden, die kontinuierlich von einer reduzierten Kaufähigkeit berichteten, lag bei 2,1. Im Gegensatz hierzu konnte keine negative Veränderung kognitiver Funktionen bei Probanden gesehen werden, die anfänglich über eine reduzierte, aber nach Abschluss der Untersuchung über eine normale Kaufähigkeit berichteten.

AUS DER WISSENSCHAFT

In dieser Rubrik berichten die Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats der zm regelmäßig über interessante wissenschaftliche Studien und aktuelle Fragestellungen aus der nationalen und internationalen Forschung.

Die wissenschaftliche Beirat der zm besteht aus folgenden Mitgliedern:

Univ.-Prof. Dr. Elmar Hellwig, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Univ.-Prof. Dr. Dr. Søren Jepsen, Universität Bonn

Univ.-Prof. Dr. Florian Beuer, Charité – Universitätsmedizin Berlin

Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer, Universitätsmedizin Mainz

Somit konnte generell über die Zeit von elf Jahren in der Gruppe mit einer eingeschränkten Kaufunktion eine Verschlechterung der kognitiven Funktionen erkannt werden. Dies ist auch unter Präventionsaspekten äußerst relevant, wie bei der Gruppe mit einer primär guten und später schlechteren Kaufunktion (in Kombination mit einer später reduzierten kognitiven Funktion) zu beobachten war.

Diskussion

Die Ergebnisse sind analog zu denen anderer Studien, die ebenso nachweisen konnten, dass eine eingeschränkte Kaufähigkeit die Inzidenz und Prävalenz kognitiver Einschränkungen inklusive Demenz bei älteren Erwachsenen beeinflusst [Tada & Miura, 2017], was Fang et al. zu der Aussage führten, dass der Zahnverlust ein Risikofaktor für Demenz darstellt [Fang et al., 2018]. Es konnte auch gezeigt werden, dass die Kaufunktion durchaus die kognitiven und physischen Funktionen – gemessen an der Blutsauerstoffsättigung und die Gehirnaktivierung – positiv beeinflussen kann [Hirano et al., 2013].

Bedeutung für die Praxis

Zusammengenommen deuten die Ergebnisse darauf hin, dass Kauen nicht nur die Fähigkeit ist, Lebensmittel zu zerkleinern, sondern auch wichtig für die kognitiven Funktionen sein kann. Darüber hinaus kann die möglichst lebenslange Zahnerhaltung und Sicherung der Kaufunktion ein wesentlicher Faktor für die Verhinderung oder Verzögerung kognitiver Beeinträchtigungen sein. Dies demonstriert die wichtige Rolle der Zahnmedizin, altersbedingte kognitive Beeinträchtigungen zu verzögern und/oder sogar zu verhindern. 

Originalpublikation:Kim MS, Han DH. Does reduced chewing ability efficiency influence cognitive function? Results of a 10-year national cohort study. Medicine 2022;101:25(e29270).nDer Artikel ist als „Open Access“ kostenlos als Download verfügbar.

Literaturliste

1. Norton, S., F.E. Matthews, D.E. Barnes, K. Yaffe, and C. Brayne, Potential for primary prevention of Alzheimer's disease: an analysis of population-based data. Lancet Neurol, 2014. 13(8): p. 788-94.

2. Tada, A. and H. Miura, Association between mastication and cognitive status: a systematic review. Arch Gerontol Geriatr, 2017. 70: p. 44–53.

3. Fang, W.L., M.J. Jiang, B.B. Gu, Y.M. Wei, S.N. Fan, W. Liao, Y.Q. Zheng, S.W. Liao, Y. Xiong, Y. Li, S.H. Xiao, and J. Liu, Tooth loss as a risk factor for dementia: systematic review and meta-analysis of 21 observational studies. BMC Psychiatry, 2018. 18(1): p. 345.

4. Hirano, Y., T. Obata, H. Takahashi, A. Tachibana, D. Kuroiwa, T. Takahashi, H. Ikehira, and M. Onozuka, Effects of chewing on cognitive processing speed. Brain Cogn, 2013. 81(3): p. 376-81.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Peer W. Kämmerer

Leitender Oberarzt/
Stellvertr. Klinikdirektor
Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie – Plastische Operationen, Universitätsmedizin Mainz
Augustusplatz 2, 55131 Mainz

Melden Sie sich hier zum zm-Newsletter des Magazins an

Die aktuellen Nachrichten direkt in Ihren Posteingang

zm Heft-Newsletter


Sie interessieren sich für einen unserer anderen Newsletter?
Hier geht zu den Anmeldungen zm Online-Newsletter und zm starter-Newsletter.