Projekt zur partizipativen Entscheidungsfindung

Share to Care – wie man Patienten einbindet

Welche Ärztin, welcher Arzt will die Patienten nicht so informieren, dass jene die medizinischen Zusammenhänge verstehen und die Entscheidungen mittragen? Ein webbasiertes Projekt am Uniklinikum in Kiel zeigt, wie eine gelungene Arzt-Patienten-Kommunikation aussehen kann: „Share to Care“ bindet Mediziner, Patienten und Pflegende ein. Entscheidungshilfen gibt es für 80 Krankheitsbilder. Kann es auch deutschlandweit die Versorgung verbessern?

Wie kann man das Shared Decision Making (SDM), also die partizipative Entscheidungsfindung zwischen Arzt und Patient, in einem gesamten Klinikkomplex systematisch einführen? Das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) in Kiel erhielt 2017 im Rahmen des Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) den Zuschlag für das Projekt „Making SDM a Reality“. Dazu entwickelten die Initiatoren – ein Team aus Ärzten, Diplom-Psychologen und wissenschaftlichen Mitarbeitern – das Programm „Share to Care“: Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte sowie Patientinnen und Patienten sollten jeweils mit einem eigenen Interventionsmodul am Entscheidungsprozess beteiligt werden. Außerdem sollten verständliche Patienteninformationen verfügbar sein, die bei den medizinischen Entscheidungen helfen. 

Ist das Projekt Reif für die REgelversorgung?

Das Projekt wurde vom Innovationsfonds zunächst für vier Jahre mit 13,7 Millionen Euro gefördert. Derzeit berät der G-BA, inwieweit es in die Regelversorgung übernommen werden kann. Zur Überbrückung finanziert die Techniker Krankenkasse die Weiterführung des Programms mit einem Selektivvertrag. Botschafter des Projekts ist übrigens der Arzt, Fernsehmoderator, Kabarettist und Buchautor Dr. Eckart von Hirschhausen. Als ein Verfechter von Shared Decision Making setzt er sich deutschlandweit für das Projekt ein.

Die drei entscheidenden Fragen für die Patienten

Diese Fragen an die behandelnden Ärzte führen laut Share to Care dazu, dass Patienten mehr Informationen erhalten und ihre Wünsche bei der Entscheidungsfindung stärker berücksichtigt werden.

  • Welche Möglichkeiten habe ich (inklusive Abwarten und Beobachten)?

  • Was sind die Vorteile und die Nachteile jeder dieser Möglichkeiten?

  • Wie wahrscheinlich ist es, dass diese Vorteile und Nachteile bei mir auftreten?

Das Programm Share to Care besteht aus vier Bausteinen: 

1. Ärztetrainings

Alle Ärztinnen und Ärzte durchlaufen ein für das Programm entwickeltes, von der Ärztekammer Schleswig-Holstein akkreditiertes Kommunikationstraining – mit CME-Punkten. Dieses besteht aus einem Online-Training, in dem ihnen anhand von Lehrbeispielen ein Grundlagenwissen zu SDM vermittelt wird. Danach nehmen sie ein reales Entscheidungsgespräch auf Video auf. Auf dieser Basis erhalten sie ein individuelles Feedback mit konkreten Verbesserungsvorschlägen. Zur Festigung der Kenntnisse wird im Verlauf erneut ein Entscheidungsgespräch auf Video aufgenommen und ausgewertet. Die Trainings werden von speziell ausgebildeten Trainern durchgeführt. 

2. Entscheidungshilfen

Für die häufigsten Erkrankungen jedes Fachgebiets wurden bisher 80 Entscheidungshilfen entwickelt und in den klinischen Abläufen verankert – einige betreffen auch den Bereich Zahnmedizin (siehe Kasten rechts). Dafür werten internationale Experten in Abstimmung mit den lokalen Klinikern die weltweit verfügbare Evidenz aus. Ein Medical-Writing-Team erstellt daraus patientenverständliche Texte. Die Texte werden ergänzt mit Videoclips, in denen Ärzte die verschiedenen Optionen vorstellen und betroffene Patienten über ihre Erfahrungen mit ihrer Erkrankung und während ihrer Therapie berichten. Die Texte und Videos stehen Patienten und ihren Angehörigen online zur Verfügung. Der Zugang erfolgt passwortgeschützt mit Zugangsdaten.

3. Ausbildung der Pflegekräfte 

Die Pflegekräfte können eine Schulung zum Decision Coach oder auch zur Entscheidungsbegleitung absolvieren. Als Decision Coach unterstützen sie die Patienten anhand einer Entscheidungshilfe bei einer spezifischen Fragestellung, die medizinischen Sachverhalte zu verstehen sowie die eigenen Vorlieben und Prioritäten klar benennen zu können. Als Entscheidungsbegleitung helfen sie den Patienten anhand einer allgemeinen (generischen) Entscheidungshilfe, das eigene Vorwissen zu strukturieren, Fragen zu unklaren medizinischen Sachverhalten zu formulieren sowie ebenfalls die eigenen Vorlieben und Prioritäten klar benennen zu können.

4. Aktivierung von Patienten

Bereits beim Betreten des Klinikums werden die Patienten eingeladen, sich aktiv an den Therapieentscheidungen zu beteiligen. Sie erfahren dabei auch, mit welchen drei Fragen sie selbst dafür sorgen können, dass ihre Wünsche bei den Entscheidungen berücksichtigt werden (siehe Kasten linke Seite).

Ein Beispiel aus der Zahnmedizin

„In der Zahnwurzel liegen ein oder mehrere Kanäle mit Seitenkanälen, in denen Blutgefäße, Nerven und Lymphbahnen verlaufen. Dieses weiche Zahninnere nennt man auch Pulpa, Zahnmark oder Zahnnerv. Die häufigsten Ursachen für eine Entzündung des weichen Zahninneren sind Unfälle oder Karies. Die Entzündung dringt durch die verschiedenen Schichten des Zahns bis in die Pulpa und die Wurzelspitze vor. Sobald sich die Pulpa entzündet, spürt man meistens einen pochenden Dauerschmerz. Wenn die Entzündung nicht behandelt wird, kann der Zahn absterben. Die Entzündung kann chronisch werden und sich weiter auf den Kieferknochen ausdehnen. Eiter sammelt sich an und es entsteht ein Abszess. Der Abszess kann zu grippeähnlichen Beschwerden führen. Das Kinn und die Wange können anschwellen. Die Schmerzen strahlen dann weiter in andere Bereiche des Kopfs aus.

Die Möglichkeiten:

Auch wenn ein entzündeter Zahn noch nicht weh tut, ist es wichtig, ihn behandeln zu lassen und die Entzündung zu stoppen. Dafür stehen grundsätzlich zwei Möglichkeiten zur Verfügung:

1. Der Zahn wird erhalten.

Der Wurzelkanal wird behandelt („Wurzelbehandlung“). Kommt es erneut zu Problemen, kann die Behandlung wiederholt oder der Zahn doch noch gezogen werden.

2. Der Zahn wird gezogen.

An seiner Stelle bekommt man ein Implantat, eine Brücke oder eine Prothese.“

An der Entscheidungshilfe waren Prof. Dr. Christoph Dörfer und Dr. Mohamed Mekhemar, Uniklinikum Kiel, beteiligt.

Im Rahmen der Projektlaufzeit konnten trotz Pandemie 19 von 22 avisierten Kliniken der Uni den Share-to-Care-Prozess erfolgreich abschließen. Weitere Kliniken durchlaufen aktuell den Prozess, um sich ebenfalls zertifizieren zu lassen. Die zuerst zertifizierten Kliniken haben bereits die nach zwölf Monaten fällige Rezertifizierung durchlaufen. Damit die Kliniken die Zertifizierung „Share to Care“ erhalten, müssen sich 80 Prozent der dort arbeitenden Ärzte entsprechend schulen.

Geschulte Ärzte und Patienten wissen mehr

Das gesamte Projekt wurde wissenschaftlich durch die Technische Universität München begleitet. Die unabhängige Evaluation des Projekts konnte belegen, dass Ärzte besser kommunizierten und Patienten gesundheitskompetenter wurden und sich mehr beteiligten.


Projektleiter Prof. Dr. Dipl.-Psych. Friedemann Geiger vom Nationalen Kompetenzzentrum Shared Decision Making am Kieler Klinikum war bei der Vorstellung des Projekts vor der Presse zuversichtlich, dass mit Share to Care eine Perspektive für die deutsche Gesundheitsversorgung aufgezeigt werden konnte. Jetzt gehe es darum, „das Konzept in die bundesweite Regelversorgung“ zu bringen.

Mehr zum Share-to-Care-Konzept:https://www.uksh.de/sdm/Was+ist+SHARE+TO+CARE_-p-90.html - external-link-new-window.


Mehr zu den 80 Entscheidungshilfen:https://www.uksh.de/uksh_media/Dateien_Verwaltung/SDM_Shared+Decision+Making/Presse/PI+29_6_2022/Entscheidungshilfen_Report-p-593681.pdf - external-link-new-window

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