Epidemiologische Studie aus Leipzig

Zahnärzte sollten grundsätzlich zum ­Stillen raten

Heftarchiv Allgemeine Zahnheilkunde
Christian Hirsch
Studien lieferten in den vergangenen Jahren widersprüchliche Ergebnisse zur Stilldauer und zu möglichen Folgen für die Zahngesundheit. Insbesondere der Einfluss der häuslichen Mundhygiene und der Beikost wurde nicht immer genügend berücksichtigt. Eine Studie der Universität Leipzig hat versucht, diese Mängel zu vermeiden.

Über 90 Prozent der Kinder in Deutschland werden nach der Entbindung zumindest für einige Monate gestillt, in Entwicklungs- und Schwellenländern geht dieser Anteil Richtung 100 Prozent, wobei hier auch die Stilldauer verlängert ist [WHO, 2018]. Stillen wird zunächst ausschließlich praktiziert und dann in vielen Fällen partiell fortgeführt, indem zusätzlich feste Nahrung zugefüttert wird.

Das Stillen hat vielfache positive Effekte für Mutter und Kind [Horta et al., 2015; Victoria et al., 2016]. So scheint der mögliche Einfluss auf Karies der einzige identifizierbare negative Effekt zu sein. Dabei gilt physiologisches Stillen als ein vor Karies schützender Faktor, hauptsächlich über die Etablierung einer gesunden Mundflora. Risiken treten offenbar erst beim partiellen Stillen auf, weil hier der Anteil an Nahrung und Milch variiert, womit verhaltensbedingte Faktoren wie Stillfrequenz, nächtliches Stillen, Mundhygiene sowie die Zusammensetzung der zugefütterten Nahrung maßgeblich für das Risiko werden, an einer frühkindlichen Karies (ECC) zu erkranken.

Für Karies als multifaktorielle Erkrankung ist dieser Effekt aber nicht leicht darstellbar. Widersprüchliche Studienergebnisse führten in den vergangenen Jahren zu vermehrter Unsicherheit darüber, wie lange ein Kind ohne erhöhtes Kariesrisiko stillbar ist [Tham et al., 2015]. Ein erhöhtes Kariesrisiko besteht wohl erst ab einer Stilldauer von mehr als zwölf Monaten [van Meijeren-van Lunteren et al., 2021]. Weitere Studien zeigten eine Risikoerhöhung für ECC bei nächtlichem Stillen und gleichzeitig fehlender abendlicher Mundhygiene [Carillo-Diaz et al., 2021].

Allerdings sind die Studien qualitativ sehr heterogen und die fehlende Adjustierung nach Störfaktoren stellt einen wesentlichen Mangel dar. So müssen zum Beispiel bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Stillen und Karies der Sozialstatus (SES) und die Mundhygiene berücksichtigt werden. Zudem lässt sich Karies quantitativ nicht „erfragen“, sie muss – ähnlich wie die Mundhygiene – direkt im Mund des Kindes erfasst werden.

Ziel einer Studie im Rahmen des „Life Child Projekts" der Universität Leipzig war, den Zusammenhang zwischen Stillen und Karies aufzuzeigen [Kuminek et al., 2020]. Der Fokus lag darauf, die Mängel früherer Studien möglichst zu vermeiden: Karies und Mundhygiene sollten daher direkt im Mund der Kinder gemessen werden, ausschließliches und partielles Stillen prospektiv erfasst und separat analysiert werden, und es musste eine Adjustierung nach wichtigen Störgrößen wie SES, Alter, Body-Mass-Index (BMI) als Indikator für kohlenhydratreiche Ernährung und Mundhygiene erfolgen.

In einem Zeitraum von drei Jahren wurden 2.684 Kinder aus Leipzig und Umgebung untersucht. Über die Eltern erfolgte eine umfassende Befragung der Probanden sowie eine medizinische und zahnärztliche Untersuchung. In die Studie eingeschlossen wurden Kinder im Alter von ein bis fünf Jahren, für die auswertbare Daten vorlagen. Es resultierte schließlich ein Probandenpool von 597 Kindern.  

Die Karieshäufigkeit in der Stichprobe betrug etwa zehn Prozent (n = 59/597), der mittlere dmf-t-Index ± SD (Standardabweichung) lag bei 0,27 ± 1,1. Fast alle Kinder (95 Prozent) wurden wenigstens kurzzeitig gestillt. Die Dauer des ausschließlichen/partiellen Stillens (± SD) betrug im Mittel 4,5 ± 4,7 beziehungsweise 9,3 ± 7,7 Monate. Kinder aus Familien mit niedrigem Sozialstatus wurden signifikant kürzer gestillt (1,2 Monate weniger für ausschließliches und 3,3 Monate für partielles Stillen, p < 0,05).

Mundhygiene, Sozialstatus und Alter des Kindes sind wichtig

In den bivariaten Analysen ergab sich ein Schutz vor Karies bei einer Stilldauer von sechs bis zwölf Monaten (Abbildung 1), in den multivariablen Analysen spielte Stillen aber keine Rolle mehr, hier waren Plaque (Odds Ratio [OR] = 9,8: 95%-Konfidenzintervall [KI]; 5,1-18,8), niedriger Sozialstatus (OR = 2,3; 95%-KI: 1,0-5,3) sowie Alter (OR = 2,0 pro Jahr; 95%-KI: 1,5-2,6) signifikante Einflussfaktoren.

Ein kieferorthopädischer Befund oder ein erhöhter BMI-Wert hatten keinen Einfluss auf die Kariesentwicklung. Schlussfolgernd ergibt sich aus dieser Studie, dass schlechte Mundhygiene, niedriger Sozialstatus und das Alter des Kindes Risikofaktoren für ECC sind. Die Dauer von ausschließlichem/partiellem Stillen beeinflusste dagegen das Vorkommen von kavitierender Karies in der untersuchten Kohorte nicht signifikant. Eine Risikoerhöhung für Karies im Rahmen des physiologischen Stillens bis zwölf Monate konnte zudem definitiv ausgeschlossen werden.

Problematisch ist bei all solchen Erhebungen sowie im Praxisalltag, dass die sogenannte Stillkaries als solche nicht verifiziert werden kann, da sie sich von „normaler“ Karies klinisch oder histologisch nicht unterscheidet. Für die Plaquebakterien ist es unerheblich, ob die Kohlenhydrate aus der Milch oder einer anderen Quelle stammen.

Es bleibt am Ende die Analyse der Anamnese und des Gesundheitsverhaltens, ob die bei dem jeweiligen Kind vorhandene Karies partiell auch auf ungünstige Stillgewohnheiten zurückgeführt werden kann. Fasst man die vorliegende Literatur zusammen, können folgende Empfehlungen zur Vermeidung zahnschädigender Stillgewohnheiten formuliert werden:

  • Vom Stillen über zwölf Monate ist nicht per se abzuraten, es muss aber eine Aufklärung der Eltern (Mütter) über den – auch kariogen wirksamen – Kohlenhydratanteil in der Milch erfolgen.

  • Stillen zur Nahrungsaufnahme ist aus kariologischer Sicht unbedenklich, auf das richtige Anlegen des Kindes sollte dabei geachtet werden.

  • Ab dem ersten Milchzahn muss mit fluoridhaltiger Zahnpasta geputzt werden.

  • Auf eine Kombination aus Flasche/Stillen sollte bei Kleinkindern älter als zwölf Monate möglichst verzichtet werden. Dem Kind sollten Eltern nachts Wasser oder ungesüßten Tee anbieten, denn hier kann häufiges Stillen ad libidum bei gleichzeitig fehlender Mundhygiene beziehungsweise fehlender Fluoridierung das Kariesrisiko stark erhöhen.

  • Zahnärztliche Kontrollen zur Früherkennung sollten ab dem ersten Milchzahn und dann regelmäßig in Anspruch genommen werden.

  • Es sollte keine Aufnahme von Schadstoffen während der Stillzeit erfolgen, weil diese anteilig über die Milch an das Kind abgegeben werden. Das gilt auch für Zucker!

Aus zahnärztlicher Sicht sollte also grundsätzlich zum Stillen geraten werden, auch über den zwölften Lebensmonat hinaus. Ab diesem Alter werden die möglichen Effekte des Stillens auf das Kariesrisiko von anderen Faktoren wie SES, Mundhygiene- oder Ernährungsverhalten stark überlagert. Über die Problematik des Schadstoffgehalts in der Milch gibt es derzeit zu wenige Kenntnisse. Das perinatal gebildete Dentin der Milchzähne, die nach Exfoliation auswertbar sind, kann hier neue Erkenntnisse darüber bringen, welchen Umweltbelastungen Kinder prä-, peri- und postnatal ausgesetzt sind [Yu et al. 2021].

Literaturliste

  • Carrillo-Díaz M, Ortega-Martínez AR, Ruiz-Guillén A, Romero-Maroto M, González-Olmo MJ. Impact of Breastfeeding and Cosleeping on Early Childhood Caries: A Cross-Sectional Study. J Clin Med. 2021 Apr 8;10(8):1561.

  • Horta BL, Loret de Mola C, Victora CG: Long-term consequences of breastfeeding on cholesterol, obesity, systolic blood pressure and type 2 diabetes: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr Oslo Nor 2015; 104: 30-37.

  • Kuminek F, Kiess W, Körner A, Hirsch C, Wagner Y. Zusammenhang zwischen Stilldauer und Early Childhood Caries. Oralprophylaxe Kinderzahnheilkd 2021; 43: 40–48.

  • Tham R, Bowatte G, Dharmage SC, Tan DJ, Lau MXZ, Dai X et al.: Breastfeeding and the risk of dental caries: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr Oslo Nor 2015; 104: 62-84.

  • Van Meijeren-van Lunteren AW, Voortman T, Elfrink ME, Wolvius EB, Kragt L. Breastfeeding and childhood dental caries: results from a socially diverse birth cohort study. Caries Research, 2021; 55: 153-161.

  • Victora CG, Bahl R, Barros AJD, França GVA, Horton S, Krasevec J et al.: Breastfeeding in the 21st century: epidemiology, mechanisms, and lifelong effect. Lancet 2016; 387: 475-490.

  • World Health Organization. Fact sheet – Infant and young child feeding. Geneva, Switzerland: World Health Organization; 2018 (letzter Zugriff 20. Dezember 2022). www.who.int/mediacentre/news/statements/2011/breastfeeding_20110115/en/

  • Yu M, Tu P, Dolios G, Dassanayake PS, Volk H, Newschaffer C, Fallin MD, Croen L, Lyall K, Schmidt R, Hertz-Piccioto I, Austin C, Arora M, Petrick LM. Tooth biomarkers to characterize the temporal dynamics of the fetal and early-life exposome. Environ Int. 2021;157:106849.

Prof. Dr. MSc Christian Hirsch

Universitätsklinikum Leipzig AöR, Department für Kopf- und Zahnmedizin
Poliklinik für Kinderzahnheilkunde und Primärprophylaxe
Liebigstr. 10–14, Haus 1, 04103 Leipzig
christian.hirsch@medizin.uni-leipzig.de

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