Gesundheitskompetenz in Deutschland

Migranten sind „digitale Wanderer zwischen den Welten“

Die digitale Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland niedrig, aber gleichzeitig höher als bei der Allgemeinbevölkerung. Warum das so ist, haben Forscher der Universität Bielefeld untersucht.

Dabei hat sich von 2014 bis 2020 die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung sogar noch weiter verschlechtert. Zu dem Ergebnis kommen die repräsentativen Health Literacy Surveys (HLS), die seit 2014 in Bielefeld durchgeführt werden. Den Befragten von 2020 fiel es demnach viel schwerer als denen in 2014, Informationen zu Gesundheit und Krankheit angemessen zu verarbeiten.

Die HLS-MIG-Studie, ebenfalls aus Bielefeld, lenkt nun erstmals die Aufmerksamkeit auf die Gesundheitskompetenz von Migranten. Befragt wurden die zwei größten Migrationsgruppen in Deutschland: Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion (Stichprobe: 525 Befragte) und aus der Türkei sowie deren Nachkommen (Stichprobe 512 Befragte).

Zentrales Ergebnis: Die Gesundheitskompetenz in diesen Gruppen ist entgegen der Erwartung zwar nicht geringer als in der Allgemeinbevölkerung, doch verfügt mehr als die Hälfte der Befragten über eine insgesamt nur niedrige Gesundheitskompetenz. Das gilt vor allem für das digitale Wissen.

Hemmschuhe sind immer: keine Bildung, Alter, Krankheit

66,3 Prozent in der Gruppe mit ex-sowjetischem und 64,7 Prozent in der Gruppe mit türkischem Migrationshintergrund haben eine geringe digitale Gesundheitskompetenz. Besonders wenig digital-affin sind Ältere ab 65 Jahren (90,1 versus 93,2 Prozent), Personen mit niedrigem Sozialstatus (79,2 versus 83 Prozent), einem geringen Bildungsniveau (73,3 versus 78,5 Prozent), chronischen Erkrankungen (76,6 Prozent versus 68 Prozent), eigener Migrationserfahrung (68,9 versus 72,6 Prozent) oder geringen Deutschkenntnissen (71,4 versus 76,5 Prozent).

Über 70 Prozent beider Gruppen nutzen demzufolge Internetseiten zum Thema Gesundheit, aber weit weniger als die Hälfte Gesundheits-Apps, digitale Geräte oder digitale Interaktion zur gesundheitlichen Versorgung. Experten hatten daraufhin im vergangenen September Bedarfe analysiert, Konsequenzen angemahnt und Strategien zur Verbesserung der digitalen Gesundheitskompetenz gefordert. Die Diskussionen mündeten in ein achtes Papier im Rahmen der Empfehlungen des Nationalen Aktionsplans Gesundheitskompetenz.

Sie beschaffen sich anders Informationen

Warum Migranten eine — zwar auf niedrigem Niveau — bessere digitale Gesundheitskompetenz haben? Sie beschaffen sich den Fachleuten zufolge die Informationen anders. Sie informieren sich sich demnach nicht nur auf etablierten Internetseiten, sondern gehen über persönlichere interaktive Kanäle wie soziale Medien, Chatgruppen oder Videoplattformen. Zudem bevorzuge ein großer Anteil von ihnen Gesundheitsinformationen in der Erstsprache. Dazu würden auch digitale Informationsquellen aus dem Herkunftsland der Eltern herangezogen. Die Experten sprechen von „digitalen Wanderern zwischen den Welten“.

Dies dürfte ihrer Ansicht nach dazu beitragen, dass die digitale Gesundheitskompetenz bei Menschen mit Migrationshintergrund besser ausfällt als bei den Deutschen — obwohl die Kompetenz über die Gesamtbevölkerung gesehen gering ist.

Multiplikatoren spielen eine große Rolle

Allerdings könnten sich die Informationen, Deutungsmuster und Erklärungen aus dem Herkunftsland und die daraus abgeleiteten Empfehlungen von den hiesigen unterscheiden, miteinander konkurrieren oder sich sogar widersprechen. Erforderlich sei, bekannte Strukturen der Lebenswelten zu nutzen, raten die Experten. Hochwertige Informationen sollten gezielt über dort etablierte Kanäle wie Vereine, Glaubensgemeinschaften, Selbsthilfegruppen, aber auch Schulen und Stadtteilzentren verbreitet werden.

Zur Förderung der digitalen Gesundheitskompetenz von Migranten raten die Experten zudem:

  • soziale Unterschiede zu beachten, denn Menschen mit niedrigem Bildungs- oder Sozialstatus und im höheren Alter sind stärker betroffen.

  • geringe Deutschkenntnisse, geringe Lese- und Schreibfähigkeiten oder abnehmende Seh- und Hörfähigkeiten im Alter zu berücksichtigen.

  • strukturelle Maßnahmen, die den Umgang mit Gesundheitsinformation erleichtern, zu etablieren: Dazu gehören leicht verständliche Informationen zur ersten Einführung ins Gesundheitssystem für neu eingewanderte Personen, flächendeckende Angebote zur (digitalen) Sprachmittlung und die Bereitstellung von Informationen in verschiedenen Sprachen, Formaten und über unterschiedliche Kanäle.

  • die Diversität der Lebenswege und die Vielfalt der Biografien besonders zu berücksichtigen: Schülerinnen und Schüler mit elterlicher Migrationserfahrung sollten anders angesprochen werden als kürzlich eingewanderte Menschen in prekären Lebensverhältnissen, Menschen in festen Glaubensgemeinschaften oder Menschen mit gut situiertem Akademikerhintergrund. pr

Das Projekt „Nationaler Aktionsplan Gesundheitskompetenz“ ist ein Kooperationsprojekt der Universität Bielefeld und der Hertie School und wird von der Robert Bosch Stiftung gefördert.

Die Studie: Berens E-M, Klinger J, Mensing M, Carol S, Schaeffer D: Gesundheitskompetenz von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland: Ergebnisse des HLS-MIG. Bielefeld: Universität, Interdisziplinäres Zentrum für Gesundheitskompetenzforschung; 2022.

Digitales Training für Migranten

Um die digitale Gesundheitskompetenz von Migrantinnen und Migranten zu fördern, hat das Institut Arbeit und Technik in Gelsenkirchen (IAT) eine digitale Lernplattform entwickelt. Mit Partnern aus Spanien, Italien und Griechenland wurden über zwei Jahre Trainingsmaterialien entwickelt, damit sich insbesondere Geflüchtete besser im fremden Gesundheitssystem zurechtfinden und mehr Eigenverantwortung im Umgang mit der eigenen Gesundheit übernehmen können. Die Materialien stehen kostenfrei zur Verfügung. Das Projekt wird aus Mitteln der Europäischen Kommission gefördert. Mehr unter: https://mig-dhl.eu/de/

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