Umstrittener TikTok-Trend

Klebeband in der Nachttischschublade – für bessere Zähne

Heftarchiv Gesellschaft
mg
Social-Media-InfluencerInnen feiern in den USA eine alte Idee: Mouth Taping. Das nächtliche Abkleben des Mundes mit einfachem Klebeband oder speziellen Pflastern soll im Schlaf die Mundatmung unterdrücken und so positiv wirken. Die wissenschaftliche Evidenz hält sich in Grenzen.

Das ist der neueste Wellness-Wahn", heißt es in einem Bericht des US-Fernsehsenders CBS. Auf den vertrauen seit Neuestem auch Stars und Sternchen, etwa die Schauspielerin Gwyneth Paltrow. Befürworter wie das US-Zahnärzteportal Dentistry-IQ loben die blutdrucksenkende Wirkung, außerdem sei die Nasenatmung besser für die Zähne. Denn wer mit offenem Mund schläft, leide häufiger unter obstruktiver Schlafapnoe (OSA) oder Bruxismus, argumentieren sie. Und da der Mund schneller austrockne, sei die Remineralisierung durch den Speichel während des Schlafs gestört. Und wenn die Mundatmung zu einem Ungleichgewicht des oralen Mikrobioms führt, könne zudem Halitosis entstehen.

Doch während zur pathologischen Mundatmung viele Studien existieren, ist der Nutzen des Mouth Taping bisher wenig erforscht. Den ersten Hinweis auf mögliche positive Effekte lieferte Anfang der 2000er-Jahre eine Studie [Birch, 2004], die bei 30 PatientInnen beobachtete, dass die Verwendung eines porösen oralen Pflasters den mittleren Apnoe/Hypopnoe-Index (AHI) um 35 Prozent senken kann. Im vergangenen Jahr bestätigte eine kleine taiwanesische Untersuchung [Lee et al., 2022] diese Beobachtung. Bei ProbandInnen mit leichter OSA reduzierten sich durch Mouth Taping sowohl der AHI als auch der mediane Schnarchindex (SI) um 47 Prozent. Die Technik könne womöglich eine alternative Behandlung bei Patienten mit leichter OSA sein, lautete das vorsichtige Fazit der Autoren. 2009 untersuchte eine ebenfalls kleine Studie [Tattersfield, 2009] den möglichen Nutzen für Asthmapatienten, der aber letztlich nicht nachgewiesen werden konnte.

Erst sagt er seine Frau „Gute Nacht" ...

Trotzdem werben Mediziner wie Dr. Mark Burhenne für die Technik. Der US-Zahnarzt betreibt seit 2009 die Website askthedentist.com und bespielt regelmäßig Social-Media-Kanäle. Auf YouTube schwärmt er nicht nur von den positiven Effekten des Mouth Taping, sondern bewirbt auch ganz konkret ein Produkt – inklusive Rabatt für seine ZuschauerInnen. „Jeden Abend, nachdem meine Frau und ich uns gute Nacht gesagt haben, greife ich nach einer Rolle Klebeband in der Schublade meines Nachttischs. Ich entspanne meine Lippen, halte sie geschlossen und überklebe sie, bevor ich das Licht ausschalte“, schrieb Burhenne schon Jahre früher auf askthedentist.com. Das klinge für manchen vielleicht bizarr, gibt er zu, „aber die gesundheitlichen Vorteile der Nasenatmung sind unbestreitbar".

Nachts durch den Mund zu atmen, sei keine Lappalie, betont er. „Es ver­ringert nicht nur die Schlafqualität, sondern stört auch das Gleichgewicht Ihres oralen Mikrobioms und macht Sie anfälliger für Karies. Tatsächlich halte ich Mundatmung für die häufigste Ursache von Karies – noch vor schlechter Ernährung oder schlechter Zahnhygiene.“

Burhenne ist mit seiner Einschätzung in guter Gesellschaft: Angesichts des großen öffentlichen Interesses positionierte sich der Konzern Colgate-Palmolive Anfang 2023 mit einer Verbraucher­information als Befürworter der Technik: Das Mouth Taping habe „Vorteile sowohl für Ihre Mundgesundheit als auch für die allgemeine Gesundheit“, heißt es darin. Ganz konkret nennt Colgate unter anderem ein reduziertes Risiko für Karies und Zahnfleischerkrankungen.

Geradezu euphorisch äußern sich auch verschiedene US-Zahnmedizin- und -Medizinportale, nicht erst seit dem neuesten Hype. In dem US-Magazin RDH für Dentalhygienikerinnen gab eine Fachautorin bereits 2021 ihrer Kollegenschaft Tipps zur Weitergabe an PatientInnen, die sich nachts besser mit Papierklebeband den Mund verschließen sollten.

... dann klebt er sich den Mund zu

Wichtig zu wissen: Diese Frau ist auch als Trainerin der sogenannten Buteyko-Methode tätig, die häufig mit Mouth Taping assoziiert wird. Das alternativmedizinische Verfahren zur Behandlung von obstruktiven Atemwegs­erkrankungen wie Asthma bronchiale stammt aus der Sowjetunion und ist nach ihrem Begründer, dem Arzt und Wissenschaftler Konstantin Pawlowitsch Buteiko benannt, der die Technik seit den 1950er-Jahren ent­wickelte. Trotz großer Verbreitung ist die Wirksamkeit umstritten. Ein Cochrane-Review [Santino, 2020] konnte nur sehr wenige qualitativ gute Studien zur Beurteilung der Therapie bei Asthma auswerten. Weitere Studien seien notwendig, hieß es damals.

Die American Dental Association hat die Methode bis jetzt noch nicht kommentiert, wohl aber kanadische KollegInnen. Etwa Dr. Izchak Barzilay, Zahnarzt und stellvertretender Vorstandschef des Royal College of Dentists of Canada in Toronto. Er rät dringend, Mouth Taping nur unter sorgfältiger Anleitung eines Zahnarztes oder Schlafspezialisten durchzuführen. Schließlich gebe es viele Ursachen, warum jemand nachts durch den Mund atmet. Sie reichten von einer einfachen Angewohnheit bis hin zu ernsteren Problemen wie einer verkrümmten Nasenscheidewand, Nasenpolypen, Nebenhöhlenreizungen oder vergrößerten Mandeln, ergänzt Dr. Lisa Bentley, Zahnärztin aus Ontario und Präsidentin der dortigen Zahnärztekammer gegenüber den Branchendienst www.healthing.ca. All dies könne die Atmung durch die Nase beeinträchtigen und erfordern, dass der Schläfer zusätzliche Luft durch den Mund bekommt. So argumentieren auch deutsche Hals-Nasen-Ohrenärzte. Andernfalls könnte es gefährlich werden, warnen sie.

Social-Media-Influencer oder Lifestyle-Magazine ficht das allerdings nicht an. Ihr Credo: „Probieren geht über studieren.“ mg

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