Bundesregierung will umstrittene Chemikaliengruppe in der EU verbieten

Nützlich – aber auch toxisch?

Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS) sind Chemikalien, die aufgrund ihrer wasser-, fett- und schmutzabweisenden Eigenschaften in vielen Produkten eingesetzt werden. Das Problem: die Verbindungen sind extrem langlebig und mittlerweile weltweit im Trinkwasser, in Böden, der menschlichen Nahrungskette und im Blut nachweisbar. Studien­ zufolge reichern sich die Stoffe im menschlichen Körper an und beeinträchtigen womöglich die Gesundheit.

Darum hat die Bundesregierung gemeinsam mit Dänemark, den Niederlanden, Norwegen und Schweden Mitte Januar bei der EU-Chemikalienagentur ECHA den Vorschlag eingereicht, PFAS in der EU zu verbieten. Wenn die Freisetzung der Stoffe nicht minimiert werde, argumentieren sie, „werden Menschen, Pflanzen und Tiere zunehmend exponiert und ohne Einschränkung solche Werte erreicht, die negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt haben.“

Gift für die Ewigkeit

Per- und polyfluorierte Alkylsubstanzen (PFAS) sind Industriechemikalien, die seit Mitte des 20. Jahrhunderts hergestellt und aufgrund ihrer besonderen technischen Eigenschaften (wasser-, fett- und schmutzabweisend) in zahlreichen industriellen Prozessen und Verbraucherprodukten eingesetzt werden. PFAS finden sich in Papierbeschichtungen, Textilien, antihaftbeschichteten Pfannen, Elektronikgeräten und Kosmetika und werden zur Oberflächenbehandlung von Metallen und Kunststoffen, in Reinigungs- und Pflanzenschutzmitteln, in der Fahrzeug- und Bauindustrie, im Energiesektor, in Farben und Feuerlöschschäumen sowie in einer Vielzahl weiterer Bereiche verwendet. Darüber hinaus können diese Verbindungen als Verunreinigungen oder nicht beabsichtigte Nebenprodukte in Verbraucherprodukten vorkommen, informiert das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR).

PFAS sind chemisch und physikalisch sehr stabil und können durch natürliche Abbaumechanismen kaum gespalten werden. Sie sind mittlerweile weltweit in Gewässern, Böden, Pflanzen und Tieren nachweisbar und können damit auch in die Nahrungskette eingetragen werden. Die Bevölkerung nimmt PFAS über unterschiedliche Lebensmittelgruppen auf: Relevant sind Trinkwasser, Fisch und Meeresfrüchte, aber auch Milch und Milchprodukte, Fleisch, Eier sowie pflanzliche Lebensmittel können ebenfalls messbare Gehalte an PFAS aufweisen.

Im menschlichen Körper findet eine nach bisherigen Beobachtungen eine Bioakkumulation statt. Teilweise werden PFAS unverändert ausgeschieden oder aber zu anderen PFAS, beispielsweose Perfluoralkylsäuren (PFAA) verstoffwechselt. Diese PFAA stellen eine „Endstufe“ des Abbaus von PFAS im Stoffwechsel dar. Studien geben Hinweise auf Zusammenhänge zwischen Gehalten bestimmter PFAS im Blutserum und dem Auftreten möglicherweise gesundheitlich relevanter Veränderungen, schreibt das BfR, etwa eine geringere Bildung von Antikörpern nach üblichen Impfungen, erhöhte Cholesterinspiegel und niedrigere Geburtsgewichte. Aus Tierversuchen ist zudem bekannt, dass viele PFAS die Leber schädigen, einige wirken außerdem entwicklungstoxisch und können den Fettstoffwechsel, die Schilddrüsenhormonspiegel und das Immunsystem beeinträchtigen. Ob ein erhöhtes Krebsrisiko für den Menschen im Zusammenhang mit einer PFAS-Exposition besteht, kann laut der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) derzeit nicht eindeutig belegt werden.

Die Behörden schätzen, dass in den kommenden 30 Jahren rund 4,4 Millionen Tonnen PFAS in die Umwelt gelangen würden, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden. Und womöglich ist es schon fünf vor zwölf: Bei Untersuchungen im ganzen Bundesgebiet fand das Umweltbundesamt heraus, dass ein knappes Viertel der untersuchten Kinder und Jugendlichen so hohe PFAS-Konzentrationen im Blut hatten, dass gesundheitliche Schäden „nicht mehr auszuschließen“ seien.

Die Industrielobby hat längst die Arbeit aufgenommen

Die wissenschaftlichen Ausschüsse der ECHA werden bei ihren Sitzungen im März 2023 nun prüfen, ob der Vorschlag die gesetzlichen Anforderungen der Europäischen Chemikalienverordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (kurz REACH) erfüllt. Wenn dies der Fall ist, beginnen die Ausschüsse mit der wissenschaftlichen Bewertung des Vorschlags. Die sechsmonatige Konsultation soll am 22. März 2023 beginnen.

Doch schon im Vorfeld des Vorschlags hatten Industrieverbände scharfe Kritik an der Idee eines Banns geübt und versucht dessen technische und wirtschaftliche Machbarkeit in Zweifel zu ziehen. Nach Recherchen von Süddeutschen Zeitung (SZ), NDR, WDR und internationalen Partnern lobbyieren in Europa zurzeit rund 100 Organisationen, darunter 42 Industrieverbände. „Die Verbände wollen die Regulierung einer gesamten Stoffgruppe aushebeln“, schrieb die SZ Ende Februar. Das belegten mehr als 1200 vertrauliche Dokumente der Europäischen Kommission und der ECHA.

An mehr als 1.500 Orten sind Wasser oder Böden verseucht

Der Rechercheverbund legt in einer konzertierten, internationalen Veröffentlichungsreihe aber nicht nur das Engagement von Schwergewichten wie de, Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder Konzernen wie BASF und Bayer offen, sondern liefert erstmals Daten zur Nachweisbarkeit der Stoffe im gesamten Bundesgebiet von, über die bis dahin nicht einmal die Bundesregierung verfügte. Danach sind an mehr als 1500 Orten in Deutschland Trinkwasser und/oder Böden mit PFAS verseucht.

Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Bündnis 90/Die Grünen) nannte dem Blatt gegenüber den Umfang der Belastung „erschreckend“, zumal eine Sanierung bei der Stoffgruppe „fast nicht möglich“ sei. Auch außerhalb Europas sind PFAS ein großes Thema. Die US-Umweltbehörde EPA hat das Problem seit ein paar Jahren im Blick. 2021 erklärte sie, mit einer neuen Strategie solle es „mutige und konkrete“ Schritte in Bezug auf den kompletten Lebenszyklus der Chemikalien geben. Vorgesehen sei ein dreistufiger Ansatz: die Forschung zu PFAS verstärken, die Verbreitung in der Umwelt eindämmen und die Säuberung bereits kontaminierter Orte beschleunigen. US-Umweltschutzorganisationen wie der Environmental Working Group (EWG) geht das nicht weit genug. Es gebe PFAS-Belastungen in fast 400 Militäreinrichtungen, berichtet sie und schätzt, dass aktuell mehr als 200 Millionen Amerikaner mit PFAS kontaminiertes Wasser trinken. Zudem handele die Umweltbehörde zu langsam, kritisiert EWG. Die EPA habe von den Risiken durch PFAS mindestens seit 1998 gewusst, es aber versäumt, zu handeln, erklärte die Organisation.

Kalifornien reicht Multi-Millionen-Klage gegen Hersteller ein

Ganz ähnlich argumentiert der US-Bundesstaat Kalifornien, als er nach North Carolina, New Jersey und New York und neben zahlreichen Wasserversorgern, Feuerwehren und andere Organisationen in den USA Klage gegen die Hersteller 3M und DuPont einreichte. In der Klageschrift führt der Bundesstaat aus, 3M habe bereits in den 1950er Jahren damit begonnen, die physiologischen und toxikologischen Eigenschaften von Per- und Polyfluoralkylsubstanzen zu testen. Weiter heißt es, „aufgrund dieser internen Studien wusste 3M, dass Per- und Polyfluoralkyl-Substanzen giftig für Mensch und Umwelt sind.“

Kalifornien klagt Medienberichten zufolge insgesamt gegen 18 PFAS-Hersteller und macht geltend, dass die Fabrikanten jahrzehntelang von der Gefährlichkeit der „ewigen Chemikalien“ wussten, ohne etwas dagegen zu unternehmen. Kaliforniens Generalstaatsanwalt Rob Bonta rechnet damit, dass die Klage Hunderte von Millionen Dollar an Strafen und Kosten für die Unternehmen nach sich ziehen.

Darum machten jetzt auch große Investoren den Herstellern Druck: Wie die in Göteborg ansässige internationale Umweltschutzorganisation ChemSec (International Chemical Secretariat) Ende November 2022 berichtete, warnten 47 Asset-Manager, die insgesamt ein Vermögen von 8 Billionen Dollar verwalten, nun ebenfalls vor den Gefahren von PFAS. Aus Sorge vor den finanziellen Risiken, die mit Rechtsstreitigkeiten verbunden sind, forderten sie die Chemieunternehmen auf, eine Strategie zum Phase-Out von PFAS zu entwickeln. Zu den Unterzeichnern zählten unter anderem Axa, Aviva und Credit Suisse Asset Management, schreibt Chemsec.

Ob die PFAS-Konzentration im Blutserium Einfluss auf die Mundgesundheit, konkret die Amelogenese und Kariesprävalenz von Kindern und Jugendlichen hat, ist offen. Bislang existieren nur wenige publizierte Studien, die keine oder nur eine schwache Evidenz für diese Hypothese sehen. Nach Einschätzung des BfR sind gegenwärtig auch Studiendaten nicht ausreichend aussagekräftig, um die Frage zu beantworten, ob verschiedene bei Kindern beobachtete gesundheitliche Auswirkungen Jugendliche und Erwachsene übertragbar sind. In einer 75-seitigen Stellungnahme zur Toxizität von PFAS aus dem Jahr 2021 zu der Schlussfolgerung, dass die Exposition einiger Bevölkerungsgruppen die tolerierbare wöchentliche Aufnahmemenge von PFAS überschreitet – was mit mittelschweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen verbunden sein kann. Weiter schreibt die Bundesbehörde, es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Aufnahme der Stoffgruppe „weiter zu minimieren“. Denn „Verbraucherinnen und Verbraucher können ihre Exposition gegenüber PFAS kaum beeinflussen.“ mg

 

Literatur

Puttige Ramesh N, Arora M, Braun JMCross-sectional study of the association between serum perfluorinated alkyl acid concentrations and dental caries among US adolescents (NHANES 1999–2012)BMJ Open 2019;9:e024189. doi: 10.1136/bmjopen-2018-024189

Anne E. Sanders, Gary D. Slade,Blood Lead Levels and Dental Caries in U.S. Children Who Do Not Drink Tap Water,American Journal of Preventive Medicine,Volume 54, Issue 2,2018,Pages 157-163,ISSN 0749-3797,https://doi.org/10.1016/j.amepre.2017.09.004.

Wiener RC, Waters C. Perfluoroalkyls/polyfluoroalkyl substances and dental caries experience in children, ages 3-11 years, National Health and Nutrition Examination Survey, 2013-2014. J Public Health Dent. 2019 Dec;79(4):307-319. doi: 10.1111/jphd.12329. Epub 2019 Jul 8. PMID: 31286520; PMCID: PMC7397553.

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