Großbritannien

Die Fallzahlen von moderner Sklaverei im Pflegebereich explodieren

Arbeitsmissbrauch und Ausbeutung im Pflegebereich sind keineswegs neu. Daten der britischen Wohltätigkeitsorganisation Unseen zeigen nun jedoch, dass das Problem in Großbritannien eskaliert – obwohl das Land zuletzt weltweit als Spitzenreiter bei den Gegenmaßnahmen galt.

Unseen bietet Betroffenen von verbrecherischer Arbeitsausbeutung, Menschenhandel und moderner Sklaverei seit 2016 eine Notrufhotline sowie sichere Zufluchtsorte und Unterstützung in der Gemeinschaft. Dazu arbeitet die 2007 gegründete Organisation mit Einzelpersonen, Gemeinden, Unternehmen, Regierungen, anderen Wohltätigkeitsorganisationen und Behörden zusammen. Erklärtes Ziel: „working towards a world without slavery" (für eine Welt zu kämpfen, in der die Sklaverei endgültig ausgerottet ist).

Allen Bemühungen zum Trotz verschlechtert sich die Situation zumindest im Vereinigten Königreich offenbar zusehends. So lag die Zahl der von der Notrufhotline ermittelten potenziellen Opfer von krimineller Arbeitsausbeutung im Pflegebereich allein 2021 bei 106 – und stieg 2022 auf 708.

Willkürliche Gebühren führen zu einer Art Schuldknechtschaft

Den Unterschied zwischen Arbeitsmissbrauch und Arbeitsausbeutung (auch Zwangsarbeit genannt) beschreibt die Wohltätigkeitsorganisation so: Es beginnt in der Regel mit schlechten Arbeitspraktiken, das heißt, dass etwa Gelegenheitsarbeitern „Verwaltungsgebühren“ für die Arbeit in Rechnung gestellt werden. Die Grenze zum Arbeitsmissbrauch wird beispielsweise überschritten, wenn zusätzlich unangemessene Kosten für Wohnraum erhoben werden. Und Ausbeutung oder Zwangsarbeit liegt nach der Definition von Unseen vor, wenn eine Person gezwungen wird, große Schulden gegenüber einer „Agentur“ oder einer Einzelperson zu begleichen, die ihr einen Job gegeben hat, und das Gefühl hat, keine Wahl zu haben – eine Praxis, die auch als Schuldknechtschaft bekannt ist und den Straftatbestand der modernen Sklaverei erfüllt.

Opfer von Arbeitsmissbrauch und Zwangsarbeit können jeden Hintergrund und jede Nationalität haben, betont die Organisation in ihrem Bericht. Was jedoch aus den neuesten Zahlen der Hotline für den Pflegesektor hervorsticht, seien die Zahlen für Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten – vor allem Personen aus Indien, Simbabwe und Nigeria seien betroffen.

Deutschland, Norwegen und die Schweiz haben die niedrigste Prävalenz

Die in Australien gegründete internationale Menschenrechtsorganisation „Walk Free“ setzt sich seit 2011 gegen moderne Sklaverei ein und gibt seit 2013 den „Global Slavery Index“ heraus. Darin wird mit einer Rangliste von 160 Ländern erfasst, wie hoch der geschätzte Prozentsatz der jeweiligen Bevölkerung ist, der in moderner Sklaverei lebt. Laut der 2023er-Ausgabe des Berichts leben weltweit aktuell geschätzt 50 Millionen Menschen in moderner Sklaverei, anteilsmäßig die meisten davon in Nordkorea, Eritrea und Mauretanien (die wenigsten in Norwegen, Deutschland und der Schweiz). Das Vereinigte Königreich, Australien und die Niederlande sind in dem Bericht als jene Staaten genannt, die politisch bisher die strengsten politischen Gegenmaßnahmen ergriffen haben.

Bevölkerungen in Europa und in Zentralasien sind aktuell am wenigsten von moderner Sklaverei bedroht, heißt es weiter. In diesen beiden Regionen ist die Prävalenz in der Türkei, Tadschikistan und Russland an größten. Großbritannien belegt Platz 37 von 47. Walk free beobachtet aber auch die aktuelle Vulnerabilität der Bevölkerungen dieser Regionen, perspektivisch Opfer von moderner Sklaverei zu werden. Dazu wertet die Organiation 23 Risikovariablen aus den fünf Dimensionen Rechtsprechung, Mangel an Grundbedürfnissen, Ungleichheiten, Entrechtete Gruppen und Auswirkungen von Konflikten aus. In puncto Vulnerabilität belegen Deutschland Platz 37 von 47 und Großbritannien Platz 32 von 47.

Über den Konsum vor allem von Elektroartikeln, Stoffen und Kleidung, Palmöl und Solarpanelen leisten die Bevölkerungen der besonders wohlhabenden Länder der modernen Sklaverei jedoch ordentlich Vorschub, mahnt Walk Free. Allein im Jahr 2022 bestehe für in die G20-Länder importierte Waren im Wert von umgerechnet 435 Milliarden Euro der Verdacht, dass sie mithilfe moderner Sklaverei produziert wurden. Auf Deutschland entfielen dabei Waren im Wert von 40 Milliarden Euro.

Als typisches Beispiel für Arbeitsmissbrauch im Pflegebereich beschreibt Unseen das Schicksal von Chloe (Name geändert): Die junge Frau kontaktierte die Organisation und berichtete, dass sie einer Agentur Vermittlungsgebühren in Höhe von mehr als 8.000 britischen Pfund (mehr als 9.300 Euro) zahlen musste. Darüber hinaus wurden von ihrem Arbeitgeber ohne weitere Erklärungen jeden Monat Abzüge von ihrem Lohn vorgenommen. Chloe musste nach eigener Darstellung regelmäßig 12- bis 14-Stunden-Schichten mit wenigen oder ohne Pausen arbeiten. Wenn sie sich darüber beschwerte, wurde sie beschimpft und ihr gedroht, sie werde in ihr Herkunftsland zurückgeschickt.

„Manche Arbeitgeber verschließen die Augen“

Chloes Darstellung sei exemplarisch für die Art von Fällen, die sich an die Hotline wenden, erklärt Unseen-Direktorin Justine Carter. „Es gibt überall Probleme, von skrupellosen Arbeitsvermittlungen bis hin zu Arbeitgebern, die entweder nicht wissen, was vor Ort passiert, oder die Augen verschließen.“ Der Fachkräftemangel in der Pflege wirke da wie ein Brandbeschleuniger. Nachdem die britische Regierung es ausländischen Sozialpflegekräften erleichtert hatte, im Vereinigten Königreich zu arbeiten, wurden bis März 2023 rund 102.000 Visa für Facharbeiter in Gesundheit- und Pflegeberufen an ausländische Arbeitnehmer ausgestellt.

„Doch während die internationale Rekrutierung als Lösung angepriesen wurde, brachte sie auch eigene Probleme mit sich“, schreibt Unseen. Es sei jetzt ganz klar, dass für Arbeitnehmer, die mit solchen Visa in das Vereinigte Königreich reisen, erhebliche Risiken bestehen, dass sie skrupellosen Arbeitgebern und Personalvermittlungsagenturen ausgesetzt sind. Diese Risiken reichen von einem unterdurchschnittlichen Gehalt über Lebenshaltungskosten, die höher sind als erwartet, bis zu exorbitanten „Gebühren“ des Personalvermittlers für eine Reihe von Dienstleistungen wie Schulungen, Transport und Vermittlung der Unterkunft. Meist haben die Opfer zudem wenig Kenntnis von Arbeitnehmerrechten und häufig Sprachbarrieren, die das Problem zusätzlich verschärfen.

Die Regierung verspricht, Maßnahmen zu ergreifen

Umgekehrt sei für Arbeitgeber auch die Rekrutierung ausländischer Kräfte mit zahlreichen Hindernissen behaftet, weiß Carter. Die Identifizierung seriöser Arbeitsagenturen sei schwierig, die Verwaltungsprozesse komplex und eine seelsorgerische Betreuung neuer Rekruten oft nicht leistbar. Eine bereits überlastete Belegschaft erhöhe zudem das Risiko, dass Warnzeichen der Ausbeutung leichter übersehen werden. „Natürlich gibt es im Pflegebereich viele anständige Arbeitgeber, die in gutem Glauben Menschen im Rahmen des Visumprogramms von Arbeitsagenturen aufnehmen“, sagt Carter. „Sie wissen nicht, dass die Person möglicherweise eine exorbitante Anzahlung an die Agentur gezahlt hat und immer noch mit ihrer Unterkunft und anderen ‚Gebühren‘ betrogen wird.“

Immerhin: Anfang 2023 kündigte die britische Regierung Maßnahmen an, um Arbeitgeber bei der internationalen Rekrutierung in der Erwachsenenpflege bis 2024 zu unterstützen und ethische Beschäftigungspraktiken zu fördern. Für Carter ist das ein wichtiger erster Schritt. „Die Aufsichtsbehörde für Arbeitsagenturen spielt eine Schlüsselrolle“, da sie sicherstellen kann, dass Personalvermittlungsagenturen legal arbeiten und Arbeitnehmer nicht ausgebeutet werden.

Der Pflegebereich steht hier stellvertretend für viele andere Branchen, die ebenfalls von dem traurigen Trend zur modernen Sklaverei betroffen sind. Insgesamt gingen 2022 bei Unseen rund 9.779 Anfragen von Menschen aus 99 verschiedenen Nationalitäten über die Hotline, die Website und die App ein. Nach Angaben von Unseen zeigten 6,516 davon alle Merkmale moderner Sklaverei.

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