Gewalt gegen Gesundheitsfachkräfte in Großbritannien

Bieten Bodycams Schutz vor Übergriffen?

Heftarchiv Gesellschaft
mg
Weltweit sind bis zu 38 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen in ihrem Berufsleben mindestens einmal körperlicher Gewalt ausgesetzt, hinzu kommen Drohungen oder verbale Aggressionen. Wie können sich die Betroffenen wehren? Großbritannien setzt auf Bodycams: 2021 wurden Sanitäter testweise damit ausgestattet, jetzt ist das Personal der Notaufnahmen an der Reihe.

In Europa nehme die Gewalt gegen Beschäftigte im Gesundheitswesen mit „alarmierender Geschwindigkeit“ zu, warnte im März die Europäische Ärztevereinigung (Comité Permanent des Médecins Européens, CPME). „Wir müssen die Folgen von Gewalt gegen Beschäftigte im Gesundheitswesen erkennen: Letztlich leiden darunter nicht nur die Arbeitskräfte, sondern auch die Patientenversorgung ist beeinträchtigt“, betonte CPME-Präsident Christiaan Keijzer, nachdem verschiedene Untersuchungen von einer Zunahme der Übergriffe berichtet hatten.

Die Übergriffe treten der CPME zufolge in vielen Formen auf. Im schlimmsten Fall tragen die Betroffenen physische und psychische Verletzungen davon. Fehlzeiten, Vertrauensverlust, Kündigung des Arbeitsplatzes, posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) und andere schwerwiegende psychische Erkrankungen sind die konkreten Folgen.

In Großbritannien befasst man sich seit knapp fünf Jahren mit dem Problem. Mit einer konsequenteren Strafverfolgung und einer Verdopplung des Strafmaßes versucht das Land die Gewalt gegen das Gesundheitspersonal zu stoppen. Der Nationale Gesundheitsdienst NHS plante in dem Zusammenhang ein Pilotprojekt für den Einsatz von am Körper getragenen Kameras durch Sanitäter, um gefährliche Situationen zu entschärfen. 8,4 Millionen Pfund wurden für die Beschaffung der Bodycams und für die Auswertung des dreijährigen Einsatzes bereitgestellt.

Fast die Hälfte der Sanitäter wurde schon mal angegriffen

Außer den Sanitätern in Londoner Notaufnahmen sollen nun auch die Kollegen in Coventry, Derby, London, Oxford, Norfolk, Norwich und Warwickshire mit Bodycams ausgestattet werden. Parallel dazu gibt es Deeskalationsschulungen für NHS-Mitarbeitende und landesweite Kommunikationskampagnen, die mehr Respekt für das Gesundheitspersonal einfordern.

Wie sehr dies nötig ist, zeigen die Ergebnisse einer NHS-Mitarbeiterbefragung aus 2022. Danach berichten

  • 14,7 Prozent (45,8 Prozent) der Sanitäter, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal körperliche Gewalt durch Patienten, deren Verwandte oder andere Mitglieder der Öffentlichkeit erlebt zu haben und

  • 27,8 Prozent davon, in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einen Vorfall von Belästigung, Mobbing oder Missbrauch durch Patienten, deren Verwandte oder andere Mitglieder der Öffentlichkeit erfahren zu haben.


„Die überwiegende Mehrheit der Patienten zeigt nichts als Respekt und Dankbarkeit, aber die inakzeptablen Handlungen einer kleinen Minderheit haben massive Auswirkungen auf das Berufs- und Privatleben unserer Kollegen“, kommentierte NHS-Geschäftsführerin Amanda Pritchard die Umfrage.

Wie die Erfahrungen mit Bodycams der Einrichtungen effektiv zusammengeführt werden sollen, ist noch offen, denn die Gliederung des Systems in regionale Organisationseinheiten (sogenannte Trusts) macht aus dem NHS einen Flickenteppich. Ähnliche schwierig sei darum die Datenbündelung zu gewaltsamen Vorfällen, berichtet der Guardian. Seit der Auflösung der zentralen Behörde NHS Protect im Jahr 2016 gebe es keine landesweite Datenerfassung mehr zu Vorfällen von Gewalt und Missbrauch gegenüber NHS-Beschäftigten. Verantwortliche des Gesundheitssystems sagten gegenüber der Zeitung, man wolle nun neue Strukturen schaffen, um Art und Ausmaß sowie die Auswirkungen von Gewalt am Arbeitsplatz auf NHS-Mitarbeitende in allen Gesundheitseinrichtungen „besser zu verstehen“.

Inzwischen wurde die unabhängige Thinktank RAND Corporation mit der Evaluation des seit 2021 laufenden Tests beauftragt. Laut RAND wurden bereits Umfragen, Gespräche in Fokusgruppen und Interviews mit Rettungskräften, Gewerkschaftsvertretern und Bürgern durchgeführt. Der Abschlussbericht der Untersuchung ist für Sommer 2024 angekündigt.

USA: Mit Bodycams gegen Rassismus

Auch in den USA erlebt das Gesundheitspersonal regelmäßig Gewalt im Berufsalltag. Aufgrund der dortigen Waffengesetze enden Konflikte mit Patienten im schlimmsten Fall sogar tödlich. So sorgte im Sommer 2022 ein Vorfall im US-Bundesstaat Oklahoma für Schlagzeilen, bei dem ein Mann in einem Krankenhaus vier Menschen und anschließend sich selbst erschoss. Ziel des Schützen soll sein Arzt gewesen sein, den er nach einer Operation für seine anhaltenden Rückenschmerzen verantwortlich gemacht habe.

Rassismus führt in den USA auch dazu, dass schwarze Menschen eine schlechtere Versorgung bekommen. Mit Blick auf die Erfahrungen mit Bodycams zur Reduzierung von Polizeigewalt schlug die Assistenzärztin für Erwachsenen- und Kinderpsychiatrie Amanda Joy Calhoun daher vor, dass die Behandlungen des medizinischen Personals im Bewegtbild dokumentiert werden. Ihre Argumentation: „Wenn Angehörige der Gesundheitsberufe kein rassistisches Verhalten an den Tag legen, sollte es kein Problem geben.“

In ihrem Berufsalltag habe sie unzählige rassistische Verhaltensweisen gegenüber schwarzen Patientinnen und Patienten erlebt, oft verbunden mit grausamen Äußerungen. „Ich stand in der Notaufnahme, als ein schwarzer Teenager an einer Schusswunde starb, während das weiße Personal kicherte und sagte, er sei ,nur ein weiterer Krimineller'“. Ihre Diagnose: Trotz der Antirassismus-Versprechen zahlreicher medizinischer Organisationen litten schwarze Amerikaner immer noch unter medizinischer Gewalt, die durch Verzögerungen bei der Versorgung, Unterbehandlung von Schmerzen und Fehldiagnosen zuweilen tödlich sei, berichtet Calhoun. Erst 2020 lenkte der Tod der schwarzen Ärztin Dr. Susan Moore viel Aufmerksamkeit auf das Problem. Die Medizinerin musste COVID-bedingt hospitalisiert werden und dokumentierte ihre unzureichende Behandlung per Video auf Facebook. Weniger als zwölf Stunden, nachdem die Ärzte sie gedrängt hatten, das Krankenhaus zu verlassen, wurde sie erneut eingeliefert und verstarb.

Calhoun fragt: „Was wäre, wenn ihr Klinikteam Körperkameras getragen hätte? Die breite Öffentlichkeit hätte das Verhalten ihrer Ärzte und Krankenschwestern mit eigenen Augen miterleben können.“

Anders als die Frage zum Effekt von Körperkameras ist struktureller Rassismus im Gesundheitswesen der USA seit mehr als 20 Jahren bestens erforscht. Ein häufig gezogenes Fazit: Trotz aller Bemühungen fehlt es an wirksamen Strategien zur Reduzierung von Rassismus sowohl auf individueller als auch auf institutioneller Ebene.

Der Forschungsbedarf ist groß: Erst im Sommer 2022 kam eine australische Metastudie nach der Sichtung von rund 150 infrage kommenden Studien zu dem Schluss, dass keine von ihnen belastbare Aussagen zum Effekt von Bodycams auf die Häufigkeit von gewaltsamen Übergriffen im medizinischen Bereich liefert.

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